Für Caterina

Ich glaube, dass die Grundschullehrer sehr viel mehr bewirken können als Polizei und Justiz.

Gesualdo Bufalino

Er erschien plötzlich im Gefängnishof und überquerte ihn, als sei es eine Straße von San Cono. Er ging mit seinem schweren Schritt, stampf‌te mit den Füßen, als zerträte er Weintrauben. In der Hand hielt er immer noch seine alte, abgewetzte Ledertasche. Als ich ihn dort unten sah, blieb mir der Rauch meiner Zigarette im Hals stecken, zusammen mit den Worten, die ich ihm hätte zurufen wollen: »Herr Lehrer! Erinnern Sie sich noch an mich? Ich bin Ninetto Pelleossa!«, worauf ich ihm ein nikotingelbes Lächeln geschenkt hätte. Stattdessen habe ich keinen Laut von mir gegeben, und er ist eilig hinter einem Gittertor verschwunden, das ein Wärter ihm geöffnet hat. Mit offenem Mund betrachtete ich den menschenleeren Platz, unsicher, ob es Traum oder Wirklichkeit gewesen war. Ich blieb am schmalen Fensterspalt stehen, bis die Dunkelheit alles verschluckt hatte. Erst dann legte ich mich auf die verrottete Matratze, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und so, mit geschlossenen Augen, begann ich.

1

Bevor sie mich pelleossa nannten, Hautundknochen, nannten sie mich Schreihals, die Kinder aus der Grundschule an der Via dei Ginepri. Ich erinnere mich an alle vierunddreißig, aber Peppinos Gesicht habe ich noch am deutlichsten im Kopf, mit seinen wie elektrisiert zu Berge stehenden Haaren. Gemeinsam machten wir uns einen Spaß daraus, Ettore Ragusa, dem Sohn des Metzgers, das Pausenbrot mit Mortadella zu klauen. Wenn er es merkte, schrie er noch lauter als ich und heulte wie ein Schlosshund. Dann gingen Peppino und ich mit noch fettigem Mund zu ihm hin und taten so, als würden wir es bedauern, »aber nicht doch, Toruccio … man weint doch nicht wegen so einer Kleinigkeit!«, »ist ein Brötchen gegessen, macht man ein neues, komm schon!«, solche tröstlichen Sätze sagten wir zu ihm. Ab und zu bekam ich Gewissensbisse und fragte Peppino, ob wir nicht ein wenig übertrieben.

»Von wegen! Dieser Kerl ist doch breiter als hoch und kriegt daheim jeden Tag Pasta, so viel er will. Was gibt es bei dir?«

»Sardellen«, antwortete ich.

Bis ich neun war, habe ich von Sardellen gelebt. Oder vielmehr, von einer Sardelle pro Tag. Die fischte mir meine Mama morgens aus einem Glas, an dem ranziges Salz klebte. Sie strich sie glatt auf eine Scheibe »Kastenbrot«, wie sie es nannte, und meinte dann, bis zum Abend solle ich mich nicht mehr in der Küche blicken lassen.

»Raus hier, marsch«, wiederholte sie im Ton eines Generals.

Nach ein paar Stunden spitzte ich die Ohren, weil mein Bauch seltsame Geräusche von sich gab. Gluckern, Grummeln, Knurren, was auch immer.

Wenn mir daher jemand mit den gleichen Kalorien im Leib wie ich vorschlug, etwas zu klauen, war ich sofort dabei. Am einfachsten war es, Obst aus den hölzernen Steigen zu stibitzen, die die alten Frauen auf der Schwelle stehen hatten. Peppino lenkte die Alte ab, und ich stopfte Pfirsiche unters Hemd oder in die Unterhose. Komplizierter war der Trick mit den Wohnungen der Leute, die nicht mehr ganz richtig im Kopf waren. Da ich ein aufgewecktes Bürschchen war, stand ich gewöhnlich Schmiere, und Peppino oder Ciccillo oder Berto oder ein anderer Hungerleider schlüpf‌ten hinter mir hinein, um aufs Geratewohl in allen Schubladen zu wühlen. Manchmal war die Beute gar nicht übel, aber meistens kratzten wir nur armseliges Zeug zusammen. Brotkanten, Torroncini, gelegentlich ein Ei zum Ausschlürfen. Am schwierigsten aber war es, in Turuzzus Lebensmittelgeschäft zuzuschlagen, zum einen, weil der Laden stank und man am liebsten sowieso keinen Fuß reingesetzt hätte, und zum anderen, weil Turuzzo sehr fix war, und wenn er einen erwischte, setzte es Fußtritte. Um sich bei ihm hineinzutrauen, musste man so kaltblütig sein wie eine Eidechse, sonst machte man besser einen Bogen.

