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Sibylle Lewitscharoff

Apostoloff

Roman





Suhrkamp

Umschlagillustration: Sibylle Lewitscharoff





ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

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www.suhrkamp.de

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74350-8

Lulin Danailoff gewidmet

Unterwegs mit Rumen

Wir, sage ich zu meiner Schwester, sind noch gut davongekommen. Meine Schwester sitzt vorne auf dem Beifahrersitz und schweigt. Nur ein winziges Neigen des Kopfes Richtung Fenster deutet an, daß sie verstanden hat. Sie ist an meine Eröffnungen gewöhnt und weiß, was gemeint ist.

Weg und fort und Ende, sage ich. Ein Vater, der ein Ende macht, bevor er die ganze Familie zermürbt, ist eher zu loben als zu verdammen.

Machen, da spielt doch der hellichte Tag mit hinein? Da will doch etwas angestaunt werden, wenn’s fertig ist? Gemach, Gemächt, gemacht. Gemacht wird jetzt eine Boxbewegung auf die Kopfstütze zu, aber alles bleibt an der Luft, schneller als gehoben liegt die Hand wieder auf dem Knie. Dumm? Ja, dumm ist so manches, was ich tu, aber noch kein vernünftig Kraut dagegen gewachsen. Meine Schwester hört und sieht mich im Moment nicht, weil sie Rumen anlächelt und weil der Lärm des Wagens die feineren Geräusche schluckt.

Manchmal spreche ich zu meiner Schwester wie in den Wind. Sie kennt die Anläufe von meiner Seite, in denen unser Vater selten gut, meistens schlecht wegkommt. Von der Mutter schweigen wir eisern. Das Bezaubernde an meiner Schwester ist: sie nimmt mich nicht ernst und verzeiht alles. Sie ist eine vorbildliche ältere Schwester, die der jüngeren mit Engelsgeduld begegnet. Obwohl wir inzwischen mittleren Alters sind, denkt meine um zwei knappe Jährchen ältere Schwester, sie habe es mit einem unschuldigen Kind zu tun, über dessen Marotten man ein bißchen die Stirn runzelt, im guten Glauben, sie würden sich noch auswachsen.

Rumen Apostoloff ist nicht an uns gewöhnt, sein Haar steht bis zu den Spitzen in Hab-Acht-Stellung. Über meine Reden erschrickt er, meine Schwester himmelt er an. Sein Gehör ist exzellent, er versteht fast immer, was wir sagen, nur wenn wir absichtlich in breiteres Schwäbisch fallen, kommt sein detektivischer Sprachsinn mit den weichen, verschliffenen Lauten nicht zurecht.

Rumen ist unser Hermes, er trägt die Sprachen hin und her, fährt und findet im Fahren den Weg, einer jener verzweifelten bulgarischen Fahrer, die kein Auge dafür haben, was am wegflitzenden Straßenrand alles krepiert. Als uns ergebener Nervösling fährt er durch sein verzweifeltes Land, das bei Nacht noch viel verzweifelter ist.

Wir, sage ich zu meiner Schwester, können uns nicht beschweren. Wir wurden ernährt, wurden nicht geschlagen und haben lange Ausbildungen finanziert bekommen, zu guter Letzt reichte es sogar zu einem bescheidenen Erbe. Was will man mehr.

Die freudlose Vernunft meiner Sätze widert mich an, was dazu führt, daß ich eine Weile den Mund halte. Meine Schwester schweigt ohnehin viel, und Rumen wagt es nicht, sich in eine Rede zu mengen, die auf Fortsetzung angelegt ist.

Wir rollen auf der gut ausgebauten Straße nach Veliko Tarnovo dahin. Sofia haben wir gerade hinter uns gelassen, auf der linken Seite zeigen sich marode Industrieanlagen, von denen rötlichgelbe Rauchfahnen in den Himmel wehen. Die ganze linke Seite ist in einen rötlichgelben Schleier gehüllt, dessen Partikel im Sonnenlicht giftig glitzern. Es stinkt. Eine lange Reihe Lastwagen befindet sich vor uns. Rumen Apostoloff rückt den Oberkörper in seinem Sitz zurecht und packt das Steuer mit Entschlossenheit, vor sich das harte Geschäft des Überholens, auf der Rückbank eine Frau, die er nicht leiden kann.

Die Windrose des Vaterhasses verwirbelt so manches Fünkchen Vaterliebe, sage ich unhörbar zu meiner Schwester, während wir die roten Staubwolken des Metallurgiekombinats von Kremikovski, einstmals ein Kind bulgarisch-sowjetischer Freundschaft, hinter uns lassen.

Wir sind Kinder der deutsch-bulgarischen Freundschaft, einer ebenso zweifelhaften, wie es die bulgarisch-sowjetische war. Eine Freundschaft aus Lügen, Eisen und Blech, von der nicht viel mehr blieb als verschrottete Panzer und längst verweste Haufen von Leichen. Unter einem Separathäufchen, als Spät-, nicht als Kriegsleiche, ist unser Vater verwest.

Zeige er sich doch, der Vater, wenn er kann!

Nichts da. Noch ist die Zeit nicht reif, mit zartem Hämmern das Bild des Vaters auszuklopfen. Kristo, sein durchdringend symbolischer Name. Kein elastischer, gutmütiger Name, der einem Knaben hilft, sich in der Welt umzutun. Was für ein eiserner Kranz von Bedeutungen auf diesem Kreuznamen lastet. Dieser Vater-Kristo, damals natürlich noch nicht Vater, sondern bloß Sohn, soll das Schreiben zwar rasch erlernt, bei seinem Namen soll es jedoch gedauert haben, bis er ihn ohne Zögern hat hinschreiben können. Als Erwachsener, Arzt dann, hatte er eine versudelte Schrift, für jeden Apotheker, der seine Rezepte entziffern mußte, eine Zumutung. Der Namenszug war völlig unleserlich. Ja, auch bei unserem Vater bildete der Name den Kern der Persönlichkeit. Eine völlig versudelte Persönlichkeit, sage ich zu meiner Schwester und glaube zu hören, wie sie seufzt – meines Geredes wegen, der unbegreiflichen Launen, denen es folgt.

Eine Persönlichkeit ohne Stimme und Gewicht, zumindest für seine Töchter, falls er in deren Köpfen überhaupt vorkommt, sage ich triumphierend. Dochdoch, er kommt vor. Zeigt sich huschhusch nach Belieben, dieses Aas von einem Vater!

