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Lesen was ich will!

www.lesen-was-ich-will.de

Für meine Mutter und meinen Vater, weil sie mir gezeigt
haben, was bedingungslose Liebe ist.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Diana Bürgel

ISBN 978-3-492-96578-1
Juli 2017
© Stephanie Garber 2017
Published by Arrangement with Stephanie Garber
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem
Titel »Caraval« bei Flatiron Books, New York.
Deutschsprachige Ausgabe:
© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: Zero Media unter Verwendung eines
Entwurfs von Ray Shappell
Covermotiv: Erin Fitzsimmons und moggara12, pixelparticle,
wanchai/shutterstock
Karte: Rhys Davies
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Es dauerte sieben Jahre, bis sie den richtigen Brief schrieb.

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Scarletts Gefühle strahlten sogar noch bunter als sonst. Das drängende Rot glühender Kohlen. Das eifrige Grün frisch keimenden Grases. Das ungestüme Gelb der Federn eines flatternden Vogels.

Er hatte endlich zurückgeschrieben.

Sie las den Brief ein weiteres Mal. Dann noch einmal. Und noch einmal. Ihre Augen folgten jedem der scharfen Tintenstriche, jeder wächsernen Windung des Silberwappens von Caraval: eine Sonne mit einem Stern darin, in dem wiederum eine Träne zu sehen war. Dasselbe Siegel war als Wasserzeichen auf den beiliegenden Papierstücken abgebildet.

Dies hier war kein Scherz.

»Donatella!« Scarlett eilte auf der Suche nach ihrer jüngeren Schwester die Stufen zum Fasslager hinab. Die vertrauten Gerüche nach Melasse und Eichenholz stiegen ihr in die Nase, doch ihre verflixte Schwester war nirgends zu sehen.

»Tella – wo bist du?« Öllampen tauchten die Rumflaschen und mehrere frisch gefüllte Holzfässer in bernsteinfarbenes Licht. Als sie sich zwischen den Fässern hindurchschlängelte, hörte Scarlett ein Stöhnen, gefolgt von schwerem Atmen. Vielleicht hatte Tella nach dem jüngsten Streit mit ihrem Vater ein bisschen zu viel getrunken und schlief irgendwo auf dem Boden. »Dona…«

Der Rest des Wortes blieb ihr im Hals stecken.

»Hallo, Scar.«

Tella schenkte Scarlett ein träges Lächeln, weiße Zähne blitzten zwischen geschwollenen Lippen hervor. Ihre honigblonden Locken waren zerzaust und ihr Schultertuch war zu Boden gefallen. Was Scarlett jedoch die Sprache verschlug, war der Anblick des jungen Seemanns, der die Arme um Tellas Taille geschlungen hatte. »Habe ich euch etwa unterbrochen?«

»Wir können jederzeit weitermachen.« Der Seemann sprach mit dem singenden Tonfall des Südreiches, es klang viel weicher als der scharfe Zungenschlag des Meridianreiches, an den Scarlett gewöhnt war.

Tella kicherte, hatte aber wenigstens den Anstand, ganz leicht zu erröten. »Scar, du kennst doch Julian, oder?«

»Schön, dich zu sehen, Scarlett.« Julian lächelte, kühl und verführerisch wie ein schattiger Ort an einem heißen Tag.

Scarlett wusste, dass sie höflicherweise irgendetwas wie »Freut mich auch« sagen sollte, aber sie konnte nur an seine Hände denken, die weiterhin Tellas immergrünblaue Röcke umfassten und mit den Stofffalten ihrer Turnüre spielten, als wäre Tella ein Geschenk, das er nur allzu gerne auspacken wollte.

Julian war erst seit etwa einem Monat auf Trisda. Als er von seinem Schiff geschlendert war, groß und gut aussehend mit seiner goldbraunen Haut, hatte er die Aufmerksamkeit aller Frauen erregt. Sogar Scarlett hatte sich kurz nach ihm umgedreht, aber sie war nicht so dumm gewesen, länger hinzusehen.

»Tella, es macht dir doch nichts aus, mal kurz mitzukommen?« Es gelang ihr, Julian höflich zuzunicken, aber sobald sie und ihre Schwester genug Fässer zwischen sich und ihn gebracht hatten und außer Hörweite waren, zischte sie: »Was machst du denn da?«

»Scar, du heiratest bald. Da sollte man wohl annehmen, dass du weißt, was Männer und Frauen miteinander machen.« Spielerisch knuffte Tella ihre Schwester gegen die Schulter.

»Das meine ich nicht. Du weißt, was passiert, wenn Vater dich erwischt.«

»Und deshalb habe ich auch nicht vor, mich erwischen zu lassen.«

»Bitte mach keine Witze.«

»Mache ich nicht. Wenn Vater uns erwischt, finde ich schon eine Möglichkeit, dir die Schuld in die Schuhe zu schieben.« Tella lächelte hart. »Aber du wolltest doch bestimmt über etwas anderes reden.« Ihr Blick senkte sich auf den Brief in Scarletts Händen.

Der trübe Schein der Laternen fing sich in den metallisch verzierten Rändern des Papiers und ließ sie golden schimmern, in der Farbe der Magie und der Wünsche und Verheißungen. Die Adresse auf dem Umschlag leuchtete im gleichen Glanz auf.

Miss Scarlett Dragna

Wohnhaft im Beichtstuhl der Priester

Trisda

Eroberte Inseln des Meridianreiches

Tellas Blick wurde scharf, als sie die leuchtende Schrift sah. Scarletts Schwester mochte schöne Dinge. Wie den jungen Mann, der noch immer hinter den Fässern auf sie wartete. Oft, wenn Scarlett irgendein hübsches Stück vermisste, fand sie es versteckt im Zimmer ihrer jüngeren Schwester.

Aber Tella griff nicht nach dem Brief. Sie ließ ihre Hände, wo sie waren, als wollte sie damit nichts zu tun haben. »Noch ein Brief vom Grafen.« Sie spuckte den Titel aus, als verbärge sich dahinter der Teufel.

Scarlett überlegte, ob sie ihren Verlobten verteidigen sollte, aber ihre Schwester hatte ihr bereits sehr deutlich zu verstehen gegeben, was sie von ihrer Verlobung hielt. Es machte keinen Unterschied, dass arrangierte Ehen im Meridianreich sehr in Mode waren oder dass der Graf seit Monaten treu die freundlichsten Briefe an Scarlett schrieb. Tella weigerte sich zu verstehen, wie Scarlett einen Mann heiraten konnte, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Doch einen völlig Unbekannten zu heiraten, machte Scarlett weit weniger Angst als die Vorstellung, auf Trisda bleiben zu müssen.