Mit der Zeit habe ich begriffen, dass sich in San Cono viele von der gleichen Kost ernährten wie ich, und das hat mich getröstet. Alle haben wir uns früher oder später damit abgefunden. Eine Sardelle? Sei’s drum, eine Sardelle! Als kleiner Knirps lässt man sich doch von so was nicht entmutigen. Gewiss, solange ich zur Schule ging, fiel es mir leicht. Ich saß den ganzen Morgen in der Bank, hörte dem Lehrer Vincenzo zu, und das war’s, mehr hatte ich nicht zu tun. Als meine Mutter jedoch in der Nacht vom 10. Oktober 1959 einen Schlaganfall erlitt und für immer behindert war, da sah die Sache anders aus, weil ich von der Schule abgehen und mit meinem Vater als Tagelöhner auf dem Feld arbeiten musste.

Zwar habe ich ihm das nie gesagt, aber der Mensch, den ich nach Peppino am liebsten hatte, war mein Lehrer Vincenzo. An ihm hing ich mehr als an meinem Vater Rosario. Nicht nur, weil er nie langweilig war und keine Schläge austeilte, wenn ich mit zerrissener Jacke oder aufgeschlagenen Knien daherkam, sondern wegen der Gedichte, die er uns vorlas. Zum Beispiel die von Giovanni Pascoli. Er fand nicht, dass man sie gleich verstehen musste. Erst mal ging es um die Musik.

»Mit dem Sinn beschäftigen wir uns später!«, wiederholte er, wenn wir kleinen Bengel verständnislose Gesichter machten.

Hatte er, zwischen den Bänken auf und ab marschierend, ein Gedicht rezitiert, befahl er uns, es ins Heft zu schreiben, denn »Abschreiben heißt Lernen!«, sagte er, mit erhobenem Stock, damit wir den Mund hielten.

Der Lehrer Vincenzo war wie ein Freund für mich, daran gibt es nichts zu rütteln. Schon allein deshalb, weil wir uns auch außerhalb der Schule trafen. Ich war nämlich der erste Mensch, dem er morgens begegnete, da wir gegenüber wohnten. Wir trafen uns immer an der Ecke der Via Archimede um halb acht. Wenn ich ihn von weitem sah, klopf‌te ich mir mit den Händen die Katzenhaare von den Hosenbeinen und lief ihm entgegen. Und ich sagte ihm gleich, dass ich die Nacherzählung nicht gemacht hätte, weil es mir unsinnig schien, ein Gedicht in Prosa zu verwandeln. Der Lehrer erwiderte nichts, er fragte mich nur, ob ich es auswendig gelernt hatte.

»Ja, natürlich. Soll ich es Ihnen aufsagen?«

»Nicht jetzt.«

»Und geben Sie mir dann eine schlechte Note?«

»Wenn du es nicht kannst, ja.«

Aber es lief wie am Schnürchen, und ich bekam wie immer »Lobenswert«! Beim Heimkommen schwenkte ich mein Heft, um seine mit Rotstift geschriebenen Bemerkungen herzuzeigen, und wollte zur Belohnung ein Stück Schokolade oder genug Kleingeld, um mir welche zu kaufen. All das, wie schon gesagt, bis zum 10. Oktober 1959, denn danach gab es nichts mehr zu wollen.

Nach dem Zeitungskiosk ließ der Lehrer sich von mir führen. Hatte er erst L’Unità gekauf‌t, redete er kein Wort mehr und ging, ganz ins Lesen versunken, ohne aufzublicken durchs Dorf. Da es aber am Gleisübergang von San Cono schon mal einen Toten gegeben hatte, nahm ich ihn am Arm, wie man es mit einem Blinden macht. Nach dem Unglück mit dem Zug hatte der Lehrer gesagt, wir müssten alle um das Unfallopfer trauern, auch wenn wir den Mann nicht gekannt hatten und nur wussten, dass die Lokomotive ihn weit fortgeschleudert hatte – ihn, sein Fahrrad und die Tüte Orangen, die am Lenker hing.

»Wer beim Tod eines Menschen nicht trauert, ist ein Rüpel«, sagte er in der Klasse, und als der Leichenwagen vorbeifuhr, befahl er uns, das Diktat zu unterbrechen, ans Fenster zu gehen und ein Gebet zu sprechen.

Der Lehrer war der Erste, dem ich vom Schlaganfall meiner Mutter erzählte. An jenem Morgen hatte ich die ganze Zeit geschwiegen und ihn nicht mal am Gleisübergang am Arm genommen. Als er mich endlich fragend ansah, erzählte ich ihm, dass sie mitten in der Nacht umgefallen war und dass sich auf ihrer Schläfe ein schwarzer Blutfleck gebildet hatte, der nicht mehr wegging. Daraufhin blieb der Lehrer stehen, schluckte mühsam und sagte mir viele wichtige Sachen. An die ich mich aber nicht mehr erinnere.

