Die Pausenklingel schrillte laut durch das Schulgebäude. Augenblicklich sprangen in der Klasse 3b zweiundzwanzig Kinder aus ihren Bänken, packten ihre Bücher und Hefte in aller Eile zusammen und stürmten lärmend aus dem Klassenzimmer. Endlich war die letzte Schulstunde vorbei, die Freizeit mit Spiel, Sport und Spaß lockte. Etwas verloren saß ein kleiner blonder Junge in der vorletzten Bank. Langsam räumte er seine Schulsachen zusammen und verstaute sie in seinem Ranzen. Sein Gesicht war blaß, Freude über den Schulschluß war darin wirklich nicht zu erkennen. Mit ganz schleppenden Schritten verließ er nach der Lehrerin das Klassenzimmer und beugte sich tief übers Treppengeländer. Im Erdgeschoß der Schule drängten noch viele Kinder zum Schultor.
»Na, Felix, bist du wieder Bummelletzter?« fragte die Lehrerin, Frau Wundke, und eilte an ihm vorbei ins Lehrerzimmer.
Felix antwortete nicht. Was sollte die Lehrerin auch anderes von ihm denken, als daß er wieder träumte, die Zeit um sich vergaß, selten seine Aufgaben und offensichtlich nie pünktlich den Weg nach Hause schaffte. Darüber hatte die Lehrerin mit Felix’ Mutter zum Elternabend gesprochen, und das hatte die Mutter Felix wohl zum hundertsten Male vorgehalten. Und immer hörte er ihre ungeduldige Stimme: »Felix, träume nicht! Felix mach endlich deine Hausaufgaben! Felix, wo hast du dich schon wieder herumgetrieben? Felix, du bist ein Nichtsnutz!«
Ja, Felix wußte, daß die Mutter mit den beiden kleineren Geschwistern genug zu tun hatte und sich nicht noch um seine Probleme kümmern konnte. Nur alle vier Wochen kam der Vater von der Montage nach Hause. Dann war er müde, und der Lärm der Kinder ging ihm auf die Nerven. Felix sehnte sich danach, mit seinem Vater einmal über die Wiese im Park zu toben, mit ihm Fußball zu spielen oder einfach ein Gespräch zu führen. Doch immer, wenn Felix seinen Vater um etwas Zeit bat, winkte dieser ab.
»Laß mich in Ruhe, Junge. Ich muß mich von meiner schweren Arbeit ausruhen. Kannst du dich nicht selbst beschäftigen?« Dann griff er zur Bierflasche, setzte sich vor den Fernseher und nahm die Welt um sich herum nicht mehr wahr. Und dann nahm Felix seinen Fußball, trottete auf die Straße und spielte allein. Und wenn er andere Kinder sah, dann beeilte er sich zu verschwinden.
So wie jetzt. Er blickte sich unsicher um, dann schlüpfte er durchs Schultor. Er wußte genau, daß die Jungs aus der fünften Klasse am Hoftor standen. Felix konnte nicht hoffen, daß sie gehen würden, denn sie warteten auf Felix. Doch es waren nicht die Freunde, mit denen er den Nachmittag hätte verbringen können, mit denen er Fußball spielen oder auf der Wiese im Park Drachen steigen lassen konnte. Diese großen Jungen aus der fünften Klasse suchten einen Spaß ganz besonderer Art, einen Spaß, der auf Felix’ Kosten ging. Mit ihm konnten die Jungs das machen, denn Felix war klein und zart, er wehrte sich nicht, konnte ihnen auch nicht entkommen, weil er nicht schnell genug rennen konnte.
»He, Felix, komm her, wir haben dich gesehen!« riefen sie. Felix preßte sich hinter die Steinsäule, die das Schultor flankierte, doch es nützte ihm nichts, es gab keinen anderen Weg als über den Hof zum Tor. Und dort standen die großen Jungs. Zögernd lief Felix los, und er wußte, daß ihn wieder eine besondere Gemeinheit erwartete.
»Felix, was hast du denn in deinem Beutel?«
Felix preßte den Turnbeutel an seinen Körper. »Nichts«, sagte er leise.
»Er ist aber ganz schön dick für nichts!« höhnte einer der Jungen und zerrte am Beutel. »Ist da vielleicht Wind drin?«
»Ja, Wind aus seinem Hinterteil!« schrie Thilo, und sie brüllten laut vor Lachen. Sie hielten Felix am Ranzen fest, damit der lange Sebastian ihm den Turnbeutel entwenden konnte.
»Gib ihn her!« rief Felix und streckte die Arme aus. Sebastian hielt den Beutel hoch und griente, weil Felix’ Gesicht puterrot anlief. Die anderen hielten ihn immer noch am Ranzen fest und zerrten ihn zurück, sobald er den Beutel greifen wollte.
»Sagte ich es nicht, hier ist was Stinkendes drin!« schrie Sebastian, zog einen Turnschuh heraus und hielt sich demonstrativ die Nase zu. »Ein Stück Käse und noch ein Stück Käse!« Er hielt die Turnschuhe vor Felix’ Augen. »Wann hast du dir das letzte Mal die Füße gewaschen?«
Wieder lachten die anderen, und Felix spürte die heiße Röte auf seinen Wangen brennen. Ohnmächtig kämpfte er gegen die Tränen an.