Es sind die nachts begonnenen und tagsüber ausgeschmückten Träume, in denen unser Vater regelmäßig wiederkehrt.

Da meine Schwester beharrlich schweigt, Rumen nur stöhnt und mit der Faust aufs Lenkrad schlägt, wenn, wie er glaubt, ein ausgemachter Schwachkopf ihn am freien Fahren hindert, spreche ich jetzt für meine Schwester mit – obwohl sie für gewöhnlich leugnet, daß Väter in Träumen erscheinen, unser versudelter Vater sogar mit einiger Hartnäckigkeit.

Neulich, in der Nacht, bevor wir nach Sofia flogen, saß er bei mir im Zimmer. Seine Präsenz war so wenig merkwürdig, wie zum Beispiel in einer Erzählung von Murakami, in der es heißt: Als Katagiri in seine Wohnung kam, wartete dort ein riesenhafter Frosch auf ihn.

Auf mich wartete keine riesenhafte Amphibie, sondern bloß der Vater. Er benahm sich diskreter als Murakamis Frosch, schwieg. Wozu die Stimmbänder strapazieren, zwischen uns gibt es nichts zu bereden. Langsam stand er auf und ging durch die Wand. Während er schon verschwunden war, schleppte das Ende seines Stricks noch am Boden, bis es allmählich ebenfalls verschwand. Mein Vater hat seinen Strick meistens dabei, das ist ganz und gar nichts Neues.

Unser Rumen ist ein hektischer Fahrer. Immer wieder reißt er mich aus meinen Gedanken. Wenn er überholt, fragt man sich unwillkürlich, schafft er’s, oder schafft er’s nicht. Gerade hat er einen Lastzug hinter sich gelassen, beladen mit Baumstämmen, an deren längstem ein roter Wimpel flattert. Wir sind noch mal davongekommen.

Rumen Apostoloff möchte uns die Schätze Bulgariens zeigen. Meine Schwester und ich wissen es besser: solche Schätze existieren nur in den bulgarischen Hirnen. Wir sind überzeugt, Bulgarien ist ein grauenhaftes Land – nein, weniger dramatisch: ein albernes und schlimmes. Seine Gegenden? Meer, Wald, Gebirge, Auen? Unseretwegen mag es da verborgene Reize geben. Wir sind aber keine Ornithologen und wollen auch nicht auf Bärenjagd gehen. Auf malerische Rhodopenschluchten geben wir nichts, Hammerschläge in Rhodopentälern erschüttern uns nicht, Glockengeläut lädt uns nicht zum Kirchgang ein. Rosenfelder sind für uns Rosenfelder und sonst wenig, Rosenfelder bringen unsere Herzen nicht in Wallung. Bloß weil man auf eine blutrote Fläche zeigt, benehmen wir uns nicht wie Frischverliebte und erfahren auch keine Extrablutzufuhr. Nüchtern bleiben ist eine Kunst. Eisern wird sie von uns praktiziert, sobald wir bulgarische Luft wittern, gar die ersten vorsichtigen Schritte auf bulgarischem Boden tun.

Und sonst? Sind die bulgarischen Chöre etwa nichts? Le Mystère des voix bulgares, wie es immer so nobel heißt? Hört sich das nicht an wie hoch droben in den Äther hineingesungen und vom Berg herabtönend? Kommen wir nicht ins Grübeln, wenn wir an Orpheus denken, der in den Rhodopen so rein und bezaubernd sang und dazu die berühmte Leier schlug, daß Steine und Bäume sich um ihn her scharten, alles Wild die Hörner senkte, Hirschen und Rehen die Beine einknickten vor Entzücken, Fell an Fell, Fell an Kleid von Gejagten und Jägern sich aufs weiche Moos lagerte und Frieden herrschte und Lauterkeit unter allen Wesen, die Ohren haben und in deren Brust ein Herz schlägt, weil alles nur noch ein Lauschen war, ein sonderbares Lauschen, ein Lauschexzeß mit fühlenden Steinherzen und auffangsamen Steinohren, wie ihn nicht einmal die Bibel kennt.

Tja, sagen wir, mag wohl sein, aber ihr habt eure Ur-Ur-Urgroßmütter vergessen, diese geifernden Mänaden, diese Lärmkanaillen, rachsüchtig, blutwütig, böse. So lange bliesen die auf ihren Hörnern und schrieen und schlugen Krach, bis Orpheus’ Gesang nicht mehr verfing und sie den Sänger schlachten konnten. Auf der Mariza schwammen alsbald die marmorweißen Körperstücke, schwamm das immerfort singende Haupt des Orpheus vorbei an Buchenwäldchen und Weidengehölzen, vorbei an Haselsträuchern und Pappeln, es schwamm und schwamm das schöne Haupt meerzu und fort. Fort aus diesem Malefizland, damals noch Thrakien geheißen. Kein Schatz an geistigem Behagen, der sich da in euren Rhodopen versteckt. Nicht Orpheus ist’s, der aus euren Chören tönt, Mänaden sind’s, jedenfalls die späten Abkömmlinge davon. Und damit wäre das Rätsel gelöst, warum in den bulgarischen Chören die Kehlköpfe so unnatürlich gequetscht werden.

Er sang so schön, unser Frauenarzt, seufzt der Chor der Vaterverehrerinnen, lauter ehemalige Patientinnen, die ihren exotischen Orpheus am Fenster, am Schreibtisch, mit dem Fingernagel an eine Kanüle klopfend, übers ärztliche Besteck gebeugt oder sonstwo haben singen hören wollen. Bis er schließlich sein eignes Totenliedchen sang, ein allmählich in Röcheln übergehendes Sterbe-kr-kr, das von der einst überaus melodiösen Vaterstimme noch ein wenig ausgeziert wurde, solange das bißchen Luft im Hals für Zierat eben reichte.

Sein Haupt aber, o dieses Vaterhaupt, war von der Fülle der Schwärze bereits bedeckt und in den Tod geschlungen.

Weiter im Text, sage ich, weiter und fort im bulgarischen Unglück, das dieses Aas von einem Vater auf Häupter und Herzen seiner Töchter geladen hat. Gottlob geschieht es nicht wie üblich laut, sondern so leise, daß Rumen mich unmöglich hören kann, auch wenn ich nicht weiß, ob er es nicht doch könnte, weil sein sicherheitsdienstliches Gehör so geschärft ist, daß es Laute vernimmt, die sich noch gar nicht an der Luft befinden, sondern als kitzlige Gebilde auf der Zunge.