Von jenem Tag an kam Tante Filomena, die Schwester meiner Mama, ins Haus meines Vaters Rosario, um uns zu helfen. »Die bucklige Besserwisserin«, nannten sie sie im Dorf. Tante Filomena hatte wirklich immer etwas zu meckern. Bei allem und jedem schnaubte sie unzufrieden. Wenn sie schnaubte, zerzauste sie dir sogar die Haare, so heftig tat sie das. Als ich meinen Vater einmal fragte, woran der Mann der Tante gestorben war, antwortete er: »Am Geschnaube.« Doch sie war die Einzige, die sich nicht ekelte. Sie zog Mama um, wusch sie zwischen den Beinen, fütterte sie, weil der Mund schief geworden war. Auch Doktor Cucchi kam vorbei, wenn es ihm zufällig mal passte, um sie zu untersuchen. Vor ihm zogen alle Leute in der Via Archimede den Hut. Bevor er meine Mama untersuchte, schickte Doktor Cucchi uns hinaus, denn wo Kranke sind, braucht es Sauerstoff, sagte er.

»Das Beste wäre, sie in Catania in einem Altenheim unterzubringen«, verkündete er an der Tür, mit dem Arztkoffer in der Hand. »Aber wie auch immer, Signor Giacalone, Sie müssen Geduld haben und lernen, jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt, das ist die Weisheit, die uns die Krankheit lehrt.«

Doch sobald sich der Doktor zur Tür wandte, machte mein Vater hinter ihm mit straff gestreckten Fingern das Hörnerzeichen und sagte, Weisheiten führe immer der im Mund, der grade nicht in der Patsche stecke.

Für mich selber war die bedeutendste Veränderung, dass ich, mager wie ich war, es einfach nicht schaffte, den Badezuber in die Mitte des Zimmers zu rücken. Und darum stank ich. Wenn ich die Nase in mein Hemd steckte, konnte ich selber riechen, dass ich stank, und schämte mich, den anderen nahe zu kommen. Besonders meinem Schulschatz Gemma, für die ich mich mit einem namens Turi gerauft hatte. Ich hatte ihm einen Stein an den Kopf geworfen, weil er eines Tages behauptet hatte, Gemma habe für ihn den Rock gehoben. Und einen gewissen Vittorio aus der Via Lentini hatte ich aus dem gleichen Grund an den Haaren gepackt und mit dem Kopf gegen einen Granatapfelbaum gestoßen. Da gibt es nichts zu rütteln, die Eifersucht war schon immer mein Problem. Von klein auf.

2

So einfach von einem Tag auf den anderen bin ich aber nicht ausgewandert, nein. Es ist ja nicht so, dass ein kleiner Knirps plötzlich grundlos aufspringt und losfährt. Vorher haben sie mir alles vermiest, mit Zank, Tagen ohne Essen und unerträglichem Gekeife, erst dann bin ich weggegangen. Es war Ende 1959, ich war neun, und in dem Alter möchte man immer lieber in seinem Dorf bleiben, auch wenn es ein beschissenes Dorf ist und keineswegs das Schlaraffenland. Aber irgendwo hört’s auf, und wenn dir scheint, das Elend werde dich gleich verschlingen wie eine Sturzwelle, dann ist es besser, du packst dein Bündel und haust ab, Schluss, aus.

Meine Mama wurde jeden Tag dusseliger. Doktor Cucchi wiederholte bei seinen Besuchen sein übliches Palaver und verordnete uns, bestimmte Medikamente zu kaufen, die kein bisschen halfen, aber ein Vermögen kosteten. Man musste sie ihr unter die Zunge legen, wenn sie einen Anfall bekam. Mein Vater war mittlerweile gespannt wie eine Geigensaite, besser, man zupf‌te nicht daran und hielt mindestens eine Armeslänge Abstand. Er kam nach Hause, wann er wollte, und sagte nicht einmal »guten Abend«. Wenn er redete, dann nur, um mitzuteilen, dass er wieder rausging. »Ich gehe auf die Piazza, um mir die Beine zu vertreten«, knurrte er, während er mit der Zigarette im Mund die Tür hinter sich zuzog. Aber selbstverständlich ging er nicht deshalb auf die Piazza. Er ging Karten spielen im Keller von einem Typ namens Stefano. Und eins, zwei, drei hatte ihn die Spielwut gepackt. Ich weiß, dass er dorthin ging, denn einmal bin ich ihm barfuß gefolgt. Auf allen vieren habe ich mich auf dem Gehsteig vors Kellerfenster gehockt und ihn beobachtet. Gern hätte ich ihm die Karten der anderen Spieler verraten, doch mein Vater gewann auch ohne meine Einflüsterungen; das bisschen Geld, das ich nach Mailand mitnahm, hatte er alles dort unten gewonnen, in dieser verrauchten Höhle. Andere sind nur mit einem Glas Oliven oder mit einem noch warmen Brot abgereist, ich dagegen besaß ein nettes Sümmchen, auch wenn ich es dann gar nicht ausgeben konnte. Doch im Dorf hassten sie ihn allmählich wegen dieser Geschichte mit den Karten, und bald hatte er alle seine Freunde verloren. Einem nach dem anderen hat mein Vater die Haut abgezogen, bis er den Bogen überspannte und selber reingelegt wurde.