»Und?«, drängte Tella. »Verrätst du mir jetzt, was es ist?«

»Der Brief ist nicht vom Grafen.« Scarlett sprach leise, damit Tellas Seemannsfreund sie nicht hörte. »Er kommt vom Master von Caraval.«

»Er hat dir zurückgeschrieben?« Tella schnappte sich den Brief. »Bei Gottes Zähnen!«

»Schhh!« Scarlett drängte ihre Schwester gegen die Fässer. »Jemand könnte dich hören.«

»Darf ich das jetzt etwa nicht feiern?« Tella zog die drei Papierstücke hervor, die der Einladung beilagen. Das Lampenlicht fiel auf die Wasserzeichen. Einen Augenblick lang leuchteten sie golden auf wie die Ränder des Umschlags, dann wurde ein gefährlich blutiges Scharlachrot daraus.

»Siehst du das?« Tella schnappte nach Luft, als silberne Buchstaben auf der Seite erschienen, sich träge wanden und schließlich Wörter formten: Eine Zugelassene: Donatella Dragna von den Eroberten Inseln.

Auf dem zweiten Papierstück erschien Scarletts Name.

Auf dem dritten stand nur Ein Zugelassener. Wie bei den anderen Einladungen war darunter der Name einer Insel zu lesen, von der sie noch nie gehört hatte: Isla de los Sueños.

Scarlett nahm an, dass die namenlose Einladung für ihren Verlobten bestimmt war, und einen Moment lang stellte sie sich vor, wie romantisch es wäre, Caraval mit ihm zusammen zu erleben, sobald sie erst einmal verheiratet wären.

»Oh, schau mal, da steht ja noch mehr.« Tella kiekste, als weitere Wörter auf den Karten erschienen.

Zur einmaligen Verwendung, um Zutritt zu Caraval zu erhalten.

Die Haupttore schließen um Mitternacht, am dreizehnten Tag der Wachstumsjahreszeit, im siebenundfünfzigsten Jahr der Elantinischen Dynastie. Wer zu einem späteren Zeitpunkt eintrifft, wird nicht am Spiel teilnehmen und den diesjährigen Preis in Form eines Wunsches nicht gewinnen können.

»Das ist ja schon in drei Tagen«, sagte Scarlett und die strahlenden Farben, die sie gerade noch empfunden hatte, verwandelten sich in die üblichen Grautöne der Enttäuschung. Sie hätte es besser wissen müssen, als auch nur für einen Augenblick zu glauben, dass dies hier tatsächlich wahr werden könnte. Vielleicht, wenn Caraval in drei Monaten stattfinden würde oder auch in drei Wochen – irgendwann nach ihrer Hochzeit. Scarletts Vater hatte um das genaue Datum ihrer Vermählung ein großes Geheimnis gemacht, aber sie wusste, dass es jedenfalls noch nicht in den kommenden drei Tagen so weit sein würde. Und die Insel davor zu verlassen, war unmöglich – und viel zu gefährlich.

»Aber schau doch mal, was es dieses Jahr für einen Preis gibt«, beharrte Tella. »Einen Wunsch.«

»Ich dachte, du glaubst nicht an Wünsche.«

»Und ich dachte, du würdest dich mehr über das hier freuen«, konterte Tella. »Du weißt schon, dass andere Leute töten würden, um die hier in die Finger zu bekommen?«

»Hast du auch den Teil gelesen, in dem steht, dass wir die Insel verlassen müssen?« Ganz gleich, wie sehr sich Scarlett wünschte, bei Caraval dabei zu sein – ihre Hochzeit war noch wichtiger. »Um in drei Tagen dort zu sein, müssten wir wahrscheinlich schon morgen abreisen.«

»Warum, glaubst du, bin ich so aufgeregt?« Das Glänzen in Tellas Augen wurde immer heller. Wenn sie glücklich war, begann die ganze Welt zu schimmern und Scarlett wollte mit ihrer Schwester gemeinsam strahlen und zu allem Ja sagen, was sich Tella wünschte. Aber Scarlett wusste allzu gut, wie tückisch es war, seine Hoffnungen auf etwas so Trügerisches wie einen Wunsch zu setzen.

Scarlett verlieh ihrer Stimme Schärfe. Sie verabscheute sich selbst dafür, dass sie die Freude ihrer Schwester zerstören musste, aber besser sie als jemand, der noch weit Schlimmeres tun würde. »Hast du dich hier unten am Rum zu schaffen gemacht? Oder hast du vergessen, was Vater getan hat, als wir das letzte Mal versucht haben, Trisda zu verlassen?«

Tella zuckte zurück. Einen Augenblick lang blitzte ihre Verletzlichkeit auf, die sie so hart zu verbergen versuchte. Dann verwandelte sich ihre Miene jedoch ebenso schnell wieder. Ihre rosa Lippen formten ein Lächeln und sie wirkte nicht mehr verstört, sondern vielmehr unzerstörbar. »Das war vor zwei Jahren. Jetzt sind wir schlauer.«

»Wir haben aber auch mehr zu verlieren«, widersprach Scarlett.

Für Tella war es leichter, das beiseitezuwischen, was das letzte Mal geschehen war, als sie versucht hatten, Caraval zu besuchen. Scarlett hatte ihrer Schwester nie alles erzählt, was ihr Vater damals getan hatte, um sie zu bestrafen. Sie hatte nicht gewollt, dass Tella mit so viel Angst leben musste; dass sie sich permanent umsah; dass sie erfuhr, dass es Schlimmeres gab als die üblichen Strafen eines Vaters.

»Erzähl mir nicht, dass du nur Angst hast, das hier könnte deiner Hochzeit in die Quere kommen.« Tella verstärkte den Griff um die Karten.

»Hör auf.« Scarlett zog sie ihrer Schwester aus der Hand. »Du zerknickst sie noch.«

»Und du hast meine Frage nicht beantwortet, Scarlett. Geht es hier um deine Hochzeit?«

»Natürlich nicht. Es geht darum, dass wir morgen nun mal nicht von dieser Insel herunterkommen können. Wir wissen ja nicht einmal, wo dieser Ort ist. Ich habe noch nie von der Isla de los Sueños gehört, aber ich weiß, dass sie nicht zu den Eroberten Inseln gehört.«

»Ich weiß, wo sie liegt.« Julian trat hinter den Rumfässern neben den Schwestern hervor und lächelte sie strahlend an, was wohl bedeuten sollte, dass er sich nicht dafür entschuldigen würde, ihre private Unterhaltung belauscht zu haben.

»Das hier geht dich nichts an.« Scarlett scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort.