Rumen, armer Rumen, haben wir schon von der bulgarischen Keramik gesprochen, die du uns so gerne zeigst? Dem Pfauenaugendekor, dem Fließmuster auf all den braunen Krügen, Näpfen, Tellern, Aschenbechern, Kaffeetäßchen, seinerzeit beliebte Mitbringsel für DDR-Urlauber, heute eher von Engländern geschätzt? Uns kommen Teller, Tassen, Becher dick vor. Eine unangenehm wulstige Kinderkeramik. Außerdem empfiehlt sich das Zeug nicht als Eßgeschirr; das eingebrannte Kobaltblau dringt durch die Glasur und ist giftig.

Und was ist mit der Schwarzmeerküste? Schwarzmeerküste, das klingt doch nach Meeresrauschen, Möwen, Dünen, nach Strandcafés, dümpelnden Bötchen, klickenden Jachtmasten, und etwas weiter weg, schon nicht mehr in Bulgarien, nach Ovid? Ach was. Verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer – leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Der Fisch ein verkokelter Witzfisch. Bulgarische Kunst im zwanzigsten Jahrhundert? Abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme. Die Architektur, sofern nicht Klöster, Moscheen oder Handelshäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert? Ein Verbrechen!

Meine Schwester schüttelt den Kopf. Nicht zum Widerspruch – sie hat mich ja nicht gehört –, nur wegen einer Mücke, die in ihr Haar geflogen ist und sich darin verfangen hat.

Wie immer kommt ihr Einwand zur rechten Zeit.

Oh, ich weiß! Weiß es im geheimen besser, kann mich aber nicht zügeln. Das Wort Bulgarien genügt, ein Reizwort, es erzeugt einen Anfall, und der schwemmt in der Sekunde alle Vernunft fort. Vaterhaß und Landhaß sind verquickt und werden auf vertrotzte Weise am Köcheln gehalten. Bulgarien? Vater? Ein Schnappmechanismus. Da helfen auch einzelne zartsinnige Bulgaren nicht, die uns durchaus schon begegnet sind und denen ich wiederum, kaum daß ich sie erblickte, mit einer fast irrsinnigen Euphorie entgegenflog. Solche Menschen rechnet der kindische Buchhalter in mir aber nicht den Bulgaren zu. Sie siedeln auf volksfreiem Gebiet, wo alle meine Lieblinge siedeln.

Was immer uns Rumen zeigt, meine Schwester quittiert es mit einem lieblichen Lächeln. Ich kenne dieses Lächeln genau. Meine Schwester setzt es auf, wenn sie im tiefsten Inneren angeödet ist. Es ist ein die Welt ihrer Lieblichkeit versicherndes Lächeln, das kommentarlos bleibt und keinerlei Anteil nimmt. Die trockene, in Zucker erstarrte Version ihres Lächelns. Insgeheim ist auch sie froh, wenn sie wieder mal feststellen kann, wie stumpfsinnig Bulgarien ist. Das weiß ich genau, obwohl meine Schwester viel zu höflich, viel zu vorsichtig ist, um ihrer Abneigung freien Lauf zu lassen. Das lächerliche Land beweist: uns ist kein wertvoller Vater weggestorben, sondern bloß ein alberner Bulgare. Wir haben keinen Verlust erlitten, sondern im Gegenteil Glück gehabt, denn die Zeit war zu knapp, als daß er uns mit seinem bulgarischen Hokuspokus hätte infizieren können. Der einzige Unterschied: meine Schwester verschließt diese Gedanken in sich und lächelt, lächelt immerzu, während ich Rumen auf die Palme bringe, indem ich wortreich das bulgarische Unglück zerpflücke.

Wir haben Bulgarien schon satt, bevor wir es richtig kennengelernt haben. Traurig, aber wahr, die bulgarische Sprache dünkt uns die abscheulichste von der Welt. So eine weichliche, plump vorwärtsplatzende Sprache, labiale Knaller, die nicht zünden wollen. Keinerlei Schärfe in den Konsonanten. Um Rumen zu ärgern, greife ich gern zu dem Trick, die benachbarten Rumänen zu loben. Wie angenehm Rumänisch in den Ohren klingt! Wie dunkelschwer und weltverloren. Jaja, es gereichte den Rumänen zum Vorteil, daß sich ihre slawische Art nach den romanischen Sprachen verzehrte. Und wie gut sie aussehen! Jawohl, sie sehen manchmal aus wie großgewachsene Römer. Und was für eine wunderbare schwarzmagische Literatur sie besitzen! Logisch, sie hatten Ovid zu Gast, sie hatten bedeutende Dissidenten und waren nicht samt und sonders solche sowjetischen Kriechlinge, wie die Bulgaren es waren. Die wenigen, die es nicht waren, hat man im Steinbruch von Lowetsch oder im Lager Belene erledigt.

Sobald er das Wort Rumänien aus meinem Mund hört, verzieht Rumen das Gesicht, als habe er Zahnschmerzen. Ich glaube, Nacht für Nacht mordet er mich im Traum, schnappt sich meine Schwester und verschleppt sie hinter einen bulgarischen Hügel.

Ein paarmal hab’ ich’s zu weit getrieben. Rumen hat inzwischen gelernt, wie man mich in Schach hält. Lobe ich die Rumänen, wird er scharf. Was, die Rumänen zivilisiert? Ha, kontert Rumen, ihr Lieblingssport war es, Juden in Schweineställe zu sperren und sie bei lebendigem Leib zu verbrennen. Und die bereuen nichts, gar nichts, deine herrlichen Rumänen, schreit er, und seine Stimme zittert vor Groll und Empörung.

Inzwischen dämmert es, und die Fahrbahn wird leer. Wir rollen durch eine schwach besiedelte Gegend. Leben da überhaupt Menschen? fragen wir uns, nachdem wir eine Viertelstunde durch hügeliges Land gefahren sind, und keine einzige Siedlung weit und breit. Nur die Esel- und Pferdekarren der Zigeuner, die hin und wieder am Straßenrand entlangtrotten, erzählen davon, daß irgendwo hinter den Hügeln Leute wohnen müssen, in irgendwie zusammengeworfenen Siedlungen mit schäbigen Läden, die notdürftig aus Brettern zusammengenagelt sind, falls es hinter den Hügeln überhaupt Läden gibt. Nichts, was das Fernweh anreizen, die Mär vom balkanischen Abenteuer beleben könnte. Arme Klepper, denen sich das Elend mit hartem Stift durchs Fell zeichnet, laufen nach der Peitsche, ihre Stirnen geschmückt mit roten Bommeln.