Was aber die Prügel betrifft, die er mir manchmal am Abend verabreichte, gibt es nicht viel zu philosophieren, zimperlich durf‌te man nicht sein. In San Cono prügelten alle Eltern, Schluss, aus. So, wie der Himmel regnet, die Kuh muht und der Baum seine Blätter verliert, so natürlich schlugen die Eltern von San Cono ihre Kinder. Hatte man sich zum Beispiel mit einem anderen Kind geprügelt, kriegte man gleich noch eins drauf. »Wie? Du hast dich verhauen lassen? Was für ein Schlappschwanz soll bloß aus dir werden?!« – und zack, sauste der Gürtel herunter. »Du hast deine Hose dreckig gemacht?« – Fußtritte ohne Ende. »Du hast dir weh getan?« – fliegende Holzschuhe. Allerdings waren die Holzschuhe eine weibliche Waffe, die Spezialität der Mütter und einiger älterer Schwestern. Meine Mama zum Beispiel war ein Profi im Holzschuhwerfen. Zielgenau wie ein Soldat. Egal aus welcher Entfernung, sie traf immer. Manchmal war das Erstaunen darüber heftiger als der Schmerz. Sie brauchte dir nur mit ihrem Tigerblick in die Augen zu starren, und der Holzschuh flog los wie ein Vogel, vorbei am Geschirr und zwischen den Türen durch, hinter denen ich Schutz suchte. Mich hat das einen Zahn gekostet, aber einige Freunde hat es schlimmer erwischt.

Einmal wurde ich auch dafür verhauen, dass ich in die Schule gegangen bin. Da mein Vater mir am Abend zuvor nichts zu essen gegeben hatte, sagte er, ich dürfe dafür später aufstehen. So dachte ich beim Aufwachen, dass ich für die Arbeit als Tagelöhner sowieso zu spät dran war, und lief mir nichts, dir nichts in die Via dei Ginepri. In meinem Übermut hielt ich an der Bäckerei in der Via Ruggero il Normanno an und bettelte um einen Tarallo. Als Bub konnte ich so rührend schöne Augen machen! Sogar falsche Tränen konnte ich weinen, wie ein Schauspieler von Cinecittà. Die Frauen fielen immer drauf rein. Jetzt dagegen sind meine Augen so schmal wie Schlitze, als wollten sie die Sonne nicht einlassen.

Jenen Schultag habe ich bis heute nicht vergessen. Erst mal war ich enttäuscht über den Empfang, den mir meine Klasse bereitete. Ich erwartete ein großes Trara wie beim Fest des Dorfheiligen, aber außer Peppino, der rumhüpfte wie ein Kaninchen, beachtete mich niemand. Es war, als hätte ich gar nie gefehlt. Nur Ettore kam und flehte mich an, ihm ja nicht das Pausenbrot zu klauen, und flennte wieder wie ein Mädchen. Auch der Lehrer Vincenzo sagte beim Eintreten kein Wort zu mir. Er runzelte nur die Stirn, als er mich auf meinem Platz sitzen sah, sonst nichts. Da dachte ich, mit unserer Freundschaft sei es aus und vorbei, und wollte sofort raus aufs Feld rennen.

Aber die Stunde war spitze. Er sprach über einen Herrn namens Schanschak Russò und nannte ihn einen Denker, ein Wort, das ich noch nie gehört hatte und das nach Meinung meines Banknachbarn jemanden bezeichnete, der sehr schlau und gescheit war, doch Peppino meinte, das sei einer, der morgens aufstehe, den ganzen Tag nichts zu tun habe und bloß rumhänge.

Der Lehrer zeichnete zwei Männer an die Tafel. Einer stand auf einem eingezäunten Feld und sagte: »Das gehört mir!«, der andere stand auf einem Feld ohne Zaun und sagte nichts. Der Lehrer ließ uns seine Zeichnung abmalen und erklärte, dass es, bevor jener Mann sagte: »Das gehört mir!«, keine Gesellschaft mit Kasernen, Krankenhäusern, Schulen, Gerichten, Gefängnissen und Banken gab und die Menschen frei waren, denn die Natur war so üppig, dass es für alle reichte, man musste sich nicht wegen einem Bissen zerfleischen. Doch dann sagte jener Mann: »Das gehört mir!«, und daraufhin war der Teufel los. Alle fingen an, es ihm nachzumachen, und statt von einer Landschaft oder einer schönen Frau träumten sie nun von immer höheren Zäunen und schafften sich für ihre Häuser Türen mit Schloss und Riegel an und bissige Hunde für die Tore.

»Russò schreibt, diese Erfindung mit den Zäunen heißt Privateigentum«, sagte der Lehrer.