Julian sah sie so merkwürdig an, als hätte ihn noch nie zuvor ein Mädchen weggeschickt. »Ich will euch doch nur helfen. Ihr habt noch nie von dieser Insel gehört, weil sie nicht Teil des Meridianreichs ist. Sie wird von keinem der fünf Reiche regiert. Die Isla de los Sueños ist Legends Privatinsel, und sie liegt nur etwa eine Zweitagesreise von hier entfernt. Wenn ihr dorthin möchtet, kann ich euch auf mein Schiff schmuggeln, für einen gewissen Preis.« Julians Blick ruhte auf der dritten Karte. Seine hellbraunen Augen wurden von dichten Wimpern umkränzt; dieser Blick war wie geschaffen dafür, Mädchen dazu zu bringen, ihre Röcke zu raffen und ihm die Arme zu öffnen.

Tellas Bemerkung, manche Menschen würden für diese Karten töten, hallte in Scarletts Gedanken wider. Julian mochte ein einnehmendes Gesicht haben, doch er hatte auch einen Südreichakzent und jeder wusste, was für ein gesetzloser Ort das Südreich war.

»Nein«, antwortete Scarlett. »Es ist zu gefährlich, wenn man uns fasst.«

»Alles, was wir tun, ist gefährlich«, kommentierte Tella. »Wir stecken auch ganz schön in Schwierigkeiten, wenn wir hier unten mit einem Jungen erwischt werden.«

Julian wirkte beleidigt, weil sie ihn einen Jungen genannt hatte, aber bevor er etwas sagen konnte, fuhr Tella schon fort: »Nichts, was wir tun, ist ungefährlich. Aber es ist das Risiko wert. Du hast dein ganzes Leben auf das hier gewartet, du hast es dir bei jeder Sternschnuppe gewünscht, bei jedem neuen Schiff im Hafen darum gebetet, dass es das magische Schiff der geheimnisvollen Caraval-Darsteller ist. Du willst es doch sogar noch mehr als ich.«

Was auch immer ihr über Caraval gehört habt, es kommt der Wirklichkeit nicht einmal nahe. Es ist mehr als nur ein Spiel oder eine Vorstellung. Es ist das, was der Magie in dieser Welt am nächsten kommt. Die Worte ihrer Großmutter tanzten in Scarletts Kopf, während sie die Karten in ihrer Hand betrachtete. Die Geschichten über Caraval, die sie als kleines Mädchen so geliebt hatte, waren ihr noch nie realer erschienen als in diesem Augenblick. Mit Scarletts stärksten Gefühlen waren immer Farben verbunden und für einen Moment flammte goldrutengelbe Sehnsucht in ihr auf. Ganz kurz malte sie sich aus, wie es wohl wäre, zu Legends Privatinsel zu reisen, das Spiel zu spielen und den Wunsch zu gewinnen. Freiheit. Eigene Entscheidungen. Wunder. Magie.

Eine schöne, lächerliche Vorstellung.

Und es war am besten, wenn es so blieb. Wünsche waren auch nicht wirklicher als Einhörner. Als kleines Mädchen hatte Scarlett die Geschichten ihrer Großmutter über die Magie von Caraval geglaubt, doch sie war erwachsen geworden und hatte diese Märchen hinter sich gelassen. Sie hatte nie einen Beweis gesehen, dass es Magie tatsächlich gab. Und nun kam es ihr sehr viel wahrscheinlicher vor, dass die Geschichten ihrer Großmutter nichts weiter waren als die Übertreibungen einer alten Frau.

Ein Teil von ihr wollte die Pracht von Caraval immer noch erleben, aber sie wusste es besser. Magie würde ihr Leben nicht ändern. Der einzige Mensch, der ihr und ihrer Schwester ein neues Leben schenken konnte, war Scarletts Verlobter, der Graf.

Jetzt, da sie nicht mehr dem Licht der Lampen ausgesetzt waren, verschwand die Schrift auf den Karten wieder und sie sahen beinahe ganz gewöhnlich aus. »Tella, es geht nicht. Es ist zu gefährlich. Wenn wir versuchen, die Insel zu verlassen …« Scarlett verstummte, als ein Knarren von der Treppe zum Fasslager erklang. Es folgten schwere Stiefelschritte. Von mindestens drei Männern.

Scarlett warf ihrer Schwester einen panischen Blick zu.

Tella fluchte und gab Julian mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich verstecken sollte.

»Oh, verschwinde nicht meinetwegen.« Governor Dragna hatte den Fuß der Treppe erreicht, der scharfe Geruch seines schwer parfümierten Anzugs verdarb den würzigen Duft des Fassraums.

Rasch schob Scarlett die Karten in die Tasche ihres Kleides.

Drei Wachen folgten ihrem Vater auf dem Fuß.

»Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet.« Ohne seine Tochter zu beachten, reichte Governor Dragna Julian die Hand. Er trug seine pflaumenvioletten Handschuhe. Sie hatten die Farbe von dunklen Blutergüssen, die Farbe der Macht.

Aber wenigstens trug er die Handschuhe noch. Governor Dragna mochte es, ein Bild der Zivilisiertheit zu bieten. Er kleidete sich gerne tadellos in einen maßgeschneiderten schwarzen Gehrock und eine gestreifte violette Weste. Er war Mitte vierzig, aber er war nicht fett geworden wie andere Männer. Der neuesten Mode entsprechend trug er sein blondes Haar mit einer schwarzen Schleife zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden, seine Augenbrauen waren in Form gezupft und er trug einen dunkelblonden Spitzbart.

Julian war größer, doch der Governor brachte es trotzdem fertig, auf ihn hinabzublicken. Scarlett sah, wie ihr Vater die geflickte braune Jacke des Seemanns musterte, seine lockere Hose, die in abgewetzten kniehohen Stiefeln steckte.

Es sagte viel über Julians Selbstbewusstsein aus, dass er dem Governor ohne Zögern die eigene, bloße Hand entgegenstreckte. »Schön, Euch kennenzulernen, Sir. Julian Marrero.«

»Governor Marcello Dragna.« Die Männer schüttelten einander die Hände. Julian wollte den Griff lösen, aber der Governor hielt ihn fest. »Julian, du kommst wohl nicht von dieser Insel?«

Dieses Mal zögerte Julian doch. »Nein, Sir. Ich bin Seemann. Erster Maat der El Beso Dorado

»Dann bist du also nur auf der Durchreise.« Der Governor lächelte. »Wir mögen Seeleute hier. Sie tun der Wirtschaft gut. Sie zahlen gut, um hier anlegen zu dürfen, und während ihres Besuchs geben sie noch mehr Geld aus. Und jetzt sag mir, was hältst du von meinem Rum?« Mit der freien Hand machte er eine Geste, die den ganzen Raum einschloss. »Ich nehme an, das war es, was du hier unten gekostet hast?«

Als Julian nicht sofort antwortete, drückte der Governor fester zu. »Hat er dir nicht zugesagt?«

»Nein, Sir«, antwortete Julian. »Ich meine, doch, Sir«, korrigierte er sich hastig. »Alles, was ich gekostet habe, war sehr gut.«

»Gilt das auch für meine Töchter?«

Scarlett erstarrte.