Diese lastende Dämmerung ist ein Vorposten der bulgarischen Nacht. Nachts schlafen die bulgarischen Berge wie große schwarze Tiere, und nur hie und da, weit entfernt, dringen Lichtpunkte aus morschen Häusern. Weil er weniger mit Lastwagen zu kämpfen hat, hängt Rumen jetzt lässig in seinem Sitz, eine brennende Zigarette im Mundwinkel.

Heute bin ich in besserer Stimmung, das Herumgefahrenwerden bekommt mir. Auch nehme ich gern mit der Rückbank vorlieb, weil ich mein Gift lieber von hinten einstreue. Außerdem würde es Rumen noch mehr ärgern, wenn ich neben ihm säße. Da er ein schlechter Autofahrer ist, könnte uns das ernstlich gefährden.

Bitte mich zu entbehren

Bitte mich zu entbehren, sagt der Vater. Eine schäumende Vaterwoge überspült das Wageninnere, im Gemüt ein gewaltiger Hopser, der das Autodach wegfliegen läßt, so daß wir momentweis unter dem blanken Himmel dahinfahren.

Bitte mich zu entbehren hat er noch nie gesagt, so höflich ist er uns noch nie abhanden gekommen. Der aschfahle Himmel bezeugt: er ist weg. Dubios bleibt, was für ein Vater das gerade gewesen sein soll. An seine Stimme kann ich mich nicht erinnern, meine Schwester ebensowenig, wir scheitern, wenn wir die Stimme unseres Vaters beschreiben sollen. Was für ein Deutsch er gesprochen hat? Ein gutes? Ein klares? Mit österreichischem Akzent, weil er es in Wien verfeinert hat? Sprach er von der Grammatik her einwandfrei? War sein Wortschatz groß oder eher mickrig? Wir wissen es nicht, obwohl wir es doch wissen müßten, denn ich war elf und meine Schwester dreizehn.

Ob er losplatzte beim Reden oder zögernd anfing, wir wissen es nicht. Ob er in Schleifen, gleichsam hinterrücks sich versichernd, sprach, wir wissen es nicht. Ob sich die Rede ruckend vorwärtsbewegte, ob glatt, ob schnell, ob lahm – keine Ahnung. Hatte er die Unart vieler Ausländer, das Sprechtempo zu beschleunigen, wenn er nicht mehr Herr über die Grammatik war? Und seine Stimme? Hoch, piepsig, kehlig, oder kam sie aus tiefer Brust? Der Chor der Schwärmerinnen, der uns früher umgab, will uns weismachen, unser Vater habe ein wunderbares, so wunderwunderbares Deutsch gesprochen, daß es ein Gedicht gewesen sei, ihm zu lauschen. Vor allem habe er so wunderbar gesungen, daß es wiederum nicht auszuhalten gewesen sei.

Wir haben uns angewöhnt, zu schweigen, wenn wir so etwas zu hören bekommen. Einer der seltenen Fälle, da meine Schwester auf ihr berühmtes Lächeln verzichtet. Gottlob, der Chor der Vaterschwärmerinnen hat sich inzwischen merklich gelichtet, es sind kaum noch welche am Leben, die ihn persönlich kannten. Jetzt ist es an uns, klarzustellen, wer unser Vater war. Als wir noch klein waren und mit fliegenden Rattenzöpfen durch den Garten sprangen, wurden wir von wildfremden Frauen beobachtet, die zu dem Schluß kamen, wir seien irgendwie kümmerlicher geraten als jener sagenhafte Orpheus, kaum wert, seine Töchter genannt zu werden. Jetzt fragt es aus uns zurück: ist dieser Kümmerling überhaupt wert, als unser Vater gelten zu dürfen?

Halten wir fest, daß unser Vater ein typischer Bulgare war. Ein typischer Bulgare ist stark behaart, hat perfekte weiße Zähne, ißt Knoblauch und wird steinalt. Im Falle unseres Vaters war das Haupthaar schwarz und dicht. Knoblauch aß er allerdings kaum. Der typische Bulgare behält sein Haupthaar auch im Alter, weiß wird es spät. Unser Vater hat aber die Altersprobe nicht bestanden, deshalb wissen wir diesbezüglich nichts Genaues. Nur, daß im Moment, da sein Freund einen letzten Blick auf ihn warf und ihm über den Kopf strich, die Haare büschelweise in der Hand zurückblieben.

Wo noch Haare? An den Möbeln hängen geblieben? Gab es Vatermöbel? Muttermöbel?

Auf hochflorigen Teppichböden schliefen die Möbel in scheuer Widersetzlichkeit. Blauer Teppich im Schlafzimmer der Eltern. Schleiflackmöbel. Eierschalenfarbener Teppich im Wohnzimmer. Unser Vater hatte das kleine rote Sofa im Balkonzimmer für sich gepachtet. Wenn er auf diesem Sofa saß, fühlte er sich sicher und kam anscheinend ohne Gemütsbewegung aus. Im Grunde beanspruchte er wenig umbauten Raum für sich. Nur Raum, groß genug, ihn mit seiner Traurigkeit zu füllen. Manchmal aber ging er gereizt im Balkonzimmer umher und bleckte die weißen Zähne. Im Innersten war er gewiß verkorkst. Kein Wunder, daß wenige Jahre nach seinem Tod eine auf dem Balkonzimmertisch in der Sonne liegende Batterie explodierte und ihre scheußlich riechende Chemie auf das rote Sofa ergoß.