Peppino hob die Hand, um zu fragen, ob dieser Herr denn im Leben nicht nur viel gedacht, sondern auch viel geträumt und geschnarcht habe, wobei er so durch die Nase grunzte, dass ich bei dem Gedanken immer noch lachen muss und im Kopf die ganze Klasse kichern höre. Vor vielen Jahren erzählte man mir in San Cono, dass auch Peppino mit etwa fünfzehn Jahren ausgewandert sei und eine Zeit lang in Mailand gelebt habe. Anfangs hatte er Mühe, sich einzuleben, und verbrachte die Tage in Pornokinos, zettelte Schlägereien an und klaute Autos. Später ging er mit seinem Bruder nach Deutschland, und dort hat er vielleicht Vernunft angenommen, eine feste Arbeit gefunden und eine Familie gegründet. Peppino war noch ärmer als ich. Seine Familie hielt das Vieh direkt im Haus, das eher ein Stall war als eine Wohnung. Und seine Eltern wirkten selber wie Tiere. Wegen dem Geruch nach feuchtem Stroh, den sie verströmten, wegen ihren Kuhaugen und weil sie wie die Esel im Stehen aßen. Wer weiß, vielleicht sind wir uns in der Stadt sogar manchmal begegnet, womöglich an einem Sonntag, dem schlimmsten Tag der Woche.

Zur Abwechslung knurrte mir auch an jenem Tag wieder der Magen, und mir war schwindlig. Um bei der Heimfahrt auf dem Fahrrad meines Vaters nicht einzuschlafen, erzählte ich ihm von der Unterrichtsstunde.

»Papa, weißt du, warum das Land, wo wir ackern, nie uns gehören wird?«, fragte ich ihn.

»Warum?«

»Weil ein Denker namens Russò schreibt, dass ein Mann vor vielen Jahrhunderten ›Das gehört mir!‹ gesagt und einen Zaun um ein Feld gezogen hat, und seitdem sind die Menschen ungleich geworden.«

»Und wer war dieser verfluchte Kerl?«

»Den Namen weiß ich nicht, den hat uns der Lehrer nicht gesagt, aber es war der, der das Privateigentum erfunden hat, während vorher alles allen gehörte, vorher gab es reichlich zu essen und keine Gesetze, Schulen, Krankenhäuser und Rechtsanwälte.«

»Das hat dir wohl ein Kommunist beigebracht!«, zischte mir mein Vater ins Ohr.

Aber ich war ja noch ein Kind, die Bedeutung dieses Wortes kannte ich gar nicht. Im Gegenteil, ich verstand Camionist.

 

Auf den Feldern von Don Alfio arbeiteten wir zu viert, zwei auf der einen Seite, zwei auf der anderen. Mein Lohn bestand aus Erbsen, Tomaten, Kaktusfeigen … wertlosem Kleinkram. Am Abend schickte mich mein Vater los, um noch einen Korbvoll zu holen. Die ersten Male protestierte ich lautstark, weil ich mich vor den Hunden fürchtete. Er hänselte mich und sagte: »Hast du Angst? Lang dir an den Sack, das hilf‌t!« Später habe ich gelernt, wie der Blitz den Baum hochzuklettern, und mich nicht mehr so angestellt.

Dort auf dem Acker habe ich Giuvà kennengelernt. Ich nannte ihn paesano. In San Cono nannte man die Älteren entweder paesano oder, wenn es einer aus dem engeren Kreis war, der dir Geschenke machte, dich zum Essen einlud oder dein Pate war, compare. Giuvà schielte und hatte eine Halbglatze. Er war etwas über vierzig, doch seine Haut war schon so gegerbt wie bei einem alten Bauern. Alles in allem sah er aus wie ein Trottel. An dem Tag, an dem er auf die Welt gekommen ist, muss sich der Herrgott zwischendurch ein paar Stunden freigenommen haben. Zu mir war Giuvà aber sehr nett, und wenn mein Vater nicht dabei war, ließ er mich auf einen Baum klettern und von dort mit der Schleuder Oliven schießen, um die Wachteln aufzuscheuchen oder die Reiher zu erschrecken. Manchmal war ich todtraurig. Ich wusste nicht, warum, ich war einfach traurig und Schluss.

Dann ließ ich die Hacke fallen und fragte Giuvà, ob ich Schnecken suchen dürfe. Ich stellte mir vor, wie ich einen ganzen Haufen davon an einen Marktstand verkaufen würde oder an so eine Signora, die den ganzen Tag mit dem Fächer auf dem Gehsteig sitzt und auf Kundschaft wartet. Doch ich hatte die Schneckenjagd meistens bald satt, weil mir der Schleim, wenn sich das Schneckenhaus ablöste, eine Gänsehaut verursachte. Also warf ich die paar, die ich gesammelt hatte, weg und lief quer über den Weinberg. Wenn ich am Brunnen ankam, beugte ich mich bäuchlings darüber, und die feuchte Luft, die mir ins Gesicht stieg, tröstete mich. Wieso, wusste ich nicht. Sie tröstete mich und basta. Deshalb ging ich immer wieder dorthin.