»Ich rieche an deinem Atem, dass du keinen Rum getrunken hast«, fuhr Governor Dragna fort. »Und ich weiß, dass du nicht hier unten bist, um Karten zu spielen oder Gebete zu sprechen. Also sag mir, welche meiner Töchter hast du gekostet?«

»Oh, nein, Sir. Das habt Ihr falsch verstanden.« Julian schüttelte den Kopf und hatte die Augen aufgerissen, als könnte er etwas so Unehrenhaftes niemals tun.

»Es war Scarlett«, platzte Tella heraus. »Ich bin hier heruntergekommen und habe die beiden zusammen erwischt.«

Nein. Scarlett verfluchte ihre törichte Schwester. »Vater, sie lügt. Tella war es, nicht ich. Und ich habe sie erwischt.«

Tella wurde rot. »Scarlett, lüg nicht. Du machst es nur schlimmer.«

»Ich lüge nicht! Vater, es war Tella. Glaubst du wirklich, ich würde so etwas tun, ein paar Wochen vor meiner Hochzeit?«

»Vater, hör nicht auf sie«, fiel ihr Tella ins Wort. »Ich habe sie flüstern hören, dass sie hofft, es könnte ihr helfen, weil sie wegen der Hochzeit so nervös ist.«

»Das ist schon wieder gelogen …«

»Das reicht!« Der Governor sah Julian an, dessen gebräunte Hand noch immer fest im Griff des parfümierten pflaumenvioletten Handschuhs steckte. »Meine Töchter haben die schlechte Angewohnheit, unaufrichtig zu sein, aber ich bin sicher, du wirst dich entgegenkommender verhalten. Und jetzt sag mir, junger Mann, mit welcher meiner Töchter warst du hier unten?«

»Ich glaube, hier liegt ein Fehler vor …«

»Ich mache keine Fehler«, unterbrach ihn der Governor. »Ich gebe dir noch eine Chance, mir die Wahrheit zu sagen, sonst …« Die Wachen traten einen Schritt vor.

Julians Blick huschte zu Tella.

Sie schüttelte ruckartig den Kopf und formte mit den Lippen das Wort: Scarlett.

Scarlett versuchte, Julian auf sich aufmerksam zu machen, ihm zu verstehen zu geben, dass er einen Fehler machte, aber sie sah die Entschlossenheit im Gesicht des Seemanns, als er antwortete: »Es war Scarlett.«

Dummer Junge. Er glaubte zweifellos, dass er Tella einen Gefallen tat, doch genau das Gegenteil war der Fall.

Der Governor ließ Julian los und streifte sich die Handschuhe ab. »Ich habe dich gewarnt«, sagte er zu Scarlett. »Du weißt, was passiert, wenn du dich mir widersetzt.«

»Vater, bitte, es war nur ein ganz kurzer Kuss.« Scarlett versuchte, sich vor Tella zu stellen, aber eine der Wachen zog sie zurück, packte ihre Ellbogen und drückte ihr grob die Arme auf den Rücken, während sie darum kämpfte, ihre Schwester zu beschützen. Denn es war nicht Scarlett, die für dieses Vergehen bestraft werden würde. Jedes Mal, wenn Scarlett oder ihre Schwester ihrem Vater nicht gehorchten, tat der Governor der jeweils anderen etwas Schlimmes an, um die Übeltäterin zu bestrafen.

An der rechten Hand trug der Governor zwei große Ringe, einen rechteckigen Amethyst und einen spitzen lila Diamanten. Er drehte sie beide nach innen, hob dann die Hand und schlug Tella ins Gesicht.

»Nicht! Es ist meine Schuld!«, schrie Scarlett – ein Fehler. Sie hätte es besser wissen müssen.

Ihr Vater schlug Tella noch einmal. »Für die Lüge«, sagte er. Der zweite Schlag war noch härter als der erste. Tellas Knie knickten ein und etwas Rotes rann ihre Wange hinab.

Zufrieden trat der Governor zurück. Er wischte sich die blutige Hand an der Weste einer seiner Wachleute ab. Dann wandte er sich Scarlett zu. Irgendwie kam es ihr vor, als wäre er plötzlich größer, während sie selbst geschrumpft war. Es gab nichts, womit ihr Vater ihr mehr wehtun konnte, als wenn er ihre Schwester vor ihren Augen schlug. »Enttäusche mich nicht noch einmal.«

»Es tut mir leid, Vater. Ich habe einen dummen Fehler gemacht.« Sie hatte noch nichts an diesem Morgen so ehrlich gemeint. Sie mochte vielleicht nicht diejenige sein, die Julian gekostet hatte, aber sie hatte es wieder einmal nicht geschafft, ihre Schwester zu beschützen. »Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Ich hoffe, du meinst es ernst.« Damit streifte sich der Governor die Handschuhe wieder über und zog einen gefalteten Umschlag aus der Tasche seines Gehrocks. »Ich sollte dir das hier wohl nicht geben, aber vielleicht erinnert es dich ja an alles, was du verlieren könntest. Deine Hochzeit findet in zehn Tagen statt, Ende der kommenden Woche, am Zwanzigsten. Sollte irgendetwas dazwischenkommen, wird mehr bluten als nur das Gesicht deiner Schwester.«

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Scarlett konnte noch immer das Parfüm ihres Vaters wahrnehmen. Es roch nach der Farbe seiner Handschuhe: Anis und Lavendel und etwas, das an verfaulte Pflaumen erinnerte. Noch lange, nachdem er fort war, hing dieses Aroma in der Luft um Tella, während Scarlett neben ihr saß und darauf wartete, dass eines der Dienstmädchen saubere Bandagen und Arzneien brachte.

»Du hättest mich ihm die Wahrheit sagen lassen sollen«, begann Scarlett. »Mich hätte er nicht so schlimm geschlagen, um dich zu bestrafen. Nicht wenn meine Hochzeit in zehn Tagen stattfindet.«

»Vielleicht nicht ins Gesicht, aber er hätte etwas genauso Brutales getan – dir einen Finger gebrochen, damit du deinen Hochzeitsquilt nicht fertignähen kannst.« Tella schloss die Augen und lehnte sich gegen eines der Rumfässer. Ihre Wange hatte mittlerweile fast denselben Farbton angenommen wie diese verdammten Handschuhe. »Und ich bin es nun mal, die diese Schläge verdient hat, nicht du.«

»Das hier hat niemand verdient«, sagte Julian. Es war das erste Mal, dass er sprach, seit ihr Vater gegangen war. »Ich habe …«

»Nicht«, unterbrach ihn Scarlett. »Deine Entschuldigungen lassen ihre Wunden auch nicht heilen.«

»Ich wollte mich nicht entschuldigen.« Julian hielt inne, als wöge er seine nächsten Worte sorgsam ab. »Ich möchte mein Angebot erneuern. Ich bringe euch umsonst von der Insel, wenn ihr gehen wollt. Mein Schiff läuft morgen früh im Morgengrauen aus. Kommt zu mir, wenn ihr eure Meinung ändert.« Er sah erst Scarlett, dann Tella an und verschwand schließlich auf der Treppe nach oben.