Mit den Menschen, von denen er umgeben war, hielt er nur flüchtig Verbindung. Einmal jemanden scharf ansehen, ihn sich einprägen, das genügte, alles weitere durfte dann wieder unscharf werden. Er hatte immer ein Häubchen Schwermut auf dem Kopf. Sein inneres Dunkel hielt er für unvergleichlich. Und die Familie unterstützte ihn darin, oh, es grübelten die Familiensatelliten um die Wette über das unbegreifliche Dunkel einer bulgarischen Vater- und Mannesseele, von der die uns beklemmende wiederum ein besonders ungeheuerliches Exemplar war. Es leuchtete dies Dunkel in geniehafter Verworrenheit und Feinsinnigkeit. Warum bloß sah sich niemand den stumpfen Gesichtsausdruck des Mannes an und zog den Schluß, daß man’s – nein, nicht mit einem Künstlerwrack – mit einem verkommenen Arztwrack zu tun hatte?

Er wurde im Lauf der Jahre nicht abweisend und verdrießlich wie die meisten Väter unserer Schulkameradinnen. Wenn er seine ausgeleierte Weste aus dem Schrank holte, wußten wir, was kam. Es verlosch die Welt um ihn her, für zwei Monate, immer im Frühjahr, und wir waren dazu verdammt, mit ihr zu verlöschen. Geschleich um seine verschlossene Kammer, schüchternes Gepoch, zaghafte Frage, ob er etwas essen wolle, und keine Antwort. Öffnete man die Tür einen Spalt, schwoll etwas so Muffiges daraus hervor, daß man sie schnell wieder zumachte. Er lag auf seinem Sofa wie verwest.

Wir hofften, unsere Mutter, dieser sportliche Mensch, Skifahrerin, Bergsteigerin, Besitzerin eines Eispickels, würde die Tür aufreißen und ihrem Leichenmann ein paar schallende Ohrfeigen verpassen, ihn entweder damit wecken oder endgültig auf den Friedhof schicken oder ihm wenigstens die schreckliche Weste mit dem Mottenloch am Bauch abzwingen und sie verbrennen. Nichts dergleichen geschah. Wir hörten damit auf, an unsere Mutter sinnlose Hoffnungen zu verschwenden.

Muttermöbel gab es nicht. Was soll eine mit allen Fasern auf ihren Mann ausgerichtete Frau auch mit eigenen Möbeln anfangen. Wohl wahr, sie bestimmte, welche Möbel von welcher hochgeschätzten Firma ins Haus kamen, der Firma Schildknecht etwa, die in den sechziger Jahren vom Nimbus des Edlen, gut Verarbeiteten zehrte, bestimmte es aber immer nur für ihn, um ihn aufzuheitern, niemals für sich selbst.

Schleiflack! Hundert Gründe, an einer Schleiflackbücherwand sich den Kopf einzurennen! Schleiflackbücherwände, in denen Werke von Uwe Johnson, Max Frisch, James Baldwin und Albert Camus wie die lieben Soldaten aufgereiht stehen, rufen den Verwüstungstrieb auf den Plan. Eine Axt her! Eine Säge her! Seiten zerrupfen! Meine Schwester, diese unentwegte Traumwandlerin, geht allerdings an Schleiflackbücherwänden vorüber, als wären sie das Natürlichste von der Welt, selbst wenn darin auch noch verschließbare Elemente eingepaßt sind, Türchen mit Waffelmuster, Türchen mit Messingschlüsselchen, hinter denen der Cognac und dessen Schwenker, der Whiskey und dessen schwere Gläser ihr diskretes Leben führen.

Hätten unsere Eltern die Bücher von echten Trinkern zur Brust genommen – Lowry! Faulkner! Cheever! –, hätten sie vielleicht einen Bogen um die Firma Schildknecht und ihren Schleiflack gemacht. Doch nein, wo nach Unglück gesucht wird, da stellt sich’s auch prompt ein.

Unser Vater blieb in puncto Alkohol maßvoll. Als Kämpfer der Nacht brauchte er ihn nicht, er hörte aus Möbeln auch so heraus, was Menschen für gewöhnlich nicht hören, roch deren Verzweiflung. Die nächtlichen Drohungen waren am Tag zwar verklungen, in seinem Kopf aber hatte er ein Hörbeet herangezüchtet, von Sensorien bewachsen, die noch die feinsten und fernsten Schwingungen solcher Drohungen vernehmen konnten.

Wenn von feinem und feinstem Hören die Rede ist, denkt man da nicht unwillkürlich an Engel?

Ich bin versucht, den geschätzten Mitfahrern einen Vortrag in Sachen Engel zu halten. Wär’s im Gehäus des kleinen Daihatsu nicht so barbarisch laut, würde ich ihnen von den Engeln erzählen, die Gottes Thron am nächsten stehen. Ihr Gehör sei unfehlbar, wird behauptet. Auch in erlauchter Engelrunde, nicht nur um den singenden, die Leier schlagenden Orpheus, findet exzessives Lauschen statt. Gott meldet sich mal unwahrscheinlich leis, leiser als eine frisch geborene Amöbe (wir erraten’s nicht in hunderttausend Menschenjahren), mal so laut, als wäre da oben Vatertag ausgebrochen (laut dann, trommelfellzerfetzend laut für Menschlein aller Couleur).

Engel sind Wahrhalter, denke ich mit eigensinniger Kraft gegen den Daihatsu an, von den in Luftzügen schwebenden, driftenden, flatternden Wörtern müssen sie noch die winzigsten darein verfitzten Botschaftskörner vernehmen. Wer so intensiv hört, bis ins Innerste der Stille hinein, versteht vielleicht im eigentlichen Sinne nicht. Nehmen wir einmal an, Gott sage spezifisch. Da darf es in einem Engelhirn nicht allzulang rappeln, bis es alle möglichen Varianten von Spezi und Fisch samt den in der Bibel auftauchenden Fischvorkömmnissen überprüft hat und zu dem Schluß gekommen ist, daß Fische als Hering, Sardine, Thunfisch quasi nur im Nebenher, als fröhlicher Begleitschwarm durch die das Wörtlein tragende Luftmenge schwimmen.

Ein herzlich dummes Beispiel, ich weiß (und kassiere es sofort wieder ein. Vernachlässigt werden darf zwar das Problem vom wörtlich Wörtlichhören, aber nicht das Problem vom fehlenden Beweis, daß Gott klipp und klar Deutsch spricht. Oder Latein oder Griechisch oder Hebräisch. Ausgeschlossen werden kann aber Bulgarisch. Bulgarisch auf keinen Fall!).

Hehe, Schwester, bitte nicht so trübe. Ich denke an Engel, und du legst den Kopf auf die Seite und schläfst mir weg, nur weil es Abend und die Autobahn leer wird.