Doch wenn ich tagsüber in den Brunnen geschaut hatte, bekam ich nachts Alpträume. Ich träumte, ich würde hineinfallen, allein oder zusammen mit meiner Mama. Und in manchen Nächten war es noch schlimmer. Die ganze Welt fiel in den Brunnen, ich allein blieb schreiend zurück, und niemand hörte mich.

»Ich will heim!«, rief ich Giuvà zu, wenn ich zu ihm zurückkam und er noch immer mit der Hacke den steinigen Boden bearbeitete.

»Dann geh doch, hau ab, ich hab genug von deinem Gequengel!«, antwortete er.

Eines Tages, als ich endlich auch das Hacken gelernt hatte, ließ er mich aus seiner Feldflasche trinken, und als mir der Wein die Kehle hinabrann, begann ich zu würgen: »Bäh, bäh!«, spuckte ich. »Ich mag keinen Wein, ich will Wasser!«

Giuvà lachte mich aus und sagte, ihm dagegen könne das Wasser den Buckel runterrutschen, Wasser trinke er nie. Er wiederholte immer die gleichen Sätze, denn er war strohdumm und abgestumpft von seiner Arbeit. Und er sagte es auch immer wieder: »Diese Arbeit bringt einen um!«

»Warum machst du sie dann?«, fragte ich.

»Ich will nach Mailand und muss die Zugfahrkarte kaufen, da braucht man schon ein bisschen Geld auf der Seite.«

»Und deine Frau Elvira? Und deine Töchter?«

»Die werden später nachkommen.«

Ich nutzte jede Gelegenheit, um meine Kenntnisse aus der Schule anzubringen, und legte sofort los: »Mailand ist die Hauptstadt der Region Lombardei, es hat eine Million Einwohner und eine Fläche von hundertachtzig Quadratkilometern. Es ist die zweitgrößte Stadt nach Rom.«

Die Erdkundetexte konnte ich alle auswendig, genau wie die Gedichte. Ich wusste auch, dass Turin die größte Industriestadt Italiens war, dass der Trasimenische See in Umbrien liegt und noch viele andere Dinge, die sich später als absolut wahr erwiesen.

Giuvà sagte, er habe Verwandte und Freunde von Verwandten und Verwandte von Verwandten in Mailand, und dort sei es nicht so wie »hier in diesem beschissenen Kaff, wo du hackst und hackst, bis du krepierst, ohne je zwei Lire sparen zu können«. Immer redeten die Großen vom Geld, andere Themen kannten sie nicht. Das heißt, eins kannten sie noch, und wie, aber darüber sprachen sie nicht, zumindest nicht vor mir.

»Mailand ist eine Stadt voller Lichter, da ziehen Leute aus ganz Italien hin. Sogar welche aus Catania sind da, aus Zafferana, aus Trecastagni und aus anderen Dörfern hier in der Gegend. Und außerdem gibt es Tausende von Fabriken!«, und wenn er Fabriken sagte, hätte man meinen können, er rede vom Paradies.

Einmal fiel mir mein Sardellenbrot auf den Boden, und ich fluchte nach allen Regeln der Kunst. Schon in meinem zarten Alter kannte ich ein paar sehr schöne Flüche und konnte auch originelle, deftige, neue erfinden. Daraufhin versetzte Giuvà mir eine Ohrfeige. Ich spuckte einen lockeren Zahn aus und ließ meinen Tränen freien Lauf. Als er mich heulen sah, blieb ihm der Mund offen, und er sagte, Heulen sei das Letzte, was man tun soll, weil es sowieso nichts nützt. Dann hielt er mir ein Stück von seinem Brötchen mit Pecorino und Tomate hin, und die Welt war wieder in Ordnung. Als wir fertiggegessen hatten, wischte Giuvà das Messer an seinem Oberschenkel ab und schälte eine Kaktusfeige, leerte die Feldflasche und fragte mich: »Willst du auch mit nach Mailand?«

»Nach Mailand? Auf keinen Fall!«, erwiderte ich. »Ich will mein ganzes Leben in San Cono bleiben!«

3

Auf dem Feld war ich mehr mit Giuvà zusammen als mit meinem Vater, der meine Mama eines Tages doch noch nach Catania ins Altenheim gebracht hatte.

Das Leben mit meinem Vater war trist. Tante Filomena kam nur gelegentlich vorbei, und die Wohnung war dreckig. Außerdem aßen wir immer kalt. Gut war, dass mein Vater mich nicht mehr verprügelte, aber ansonsten glichen wir zwei Fischen. Als ich ihn mal fragte, warum er nicht mehr zu seinen Freunden auf die Piazza gehe, antwortete er: »Ninè, es gibt keine Freunde. Es gibt nur Leute, mit denen man sich die Zeit vertreibt, wenn man nichts zu tun hat oder nicht an seine Scheißsorgen denken will.«

Doch ab und zu kauf‌te er heimlich kleine Geschenke für mich und sagte zu Giuvà, er solle so tun, als wären sie von ihm, dann bekäme ich vielleicht Lust, mit ihm mitzufahren.