»Nein«, erklärte Scarlett, die spürte, was Tella sagen wollte, bevor sie die Worte ausgesprochen hatte. »Wenn wir gehen, wird nach unserer Rückkehr alles nur noch schlimmer.«

»Ich habe nicht vor, zurückzukehren.« Tella öffnete die Augen. Sie glänzten, doch ihr Blick war entschlossen.

Scarlett hatte sich schon oft über die impulsive Art ihrer Schwester geärgert, aber sie wusste auch, dass es kein Zurück mehr gab, wenn sich Tella erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Und sie begriff, dass Tella sich bereits entschieden hatte, bevor der Brief von Caraval-Master Legend eingetroffen war. Deswegen hatte sie sich mit Julian eingelassen. Die Art, wie sie ihn ignoriert hatte, als er gegangen war, verriet Scarlett eindeutig, dass er ihr im Grunde egal war. Tella wollte nur einen Seemann, der sie von Trisda wegbrachte. Und nun hatte Scarlett ihr den Grund geliefert, den sie noch gebraucht hatte.

»Scar, du solltest auch mitkommen«, sagte Tella. »Ich weiß, du glaubst, dass diese Hochzeit dich retten wird, aber was, wenn dieser Graf genauso schlimm ist wie Vater? Oder noch schlimmer?«

»Das ist er nicht«, erklärte Scarlett entschieden. »Und das wüsstest du auch, wenn du jemals einen seiner Briefe gelesen hättest. Er ist ein vollkommener Gentleman und er hat versprochen, sich um uns beide zu kümmern.«

»Ach, Schwester.« Tella lächelte, aber es war kein fröhliches Lächeln. Es war das Lächeln eines Menschen, der gleich etwas sagen musste, was er lieber nicht aussprechen würde. »Wenn er so ein Gentleman ist, warum tut er dann so geheimnisvoll? Warum hat er dir zwar seinen Titel, aber nie seinen Namen verraten?«

»Das ist nicht seine Schuld. Seine Identität geheim zu halten, ist nur eine weitere von Vaters Arten, uns zu kontrollieren.« Das bewies der Brief in Scarletts Hand. »Lies doch selbst.« Sie reichte ihrer Schwester die Nachricht.

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Der Rest der Seite fehlte. Womit ihr Vater nicht nur die Worte ihres Verlobten abgeschnitten, sondern freundlicherweise auch jede Spur des Wachssiegels beseitigt hatte, das Scarlett einen Hinweis darauf hätte geben können, wen sie heiraten würde.

Ein weiteres seiner kranken Spielchen.

Manchmal kam es Scarlett so vor, als befände sich Trisda unter einer Kuppel, einer großen Glasglocke, die alle in ihrem Inneren gefangen hielt, während ihr Vater auf sie herabsah und die Menschen, die sich nicht am richtigen Platz befanden, umherrückte – oder entfernte. Ihre Welt war ein großes Spielbrett und ihr Vater glaubte, dass diese Hochzeit sein vorletzter Schachzug sein würde, durch den er alles, was er wollte, in Reichweite rücken konnte.

Dank seines Rumhandels und anderer Unternehmungen auf dem Schwarzmarkt war Governor Dragna vermögender als die meisten anderen der Amtsleute auf der Insel. Doch weil Trisda zu den Eroberten Inseln gehörte, blieben ihm der Respekt und die Macht, die er begehrte, versagt. Ganz gleich, wie viele Reichtümer er anhäufte, die Regenten und Edelleute des restlichen Meridianreiches ignorierten ihn einfach.

Es spielte keine Rolle, dass Trisda und die vier anderen Eroberten Inseln seit über sechzig Jahren zum Meridianreich gehörten – man betrachtete die Inselbewohner noch immer als die pöbelhaften, ungebildeten Bauern, die sie gewesen waren, als das Reich sie unterworfen hatte. Doch laut Scarletts Vater würde diese Verbindung das alles ändern und sie mit einer Adelsfamilie vereinen, die ihre eigene Blutlinie endlich respektabel erscheinen lassen würde – und natürlich würde seine Macht dadurch ebenfalls gemehrt.

»Das beweist gar nichts«, sagte Tella.

»Es zeigt, dass er freundlich und rücksichtsvoll ist und …«

»In einem Brief kann jeder wie ein Gentleman klingen. Aber du weißt genau, dass nur ein böser Mensch sich auf einen Handel mit unserem Vater einlassen würde.«

»Hör auf, so etwas zu sagen.« Scarlett entriss ihr den Brief. Ihre Schwester irrte sich. Selbst die Handschrift des Grafen deutete darauf hin, wie zuvorkommend er war: weiche ordentliche Schnörkel und weiche Linien. Wenn er gefühllos und gleichgültig wäre, dann hätte er ihr nicht so viele Briefe geschrieben, um ihr die Angst zu nehmen. Und er hätte auch nicht versprochen, Tella mit nach Valenda zu nehmen, in die Hauptstadt des Elantinischen Reiches – an einen Ort, an dem ihr Vater sie nicht erreichen konnte.

Ein Teil von Scarlett wusste, dass es durchaus möglich war, dass der Graf nicht die Erfüllung ihrer Wünsche darstellte, aber das Leben an seiner Seite musste einfach besser sein als das mit ihrem Vater. Und sie konnte es nicht riskieren, ihren Vater zu hintergehen; nicht solange seine brutale Warnung noch in ihren Gedanken widerhallte. »Sollte irgendetwas dazwischenkommen, wird mehr bluten als nur das Gesicht deiner Schwester.«

Scarlett würde diese Hochzeit nicht aufs Spiel setzen, nur für die vage Hoffnung, bei Caraval vielleicht einen Wunsch zu gewinnen.

»Tella, wenn wir versuchen, alleine zu fliehen, wird Vater uns bis an den Rand der Welt jagen.«

»Dann kommen wir wenigstens einmal bis an den Rand der Welt«, gab Tella zurück. »Ich würde lieber dort sterben, als hier zu leben oder im Haus deines Grafen gefangen zu sein.«

»Das meinst du nicht ernst«, gab Scarlett scharf zurück. Sie hasste es, wenn Tella solche Dinge sagte. Scarlett hatte oft Angst, ihre Schwester könnte einen Todeswunsch hegen. Die Worte Ich würde lieber sterben kamen Tella viel zu oft über die Lippen. Außerdem schien sie einfach nicht zu sehen, wie gefährlich die Welt sein konnte. Ihre Großmutter hatte ihnen nicht nur Geschichten über Caraval erzählt, sondern auch darüber, was mit jungen Frauen geschah, die nicht von ihrer Familie beschützt wurden. Mädchen, die versuchten, sich auf eigene Faust durchzuschlagen, die glaubten, sie könnten eine respektable Arbeit finden, um dann an Bordelle oder Arbeitshäuser verkauft zu werden, in denen erbärmliche Zustände herrschten.