Sendboten, Schwester! Abendverkehr, Geflatter am Himmel. Signifikantenschwemme!

Sendboten sind dazu da, das göttliche Kauderwelsch auseinanderzunehmen. Sammeln, Sortieren, Begutachten, Gruppieren, Verbinden. Hören eben, was sonst. Die darin wie in Bernstein eingesiegelten Aufträge sind weiterzuleiten an alles, was Ohren hat. Selbst wenn sich im Hohen Willen ein Schwanken bemerkbar machen, der Hohe Wille gleichsam an sich selbst verzagen sollte. Ein Fehlhören darf nicht unterkommen. Die Botschaften müssen korrekt empfangen und korrekt überbracht werden.

In unserem Vater war die Leitung nach draußen verstopft. Er hörte ja nur in sich hinein für seine reichsunmittelbaren Zwecke. Aus welcher Gegend kam, was er hörte, danach wollen wir lieber nicht allzu genau fragen. Aus dem Darm, denke ich. Vom Herzen her, denkt meine Schwester, dieses romantische Miststück.

War die Praxis leer, war keiner mehr da, der sorglos um ihn herumlärmte, zeigte das Hörbeet, wozu es fähig war.

In seinem Hirn gab es Löcher, da hinein sprang eine finstere Phantasie. Hauchdünne Blätter aus Nichts begannen in seinem Kopf zu rauschen.

Gestern erst, Schwester, wach auf! Die Blättchen!

Gestern haben wir die hauchdünne Blätterkrone einer thrakischen Prinzessin im Museum von Sofia bewundert. Gewirkt aus Gold, fingernageldünn. Wechselweise haben wir uns die Freude daran rund um die Vitrine in Lidschlägen zugeblitzt. In unserer Erinnerung bleibt Gold Gold, es wird nur in immer zartere, phantastischere Blätter dünngezogen. Und so bleibt munter, immer munter, und richtet keinen Schaden an, was vom Kopfwunder der unbekannten Prinzessin in unsere Hirne gesprungen ist.

Wir sind nicht die Kinder unseres Vaters. Der Beweis? Unser Vater hätte solche Blätter paar Sekunden angestarrt, und im Handumdrehen hätten sie sich zu einem bedrohlichen Gespinst entwickelt. Nur scheinbar menschlichen Händen entwachsen, wären sie ihm zu Teufelswerk ausgewuchert. Insgeheim hätten die Blätter alsbald in seinem Kopf gerauscht oder, noch schlimmer, begonnen, sich um sein Haupt zu winden, es finster zu bekränzen. Lautlos wohlgemerkt. Blätterwinden und Blätterwickeln als immaterielle Machenschaft, erfunden – von wem? wieso? –, um einen einmetersiebenundsiebzig großen Bulgaren zu quälen.

Als ob das Zarte in etwas Sperriges, Klobiges sich verwandelte, sobald es Eingang in den Vaterkopf fand. Mit Wortschwallen, innerlichen nur, niemals lauten, kämpfte er dagegen an. Ohne Erfolg. Schon gar nicht konnten die in die Kampfzone geschickten Wörter dem Zweck dienen, die zutiefst lächerliche, ihm von einem unbekannten Feind angewunderte Dornenkrone vom Haupt zu streifen.

ANGEWUNDERT! hätte der Senatspräsident Daniel Paul Schreber geschrieen, das Wort hinausgedonnert und damit seinen Feinden gezeigt, daß er noch ein Mann ist.

Unser Vater sagte in solchen Fällen nichts. Keinen Pieps, nicht mal auf bulgarisch. Steckte in unserem Vater vielleicht ein Mädchen?

Wuselwusel, in seinem Kopf waren Ausbesserungsarbeiten im Gange. Wie rasant darin gearbeitet wurde, konnte man an den Rauchfahnen erkennen, die über den Schädelnähten aufstiegen, trotz der vielen Haare, die diese Nähte bedeckten. Jaja, neinnein, das ging her, das ging hin und nahm kein Ende.

Sein Haupt, wie gesagt, war von der Fülle der Schwärze bedeckt und ins Jenseits geschlungen.

Proponieren wir kühn, daß wir nicht von diesem Vater sind. Von der uns anbehaupteten Mutter auch nicht. Hundertprozentig nein. Erschlaffen des Denkvermögens allerdings, wenn wir uns nach einem in Frage kommenden Vater, nach einer in Frage kommenden Mutter umsehen. Zeus vielleicht? Eine unbefleckte Empfängnis? Neinnein, nicht der Frau – des Mannes! Infantil sei das, hören wir Spötter sagen, erbärmlich infantil. Wohl wahr, ein nicht richtiger Vater, eine nicht richtige Mutter sind die Garanten für dauerhaften Infantilismus. Man beachte aber die Energien, die unsere damals noch winzigen Beinchen antrieben, dem Irrgarten zu entkommen, worin So-là-là-Eltern, die sich für echte ausgaben, uns gefangenhielten.

Die Kindheit hat nichts an sich von einem Schatz, der zu bewahren wäre, wie immer behauptet wird. Im Herzen das pure Unvermögen, den puren Starrsinn im Kopf, so lallen die greisen Kindheitsbewahrer daher. Das Kindsein möglichst rasch hinter uns bringen wollten wir. Laufen lernen, so schnell wie möglich. Lesen, so schnell wie möglich. Rausrennen aus der Kindheit, uns rauslesen aus dem verlogenen Diminutiv, und nie mehr dahin zurück. Überhaupt je Kind gewesen zu sein ist uns heute peinlich. Jedes Jahr, mit welchem wir dem Alter entgegeneilen, ist uns kostbar, da es uns weiter von Kindelei, Kinderei, Kindschaft, kurz, von jener Idiotie trennt, die überall so hoch im Kurs steht.

Das Liebesstreben meiner Schwester begann mit fünf. Ihre Handflächen ans Gitter des Gartentores gepreßt, die Fingerchen darein gekrallt, schaute sie ihrem Liebsten zu. In unserer Straße waren Bauarbeiten im Gange. Nein, sie verliebte sich nicht in einen jener kleinen, zähen Italiener, die damals die schweren Boschhämmer ins Feld führten, sondern in einen Deutschen. Gäbe es ein ebenso prachtvolles Wort wie Blondine für einen Mann, er hätte solchen Ehrennamen verdient gehabt – Der Blonde oder Blondmann klingt wenig verlockend. Muskulöser Körper, Sonnenhaar, flirrendes Gold ums Haupt, wie’s die heldenschwärmenden Griechen so liebten, da stand der Mann in der Grube, und von seiner Schaufel flogen die Erdbatzen.