Das beste Geschenk war zweifellos die kleine Gitarre. Vorher hatte ich zu Hause nur zwei kleine Soldaten aus gebranntem Ton und eine Sammlung von Trillerpfeifen, die ich aus Pflaumenkernen geschnitzt hatte. Gespielt wurde im Freien, auch wenn es jedes Mal mit Raufereien endete, aber die machten auch Spaß. Wir waren immer schmutzig von der Straße. Und im Sommer verwilderten wir völlig. Wir lebten barfuß und in der Unterhose, mit Strohhalmen in den Haaren, und die Schultern schälten sich von der Sonne. Manchmal machten Peppino und ich uns am Sonntag frühmorgens auf zur Bushaltestelle. In Zafferana stiegen wir aus, liefen von dort den Berghang hinauf auf den Vulkan, pflückten dabei Brombeeren von den Sträuchern und kratzten unter manchen Bäumen, wo nie die Sonne hinkam, den letzten verkrusteten Schnee hervor. Wenn ich Durst hatte, presste ich ihn in der Faust zusammen und schleckte ihn wie eine Granita. Dass der Schnee schon ganz schwarz war, juckte mich nicht. Wie immer musste man sich vor den Hunden in Acht nehmen, doch ich hatte ja gelernt, schnell zu klettern, und Peppino war der geborene Affe. Auch im Steinewerfen war er ein Ass. Treffsicher zielte er genau auf die Augen der Tiere, so dass die Hunde jaulend davonliefen und ihn bestimmt für den Teufel hielten. In der schönen Jahreszeit begegnete man auf den Abhängen Touristen, und manchen boten wir uns als Bergführer an. Wir erfanden Geschichten von Geistern und Riesen, in die ich meine Erdkundekenntnisse und Sachen über den Ätna einflocht, die wir im Dorf bei den Erwachsenen aufgeschnappt hatten. Am Ende des Vortrags schenkte Peppino ihnen ein Stück Lavagestein, und ich punktete abschließend mit einem Sprichwort wie: »Machst du dich auf zum Vulkan, dann geh mit dem Stock bergan.« Auf diese Weise konnten wir leicht etwas Trinkgeld ergattern, für das wir uns hinterher an einem Stand ein Käsebrötchen kauf‌ten. Es war die schönste Sache der Welt, mampfend auf dem rötlichen Stein zu sitzen und auf den furchterregenden Vulkan zu schauen. Das, ja das waren noch Sonntage!

»Die ist für dich!«, sagte Giuvà eines Nachmittags und schwenkte eine kleine Gitarre durch die Luft, als wäre es die Hacke.

»Für mich?!« Ich riss die Augen auf.

»Aber ja, jetzt kannst du Künstler werden!« Damit ging er zur Essecke in der Küche und unterhielt sich mit meinem Vater.

Sofort begann ich zu klimpern und fühlte mich wer weiß wie toll. Doch bald taten mir die Fingerkuppen von den Saiten auf dem Griffbrett weh, deshalb zupf‌te ich nur noch oberflächlich daran. Wie alles Schöne währte es nicht lang. Kaum drei Stunden. Ich verzog mich aufs Mäuerchen in der Via Marco Polo, weil mein Vater schon nach fünf Minuten brüllte, ich solle Ruhe geben. Gut sichtbar setzte ich mich hin und schrieb sogar ein Lied, an das ich mich heute noch erinnere:

Eine Sardelle, das halt ich nicht aus,

ich hau ab nach Mailand, ich muss hier raus.

Dann kam Pasquale Regno vorbei, einer, der älter ist als ich. Er starrte mich an.

»Lass mich mal probieren«, befahl er.

»Nein!«, schrie ich.

»Du kannst ja gar nicht spielen.«

»Ich hab doch sogar schon ein Lied komponiert!«

»Stimmt es, dass du sie von dem Herrn gekriegt hast, der dich nach Mailand mitnehmen will?«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Ich hab gehört, er braucht dich tagsüber als Sklaven und nachts als Frau.«

»Was soll das heißen, als Frau?«

Er machte eine obszöne Geste, und ich gab ihm einen Fußtritt. Er warf einen Stein nach mir, und da blieb mir keine Wahl: Ich zertrümmerte die Gitarre auf seinem Kopf. Er blutete, aber ich schlug immer weiter zu, und hätte ich eine Kaktusfeige in Reichweite gehabt, hätte ich ihm mit der Schale das Gesicht abgerieben.

Als Tante Filomena mir am Abend den Teller mit gekochtem Gemüse hinstellte, schob ich ihn weg und schrie, ich würde, obwohl ich Hunger hatte, nichts essen, denn ich hätte alles satt, die Feldarbeit, die Wohnung voller Ameisen und die ewigen Prügel.

»Ich geh weg mit Giuvà, der gibt mir bestimmt was von seinen belegten Brötchen ab!«, brüllte ich mit geröteten Augen.