»Du machst dir zu viele Sorgen.« Tella kam wackelig auf die Beine.

»Was hast du vor?«

»Ich will nicht mehr auf das Dienstmädchen warten. Ich habe keine Lust darauf, dass sich jemand eine Stunde lang an meinem Gesicht zu schaffen macht und mich dann für den Rest des Tages ins Bett schickt.« Tella hob ihr heruntergefallenes Schultertuch auf und band es sich wie einen Schleier um den Kopf, um den verfärbten Teil ihres Gesichts zu verbergen. »Wenn ich morgen auf Julians Schiff verschwinden will, muss ich mich noch um einiges kümmern. Ihm zum Beispiel eine Nachricht schicken, dass ich ihn im Morgengrauen treffe.«

»Warte! Du weißt nicht, was du da tust.« Scarlett eilte ihrer Schwester hinterher, aber Tella war schon die Treppe hinaufgerannt und durch die Tür, bevor Scarlett sie erwischte.

Draußen war die Luft so dick wie Suppe, und im offenen Innenhof roch es nach Nachmittag: feucht, salzig und streng. Irgendjemand musste vor Kurzem eine Ladung Fisch in die Küche geliefert haben. Der durchdringende Geruch schien überall zu sein, während Scarlett ihrer Schwester nachjagte, durch verwitterte weiße Bogengänge und lehmverputzte Hallen.

Scarletts Vater hatte nie das Gefühl, dass sein Anwesen groß genug wäre. Es lag am Stadtrand und umfasste mehr Land als die meisten anderen Güter, sodass ihr Vater immer weiter bauen konnte. Weitere Gästezimmer. Weitere Innenhöfe. Weitere verborgene Gänge, durch die man illegalen Alkohol schmuggeln konnte, und wer wusste, was sonst noch. Scarlett und ihre Schwester durften viele der neueren Hallen nicht betreten. Und wenn ihr Vater sie erwischen würde, wie sie so durch die Gänge rannten, würde er ihnen die Füße peitschen lassen. Aber verletzte Fersen oder Zehen waren nichts im Vergleich zu dem, was er tun würde, wenn er von Tellas Fluchtplänen erfuhr.

Der Morgennebel hatte sich noch nicht ganz verzogen. Scarlett verlor Tella in den nebelverhangenen Gängen mehrmals aus den Augen. Kurz glaubte sie, ihre Schwester wäre ihr endgültig entkommen, doch dann sah sie ein blaues Kleid aufblitzen, auf der Treppe zum höchsten Punkt des Anwesens der Dragna: dem Beichtstuhl. Ein riesiger Turm aus weißem Stein, der in der Sonne leuchtete, damit alle ihn sahen. Governor Dragna gefiel es, wenn die Leute ihn für einen gottesfürchtigen Mann hielten, obwohl er seine schmutzigen Machenschaften in Wahrheit niemandem anvertrauen würde. Weshalb der Beichtstuhl einer der wenigen Orte auf der Insel war, an die er sich praktisch nie begab – perfekt, um geheime Botschaften hinauszuschmuggeln.

Als sie den Kopf der Treppe erreicht hatte, lief Scarlett noch schneller und holte ihre Schwester im halbmondförmigen Hof vor den Holztüren, die zum Beichtstuhl führten, endlich ein.

»Bleib stehen«, rief Scarlett. »Wenn du diesem Seemann schreibst, dann erzähle ich Vater alles!«

Die Gestalt vor ihr blieb abrupt stehen. Doch als sich der Nebel hob und sich das Mädchen umdrehte, war es Scarlett, die erstarrte. Grelles Sonnenlicht fiel nun in den winzigen Hof und zeigte ihr eine junge in Blau gekleidete Novizin. Da auch ihr Kopf von einem Schleier bedeckt war, hatte sie genau wie Tella ausgesehen.

Ihre gerissene Schwester war gut im Verschwinden, das musste sie ihr lassen. Schweiß rann Scarlett den Nacken hinab. Sie malte sich aus, wie Tella irgendwo Vorräte auf dem Anwesen stibitzte und sich darauf vorbereitete, am folgenden Tag mit Julian durchzubrennen.

Scarlett musste sich etwas anderes einfallen lassen, um sie aufzuhalten.

Tella würde sie eine Weile hassen, aber Scarlett konnte nicht zulassen, dass ihre Schwester wegen Caraval alles verlor. Nicht wenn Scarletts Hochzeit sie beide retten konnte – oder vernichten, wenn sie nicht zustande kam.

Scarlett folgte der jungen Novizin in den Beichtstuhl. Er war klein und rund und es war immer so still darin, dass sie die Kerzen flackern hören konnte. Dick und wachstriefend säumten sie die Steinwände, beleuchteten die Wandteppiche, auf denen Heilige in diversen Stadien der Qual zu sehen waren. Es roch abgestanden nach Staub und getrockneten Blumen. Scarlett kitzelte es in der Nase, während sie an einer Reihe hölzerner Kirchenbänke vorüberging. Am anderen Ende lagen Papiere auf einem Altar bereit, auf die man seine Sünden schreiben konnte.

Vor dem Verschwinden ihrer Mutter vor sieben Jahren war Scarlett nie im Inneren des Beichtstuhls gewesen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass die Menschen ihre Fehltritte beichteten, indem sie ihre Vergehen aufschrieben und die Zettel dann an die Priester weiterreichten, die sie verbrannten. Wie auch ihr Vater war Scarletts Mutter Paloma nicht religiös gewesen. Aber nachdem sie von Trisda verschwunden war, hatten Scarlett und Tella in ihrer Verzweiflung nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollten, und so waren sie hierhergekommen, um für die Rückkehr ihrer Mutter zu beten.

Natürlich war ihr Flehen nie erhört worden, aber wie sich herausstellte, waren die Priester trotzdem nicht völlig nutzlos. Die Mädchen hatten herausgefunden, dass sie sehr diskret waren, wenn es darum ging, geheime Nachrichten zu überbringen.

Scarlett nahm eines der Sündenpapiere und schrieb sorgfältig ihre Botschaft.

Caraval_Briefe.pdf

Bevor sie den Brief mitsamt einer großzügigen Spende an einen der Priester weiterreichte, adressierte sie ihn, aber sie unterschrieb ihn nicht. Anstelle eines Namens malte sie ein Herz. Sie hoffte, das würde reichen.