Indem sie sich gerade in diesen Schaufelwerfer verliebte, bewies meine Schwester früh einen Instinkt für die Macht. Er war kein gewöhnlicher Bauarbeiter, sondern der künftige Chef der Firma Epple, ihr erstgeborener Sohn, der in der Wurmlingerstraße seine Lehrzeit absolvierte.

Meine Schwester störte sich auch nicht an den verschiedenen Altersmengen, die da in liebenden Chemiewölkchen durch unsere Straße trieben. Daß zwischen fünf und fünfundzwanzig ein Unterschied sei, behaupten nur die Geschlechtspedanten. Keine Ahnung haben sie vom fliegenden Zeitritt der Liebe. Meine Schwester bezog (in flotter Vorwegnahme, sie kannte Homer damals noch nicht) den Spruch des griechischen Erzählvaters sie dünket mich nicht sterblicher Menschen Tochter sein, sondern Gottes auf sich, und damit war alles möglich und alles erlaubt.

Nur ich störte sie. Aus Eifersucht? Meine sonst so geduldige Schwester fackelte nicht lang und biß mich vom Tor weg.

Fleisch!

Große einsame Kabeltrommeln am Weg. Viel Stille im Hinterland. Rumen ist vergnügt, klopft zu einer nur ihm bekannten Melodie ans Lenkrad. Um seinen Wirbel stehen die Haare jetzt lustig. In zwanzig Minuten etwa sind wir in Veliko Tarnovo. Keine Spur mehr davon, daß sich in diesem Wagen irgendwer über irgendwen ärgert.

Aber da kommt noch ein Hindernis. Blaulicht überall, eine Absperrung. Ein Kühltransporter mit einem Gewimmel von Polizisten drum herum. Wir werden vorbeigewunken, erkennen nicht, was los ist. Nach einem Unfall sieht es jedenfalls nicht aus.

Das große, häßliche Ding am Abendhimmel, langgezogen wie verschmierter Dreck, ist doch nicht etwa unser Vater? Rotrand am Horizont, darüber sich aufbauendes, immer dichter nachrückendes Blaudunkel, und direkt über uns dieser ausgewalzte Dreck. Warum hier derartig ausgiebig vom Vater die Rede ist, und gleich so übertrieben niederträchtig? Jahrelang haben wir nicht mehr von ihm gesprochen, jahrelang hat er uns, wenn überhaupt, allenfalls im geheimen belästigt – ein verblichener Held aus einer verschwommenen Geschichte. Und kaum mehr was da von ihm. Nicht mal ein Schädel. Die menschliche Materie, in der er einst umherging, besteht nur noch aus zerworfenen Krümeln.

Stimmt doch, Schwester – ein Häufchen Granulat aus schockgefrorenen, auseinandergerüttelten Schädel- und Beinkrümeln, etwa so viel an Menge, wie bequem in ein Weckglas zu füllen wäre. Natürlich bleibt von meiner Schwester die Bestätigung, oder was man dafür nehmen könnte, wieder mal aus. Ihre zusammengefaltete Jacke am Fenster mit dem darauf gesunkenen Kopf sagt mir, daß sie am Wegdämmern ist, einfach die Schlafhäute über die Augen gezogen hat – weil so viel freie Autobahn vor uns liegt, nichts als von wenigen, ausnahmsweise friedlich gestimmten Lenkern befahrene, geradewegs in den Abendhimmel führende Autobahn.

Jetzt ist aber eine Erklärung fällig: welcher Dämon treibt uns, die wir das Land des Vaters wortstark verabscheuen, längs und quer darin herumzufahren wie brave, pietätvolle Christinnen? Geld, Geld, Geld. Siebzigtausend Euro, fünfunddreißigtausend pro Kopf, um genau zu sein. Und eine wahnwitzige Idee dahinter, nicht unseren Hirnen entsprungen, sondern dem unglaublichen eines Achtundachtzigjährigen. Als unser Vater noch am Leben war, war der ihm kein Freund gewesen, nur ein Kumpan in der Not, einer von den neunzehn Notnägeln in der allgemeinen Landeseinsamkeit der Stuttgarter Emigranten.

Für diese blumen- und dornenreiche Geschichte müssen wir einen Schlenker machen, zurück ins Jahr 45, etwas davor und kurz danach. Zwanzig Bulgaren, darunter ein Pope und nur eine einzige Frau, waren ins Schwabenland gekommen, nach Stuttgart. Die Männer schnappten sich die erstbeste Blondine, deren sie habhaft werden konnten, und setzten sich fest. Ihre sozialen Herkünfte, politischen Motive, die Kriegserlebnisse waren grundverschieden, verschieden auch der Grad an Faszination oder Widerwille, den sie gegenüber den deutschen Mordbrüdern an den Tag gelegt hatten. Immerhin, man war ja während zweier Weltkriege mit den Deutschen verbündet gewesen, und zum Dank hatten die Deutschen sich Mühe gegeben, bei den Bulgaren nicht auf ein slawisches Mindervolk zu erkennen, sondern in ihnen ein höheres, arisch versetztes Hybridvolk zu sehen, den Russen weit überlegen. Was sie aber nicht davon abhielt, bei unserem Vater Schädelvermessungen vorzunehmen, als er in Tübingen Medizin studierte.

Zur halben Ehrenrettung unseres ansonsten nicht zu rettenden Vaters sei erwähnt, daß er es nach dem Krieg mit Willy Brandt hielt, als dieser noch höhnisch Frahm genannt wurde. Er galt deshalb unter den meist inmitten der CDU angesiedelten Bulgaren als Linker, wiewohl als ein Feind Stalins. Meine Schwester und ich, Pessimistinnen von der unnachgiebigen Sorte, glauben an die Blütenreinheit unseres Vaters nicht, glauben in Ermangelung eindeutiger Beweise an gar nichts, weder an Gutes noch an Schlechtes, und überlassen den Richtspruch der Hohen Gewalt, die auch uns einmal zu wissen geben wird, wer wir sind und was wir sind. Wobei meine Schwester sich Hoffnungen auf ein mildes Urteil machen darf, ich mich auf ein härteres gefaßt machen muß, soviel ist jetzt schon klar.