Da stand mein Vater vom Tisch auf, und anstatt mir mit einer Maulschelle zu drohen, umarmte er mich und sagte: »Ganz recht so, mein Sohn.« Nach dieser überraschenden Umarmung trocknete er mir mit seinem Hemd das Gesicht, nahm mich an der Hand und führte mich auf die Piazza. Es war kalt, trotzdem wollte er mir unbedingt ein Eis kaufen.

»In Mailand kannst du dir eine Zukunft aufbauen. Als Maurer, Fabrikarbeiter, Handwerker und wer weiß was alles«, sagte er im Gehen. »Denk nur an den Sohn von Dario. Der ist vor drei Jahren weggegangen, und jetzt kommt er im Sommer mit einem Alfetta zurück und macht Urlaub!«, rief er voller Neid.

»Und du, kommst du nicht mit?«

»Wenn ich bisschen was sparen kann, mal sehen.«

 

Giuvà redete immerzu über Mailand, wie geräumig die Wohnungen seiner Verwandten seien, mit Bad und fließend heißem Wasser, und setzte mir diesen Floh mit den blonden, vollbusigen Frauen ins Ohr, denn er sagte, solche gebe es dort haufenweise.

Vielleicht war ich aber auch schon auf Busen fixiert, bevor ich Giuvàs Geschwätz hörte. Sozusagen von Geburt an, denn mir hat der Busen meiner Oma das Leben gerettet. Ich war ein Siebenmonatskind, und als ich aus meiner Mama rauskam, wog ich knapp eineinhalb Kilo. Daraufhin hat Oma Agata, die Mutter meiner Mutter, mich zwei Monate lang zwischen ihre riesigen warmen Brüste gesteckt, und nur deshalb bin ich durchgekommen. Den ganzen Tag saß sie mit mir zwischen den Brüsten auf dem Stuhl und rührte sich nicht. Besser als jeder Brutkasten war meine Oma Agata. Zeit ihres Lebens unternahmen wir, wenn die Mittagshitze vorbei war, lange Spaziergänge durchs Dorf, und dabei erzählte sie mir jedes Mal diese Geschichte. Eines Tages sagte ich zu ihr: »Oma, darf ich dich anders nennen?«

»Ja, wie denn?«

»Oma Busen will ich dich nennen!«, antwortete ich, und wir bogen uns beide vor Lachen.

Wie auch immer, an den Tagen vor der Abreise setzte ich den Fuß nicht aus dem Haus. Mein Vater fragte mich, ob ich etwa eine Nonne geworden sei, aber darauf wusste ich keine Antwort. Manchmal rückte er seinen Stuhl neben meinen, zog als Überraschung für mich einen kleinen Pfefferkäse hinter dem Rücken hervor und meinte, den sollten wir zusammen essen. Auch er benutzte zum Schneiden ein Taschenmesser. Doch ich hatte in jenen Tagen überhaupt keinen Appetit, ich stand nur auf dem Balkon herum und streichelte den Schwanz der Katze, das war das Einzige, was ich machte. Oft warf ich ihr auch die Sardellen aus meinem Brötchen hin, so sehr kotzten sie mich inzwischen an. Für mich behielt ich nur das ölige, weiche Brot.

Eines Nachmittags trat auf den Balkon gegenüber der Lehrer Vincenzo, der seine Laken ausschüttelte, damit die Wanzen herausfielen. Er fragte mich nach meiner Mama, und ich antwortete mit einem Achselzucken.

»Soll ich Ihnen das Gedicht noch mal aufsagen?«

»Komm rüber zu mir«, erwiderte er.

Zuerst wurde er wütend, weil ich ihn fragte, ob was Wahres dran sei an dieser Geschichte, dass er Camionist ist, dann beruhigte er sich Gott sei Dank wieder und sagte, in Mailand würde ich bestimmt glücklich sein. Er sagte tatsächlich glücklich, und ich erinnere mich, dass mir das Wort vorkam wie die Hose für die Feldarbeit. Zu groß und unpassend.

»Am besten schreibst du Tag für Tag auf, was dir zustößt. Oft reichen schon wenige Zeilen«, sagte er, während er in einer Schublade kramte. »Manchmal kommt man müde von der Arbeit heim und will nur noch seine Ruhe haben.« Damit hielt er mir ein Heft hin, das er Tagebuch nannte, weil das Datum und die Gedenktage der Heiligen drinstanden.

»Hier soll ich reinschreiben, was ich tagsüber mache? Ist das eine Hausaufgabe?«, fragte ich ihn, als wären wir in der Schule.

»In dieses Tagebuch kannst du schreiben, was du willst«, fuhr er fort, ohne auf mich zu hören. »Es wird sein, als unterhieltest du dich mit einem Menschen, der so denkt wie du. Du kannst aufschreiben, was du machst, aber auch alles, was du niemandem sonst anvertrauen kannst.«