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Als Scarlett acht Jahre alt war, hatten die Wachen ihres Vaters sie vor dem glitzernden schwarzen Sand des Strandes von Del Ojos gewarnt, um sie von dort fernzuhalten. »Er ist so schwarz, weil er aus den Überresten verbrannter Piratenknochen besteht«, sagten sie. Und weil sie nun mal erst acht und noch etwas weniger lebensklug gewesen war als jetzt, hatte sie ihnen geglaubt.

Mindestens ein Jahr lang hatte sie sich nicht einmal nahe genug an den Strand herangetraut, um den Sand auch nur sehen zu können.

Schließlich hatte Felipe, der Sohn eines der freundlicheren Wachleute ihres Vaters, ihr die Wahrheit enthüllt: Der Sand war einfach Sand und hatte nichts mit Piratenknochen zu tun. Doch Scarlett hatte die Lüge bereits tief verinnerlicht, wie es Kinder mit Lügen häufig tun. Es spielte keine Rolle, wie viele Leute ihr die Wahrheit bestätigten, für Scarlett würde der schwarze Sand von Del Ojos immer aus verbrannten Piratenknochen bestehen.

Während sie da in der Nacht stand und der gefleckte Mond sein unheimliches Licht über den unnatürlichen Sand warf, dachte sie an die Lüge zurück, fühlte, wie sie in ihre Schuhe kroch und sich zwischen ihren Zehen wand. Sie näherte sich der felsigen schwarzen Bucht von Del Ojos. Rechts von ihr endete der Strand an einer gezackten schwarzen Klippe. Links ragte ein zerstörter Kai wie eine riesige Zunge ins Wasser, schob sich an Felsen vorbei, die Scarlett an unregelmäßige Zähne denken ließen. Es war eine dieser Nächte, in denen sie den Mond riechen konnte. Dickes Kerzenwachs, umtanzt vom salzigen Aroma des Meeres.

Sie dachte an die geheimnisvollen Karten in ihrer Tasche, der schwelende Mond erinnerte sie an die metallische Schrift, die heute darauf geleuchtet hatte. Einen Augenblick lang war sie versucht, ihren Entschluss zu ändern, ihrer Schwester und dem winzigen Teil in ihr, der noch immer träumen konnte, nachzugeben.

Aber das hatte sie schon einmal getan.

Felipe hatte für sie und Tella eine Überfahrt auf einem Schoner gebucht.

Sie hatten es gerade mal bis zur Schiffsplanke geschafft und schon das hatte sie so viel gekostet. Einer der Wachmänner war besonders grob zu Tella gewesen und hatte sie bewusstlos geschlagen, bevor er sie zum Anwesen zurückbrachte. Doch Scarlett war bei klarem Verstand geblieben, als man sie von den Docks wegschleifte. Sie hatte am Rand des felsigen Strandes stehen müssen, wo das Wasser der leuchtenden Gezeitenbecken in ihre Stiefel drang, und sie hatte zusehen müssen, wie ihr Vater Felipe mit ins Meer nahm.

Sie hätte diejenige sein sollen, die in jener Nacht ertrank. Sie hätte diejenige sein sollen, deren Kopf ihr Vater unter Wasser drückte und so lange festhielt, bis sie aufhörte, um sich zu schlagen. Bis ihr Körper so still und leblos wurde wie der Seetang, den die Wellen an den Strand spülten. Später hielten die Leute Felipes Ertrinken für einen Unfall. Nur Scarlett kannte die Wahrheit.

»Wenn du so etwas noch einmal tust, dann wird deine Schwester dieses Schicksal teilen«, hatte ihr Vater sie gewarnt.

Scarlett hatte nie jemandem davon erzählt. Seither bewachte sie ihre Schwester und ließ sie in dem Glauben, sie wäre nur übervorsichtig. Scarlett war die Einzige, die wusste, dass sie niemals von Trisda entkommen konnten, es sei denn, ihr Ehemann brachte sie fort.

Die Wellen schlugen an den Strand und dämpften das Geräusch der herannahenden Schritte, aber Scarlett hörte sie trotzdem.

»Du bist nicht die Schwester, die ich erwartet habe.« Julian kam näher. In der Dunkelheit sah er eher aus wie ein Pirat, nicht wie ein einfacher Seemann, und er bewegte sich mit der einstudierten Gleichgültigkeit eines Menschen, dem Scarlett nur zögerlich ihr Vertrauen schenken würde. Die Nacht färbte seine lange Jacke tintenschwarz und die Schatten ließen seine Wangenknochen messerscharf hervortreten.

Plötzlich wurde Scarlett bewusst, wie unklug ein solches Treffen so spät in der Nacht an einem abgelegenen Strand mit diesem Jungen war. Vor genau dieser Art von unüberlegtem, gefährlichem Verhalten warnte sie ihre Schwester beständig.

»Ich nehme an, du hast deine Meinung über mein Angebot geändert?«, fragte er.

»Nein, aber ich möchte dir ein Gegenangebot machen.« Scarlett versuchte, verwegen zu klingen. Sie zog die eleganten Karten von Caraval-Master Legend aus der Tasche. Ihre Finger wollten den Griff darum nicht lockern, aber sie musste es tun, für Tella. Als Scarlett früher an diesem Abend in ihr eigenes Zimmer zurückgekehrt war, hatte sie es durchwühlt vorgefunden. Es war ein solches Chaos gewesen, dass sie nicht hatte sagen können, wonach genau Tella wohl gesucht hatte, aber offensichtlich hatte sich ihre Schwester alles zusammengeklaut, was sie für ihre Reise brauchte.

Ruckartig streckte Scarlett die Hand aus und hielt Julian die Karten hin. »Du kannst alle drei haben. Benutze sie oder verkaufe sie, was auch immer, solange du morgen früh von hier verschwindest. Ohne Donatella.«

»Aha, Bestechung also.«

Scarlett gefiel dieses Wort nicht. Es erinnerte sie zu sehr an ihren Vater. Doch wenn es um Tella ging, würde sie tun, was eben nötig war, auch wenn dies bedeutete, dass sie das Letzte aufgeben musste, wovon sie noch träumte. »Meine Schwester ist sehr impulsiv. Sie will mit dir gehen, aber sie hat keine Ahnung, wie gefährlich das ist. Wenn unser Vater sie erwischt, wird er etwas sehr viel Schlimmeres tun als das, was er heute getan hat.«

»Und wenn sie hierbleibt, ist sie sicher?« Julian sprach leise, doch ein Anflug von Spott lag in seiner Stimme.