Was war mit dem bulgarischen Kumpel unseres Vaters, dem heute Achtundachtzigjährigen, nicht Freund, nicht Feind? Für einen undurchsichtigen Gesellen wurde er gehalten, für einen Mann mit politischen Beziehungen nach allen Seiten. Ein Photo in unserem Besitz zeigt ihn mit vier auf dem Boden lümmelnden, locker aneinandergelehnten Burschen, einer von ihnen unser Vater, rechts außen, nicht ganz dazugehörend, Tabakoff. Das Gesicht ein Gesicht, das man sofort wieder vergißt. Schön daran vielleicht die Locken, die ihm über die rechte Stirnseite fielen, die aber, sobald sein Geschäft gedieh, nicht mehr an ihm gesehen wurden. Wir kennen Tabakoff nur mit kurzgeschorenem Dachshaar.

Unzweifelhaft besaß er einen genialen Geldsinn, der ihm eingab, sich mit dem sowjetophilen Regime in Bulgarien zu verfädeln und einen schwunghaften Export-Import-Handel aufzuziehen. Womit da genau gehandelt wurde, wissen wir nicht. Sonnenblumenkerne allein können es nicht gewesen sein. Mit Sonnenblumenkernen und Schafskäse ist kein Vermögen zu erwirtschaften, das allmählich die Millionenzahl überstieg und heute die Milliardengrenze überschritten hat.

Trotzdem kann Alexander Iwailo Tabakoff nicht für einen glücklichen Mann gelten. Er mag es in jungen Jahren gewesen sein, als er sich in die für ihn bestimmte Blondine verliebte – ein Prachtexemplar, das er da zu fassen kriegte! Von sprudeligem Charme, das kräftige Haar zu Dauerwellen gedreht, klackernde, rasselnde Goldglieder mit Glücksanhängern um den Arm, ein Mund, den alle bulgarischen Männer zu küssen begehrten, wiewohl eine penibel antrainierte Damenhaftigkeit solche Begehrlichkeiten schmollend zurückwies.

Als Kinder waren wir von ihr begeistert, drückten uns immer in ihrer Nähe herum, schmeichelten ihr. Die Frau roch gut; neben ihr kam alles, was lebte, zu seinem Recht. Sie besaß eine Leibesgenerosität, die wir an unserer Mutter vermißten.

Alexander Iwailo Tabakoff heiratete eine Frau mit hollywoodesken Qualitäten, eine Kreuzung aus der Monroe und Vera Brühne, allerdings mit einem erzschwäbischen Zungenschlag behaftet, für Eingeweihte kenntlich als einer aus dem Stuttgarter Osten. Diese Herkunft und dicke Fesseln, unter denen sie ein Leben lang litt, verhinderten, daß Lilo Wehrle in Hollywood ihr Glück machte. Statt dessen heiratete sie einen vielversprechenden Bulgaren und gebar ihm einen Sohn. An diesen Sohn erinnern wir uns kaum. Nur, daß er mit sechs Jahren an einer Hirnhautentzündung starb. Böse Zungen behaupteten, er sei aus Ermattung gestorben, weil das rasend in ihn verliebte, rasend ehrgeizige Elternpaar ihm die Lebensgeister ausgesaugt habe. Der folgende Wurf war jedenfalls ein unglücklicher und machte den Schaden nicht wett: eine Tochter.

Eine echte Hiobsgeburt! Ihr einziger Erdenzweck schien darin zu bestehen, die Eltern zu quälen. Faul, verlogen, mißmutig, von oberflächlicher Hübschheit, entwickelte sich das launische Kind zu einem üblen Teenager, später zu einer ordinären Frau, von der nach vier gescheiterten Ehen nicht viel blieb als ein wilder Haufen Haß, Rachsucht, Gier und wiederum ein Sohn, den sie den Eltern als Lockmittel präsentierte, um ihn dann aber schnell wieder fortzuschaffen oder schlicht Geld zu verlangen, begehrten die Eltern ihren Enkel zu sehen. Was für eine schaurige Rechnung da beglichen werden mußte, wir wissen es nicht und wollen es auch gar nicht wissen.

Die einst so leibgeniale Mutter landete mit sechzig im Grab. Der Vater sah keinen Ausweg, als auf Tochter und Enkel ganz zu verzichten, und zog sich verbittert nach Florida zurück. Wie er dort lebte, ob einsam, ob in Gesellschaft fröhlicher Amerikanerinnen, blieb unbekannt. Jedenfalls tauchte er vor ungefähr anderthalb Jahren wieder in Stuttgart auf, mit einem Plan im Kopf, einem von der Sorte, den man nachts entwickelt und am Tag wieder vergißt. Kein Mensch traute ihm zu, daß er ihn je würde zur Ausführung bringen können.

Da sind wir, sagt Rumen und zeigt auf die Mauerreste einer Burganlage, von Scheinwerfern wechselweise rot, blau, grün, gelb angestrahlt und wie die Kulisse einer Geisterbahn in den zugedunkelten Himmel gestellt. Die Stadt, in die wir hineinfahren, scheint in zwei Teile zu zerfallen, unten ein Gürtel aus verwahrlosten Hochbauten, oben der ältere Teil mit bröckeligen Ziegeldächern.

Meine Schwester ist aufgewacht, emporgereckt der schmale Kopf mit dem rebhuhnfarbenen Haar. Oh, ruft sie, wie hübsch! Das überbewegliche Köpfchen dreht sich nach den Seiten, als gäbe es wunder was zu entdecken. Sie lobt Rumen, tätschelt ihm den Arm und wirkt mit einem Male aufgekratzt, als wären wir jung und würden bei der Einfahrt in eine französische Kleinstadt unsere erste Gauloise rauchen. Mit fliegendem Haar dreht sie sich zu mir herum, die haselnußbraunen Augen sprühen vor Vergnügen: Na? Was sagt die Hinterbank?

Veliko Tarnovo, sagt die Hinterbank pedantisch, als müsse jemand hier unbedingt klarstellen, daß wir uns nicht in Avignon befinden. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, Veliko Tarnovo übel zu finden, ist es nicht ganz so übel wie gedacht. In Kurven und Kehren geht es den Hügel hinauf, und ja, das hat was, zumindest bei Nacht, wenn die Verkommenheit in ein gnädiges Ungefähr zurückweicht.