»Wenn ich heirate, nehme ich sie mit.«

»Will sie denn mit dir gehen?«

»Später wird sie mir dafür dankbar sein.«

Julian lächelte wölfisch und seine weißen Zähne schimmerten im Mondlicht. »Weißt du was, genau dasselbe hat auch schon deine Schwester zu mir gesagt.«

Scarletts Alarmglocken läuteten zu spät. Wieder hörte sie Schritte und wandte sich um. Hinter ihr stand Tella, ihre kleine Gestalt war in einen dunklen Umhang gehüllt, der sie fast wie einen Teil der Nacht erscheinen ließ. »Es tut mir leid, dass ich das tun muss, aber du selbst hast mir beigebracht, dass es nichts Wichtigeres gibt, als sich um seine Schwester zu kümmern.«

Plötzlich drückte Julian ihr ein Stück Stoff aufs Gesicht. Verzweifelt versuchte sie, sich zu wehren. Sie trat Sandwolken in die Luft, aber womit auch immer der Stoff getränkt war, es war ein sehr wirkungsvolles Mittel und es entfaltete seinen Zauber rasch. Die Welt drehte sich um Scarlett, bis sie nicht mehr wusste, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren.

Sie fiel,

tiefer,

tiefer.

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Bevor Scarlett das Bewusstsein ganz verlor, spürte sie eine zarte Berührung auf der Wange. »Es ist besser so, Schwester. Im Leben geht es um mehr als nur um Sicherheit …«

Diese Worte führten Scarlett in eine Welt, die ausschließlich im zerbrechlichen Land der Klarträume existierte.

Ein Raum, der nur aus Fenstern zu bestehen schien, tauchte vor ihr auf und sie hörte die Stimme ihrer Großmutter. Ein pockennarbiger Mond lugte durch das Glas herein und tauchte die Gestalten im Raum in unscharfes blaues Licht.

Eine jüngere Scarlett und eine kleine Tella, die lediglich aus winzigen Händen und unschuldigen Träumen gemacht zu sein schienen, lagen aneinandergekuschelt im Bett und ihre Großmutter deckte sie zu. Obwohl sie nach dem Verschwinden der Mutter der Mädchen mehr Zeit mit ihnen verbracht hatte, konnte sich Scarlett doch an keinen anderen Abend erinnern, an dem ihre Großmutter sie ins Bett gebracht hatte. Normalerweise war dies Aufgabe der Dienstboten.

»Erzählst du uns eine Geschichte über Caraval?«, fragte die kleine Scarlett.

»Ich will eine von Master Legend hören«, trällerte Tella. »Erzählst du uns die Geschichte, wie er seinen Namen bekommen hat?«

Ihre Großmutter ließ sich gegenüber dem Bett auf einem gepolsterten Stuhl nieder, als wäre es ein Thron. Spiralen aus schwarzen Perlen wanden sich um ihren schlanken Hals und bedeckten ihre Arme von den Handgelenken bis zu den Ellbogen wie aufwendige Handschuhe. Ihr gestärktes lavendelfarbenes Kleid war faltenlos, was die Runzeln in ihrem einstmals schönen Gesicht noch betonte.

»Legend entstammt der Linie der Santos, einer Künstlerfamilie«, begann sie. »Sie waren Bühnendichter und Schauspieler, die allesamt an einem bedauernswerten Mangel an Talent litten. Der einzige Grund, aus dem sie überhaupt Erfolg hatten, war ihre engelsgleiche Schönheit. Und einer der Söhne – Legend – war den Gerüchten nach der Schönste von allen.«

»Aber ich dachte, Legend war nicht sein echter Name«, sagte Scarlett.

»Seinen wahren Namen kann ich euch nicht verraten«, erwiderte ihre Großmutter. »Aber eines kann ich euch sagen: Wie alle großartigen – und furchtbaren – Geschichten begann auch die seine mit der Liebe. Mit seiner Liebe zu der vornehmen Annalise mit dem Goldhaar und den Zuckerworten. Sie verzauberte ihn, wie er es vor ihr mit so vielen Mädchen getan hatte: mit Komplimenten und Küssen und Versprechen, die er besser nicht hätte glauben sollen. Legend war damals noch nicht reich. Er lebte hauptsächlich von Charme und gestohlenen Herzen und Annalise behauptete, das wäre ihr genug. Doch sie sagte auch, ihr Vater, ein wohlhabender Kaufmann, würde niemals zulassen, dass sie einen armen Schlucker heiratete.«

»Und haben sie dann geheiratet?«, fragte Tella.

»Wenn du zuhörst, wirst du es schon herausfinden.« Ihre Großmutter schnalzte missbilligend mit der Zunge.

Hinter ihr schob sich eine Wolke vor den Mond, nur zwei winzige Lichtpunkte drangen noch hindurch, schwebten hinter ihrem Silberhaar wie Teufelshörner.

»Legend hatte einen Plan«, fuhr sie fort. »Elantine sollte bald zur Kaiserin des Meridianreiches gekrönt werden und Legend glaubte, wenn er bei ihrer Krönung auftreten dürfte, würde ihm das genug Ruhm und Reichtum einbringen, um Annalise heiraten zu können. Doch Legend wurde in Schimpf und Schande davongeschickt wegen seines fehlenden Talents.«

»Ich hätte ihn hereingelassen«, fiel Tella ihr ins Wort.

»Ich auch«, pflichtete ihr Scarlett bei.

Ihre Großmutter runzelte die Stirn. »Wenn ihr nicht aufhört, mich zu unterbrechen, dann erzähle ich euch die Geschichte nicht zu Ende.«

Scarlett und Tella spitzten die Lippen, sodass ihre Münder wie kleine rosa Herzen aussahen.

»Damals verfügte Legend noch nicht über Magie«, fuhr ihre Großmutter fort. »Aber er glaubte an die Geschichten, die sein Vater ihm erzählt hatte. Er hatte gehört, dass jedem Menschen ein unmöglicher Wunsch gestattet wird – nur einer –, wenn man etwas hat, das man mehr will als alles andere auf der Welt. Dann kommt einem manchmal ein wenig Magie zu Hilfe. Also machte sich Legend auf die Suche nach einer zauberkundigen Frau.«

»Sie meint eine Hexe«, flüsterte Scarlett.

Großmutter hielt inne und die winzige Tella und die kleine Scarlett machten große Augen, als sich die gläsernen Fensterfronten des Zimmers in die Holzwände einer dreieckigen Hütte verwandelten. Vor ihren Augen erwachte Großmutters Geschichte zum Leben. Gelbe Wachskerzen hingen verkehrt herum von der Decke und gossen ihren Rauch hinab.

Im Zentrum all dessen saßen eine Frau mit zornrotem Haar und ein Junge, der nur aus schlanken Linien zu bestehen schien. Sein Gesicht wurde von einem Zylinder beschattet. Legend. Obwohl Scarlett seine Züge nicht deutlich sehen konnte, erkannte sie doch seinen symbolischen Hut.

Schurke