»Diese alten Käsemauken müssen gründlich gelüftet werden«, höhnte Sebastian weiter und warf die Turnschuhe mit geübtem Schwung in die Krone eines hohen Kirschbaumes, wo sie in den Zweigen hängenblieben.
»Dort haben sie gute Luft. Vergiß nur nicht, sie bis zur nächsten Sportstunde wieder herunter zu holen, sonst legt noch ein Vogel ein Ei hinein.«
»Das wird dann ein faules Ei vom Gestank«, schrie Marco, und wieder grölten sie. Sie schleuderten Felix an seinem Ranzen noch ein wenig im Kreis herum und stießen ihn dann unsanft gegen den Zaun.
»Viel Spaß beim Klettern, das ist doch das Richtige für dich, du Affe!« Lachend und sich gegenseitig übermütig schubsend gingen die Jungs weiter und kümmerten sich nicht mehr um Felix. Der atmete auf. Diesmal war es ja noch glimpflich abgegangen. Nun mußte er zusehen, wie er seine Schuhe wieder von dem Kirschbaum herunter bekam. Ausgerechnet in den Garten des alten Herrn Knipsel haben sie die Schuhe geworfen! Herr Knipsel war dafür bekannt, daß er keine Kinder mochte und sehr unleidlich war. Ängstlich blickte sich Felix um. Dann setzte er seinen Ranzen ab, kletterte auf den Holzzaun und angelte nach dem untersten Ast des Kirschbaums. Felix war klein, und nur mit Mühe konnte er sich hinaufziehen. Doch die Schuhe hingen noch ein ganzes Stück höher. Mit schlotternden Knien kletterte Felix auf den dünnen Ästen des Baumes nach oben. Er wagte nicht hinunter zu sehen.
»Was machst du auf dem Baum?« hörte er plötzlich die krächzende Stimme von Herrn Knipsel. In Panik klammerte sich Felix an den Stamm des Baumes und preßte die Augen zu. Der alte Mann hatte drohend die Arme erhoben und schlug mit einem Besen nach Felix.
»Scher dich herunter, du Lümmel! Na warte, ich werde dich schon holen.« Er lief davon, um eine Leiter zu holen.
Heftige Schluchzer schüttelten Felix’ kleinen Körper durch. Hastig tastete er mit dem Fuß nach einem tieferen Ast, rutschte am Stamm hinunter. Seine Handflächen rissen auf, Blut und Schmutz beschmierten sein Hemd. Sein Fuß verfehlte den nächsten Ast, und mit einem Aufschrei landete Felix auf der Wiese. Sein Gesäß und das linke Bein taten höllisch weh, aber noch mehr Angst hatte er vor Herrn Knipsel. Eilig kletterte Felix über den Zaun auf die Straße, packte seinen Ranzen und rannte davon. Erst kurz vor seiner Haustür hielt er keuchend an. Er blickte an sich herunter. In seine Hose war eine Dreiangel gerissen, sein Hemd war schmutzig und voll Blut und die Turnschuhe hingen immer noch auf dem Kirschbaum. Wie sollte er so seiner Mutter unter die Augen treten? Es würde ein furchtbares Donnerwetter geben.
Leise drückte er die Klinke der Wohnungstür herunter und lauschte. Aus der Küche hörte er das Geplärr seiner kleinen Schwester Meike und Mutters gereizte Stimme. Auf Zehenspitzen schlich sich Felix in das Kinderzimmer, zog schnell Hemd und Hose herunter und stopfte sie unter die Matratze seines Bettes. Er nahm frische Kleidung aus dem Schrank und zog sich wieder an. Auf Strümpfen schlüpfte er ins Bad und wusch sich Schmutz und verkrustetes Blut von den Armen und aus dem Gesicht. Erst dann ging er in die Küche.
»Kommt der Herr auch schon nach Hause?« fragte seine Mutter, ohne sich umzublicken. »Da, dein Essen ist schon kalt. Ich kann natürlich nicht so lange warten, bis du dich bequemst, nach Hause zu kommen.« Sie schob Meike, die in ihrem Kinderstühlchen zappelte, einen Löffel mit Möhrenbrei in den Mund, den sie sofort wieder ausspuckte. Sie streckte die Ärmchen ihrem Bruder entgegen.
»Feksi, Feksi!«
»Nichts da, jetzt wird gegessen und dann gehst du ins Bett«, sagte die Mutter und wischte den Möhrenbrei vom Tisch. Meike fing an zu weinen, aus ihrem offenen Mund tropfte mit Speichel vermischter Möhrenbrei auf ihr Lätzchen.
»Felix, iß jetzt. Dort liegt der Einkaufszettel, das mußt du alles besorgen. Und beeil dich ein bißchen, Meike muß ins Bett, und im Bad liegt noch ein Berg schmutziger Wäsche. Wenn Meike ausgeschlafen hat, hole ich Vicky aus dem Kindergarten ab. Hoffentlich hast du nicht so viel Hausaufgaben auf, du sollst dann noch in die Reinigung, meinen Wintermantel abholen. Warum sagst du nichts, Felix? Hast du wieder etwas angestellt? Oder eine schlechte Note bekommen?«
Felix schüttelte den Kopf und stopfte den kalten Kartoffelbrei in den Mund, um nicht antworten zu müssen. Es war alles schon schlimm genug.
*
Dr. Karin Illinger nahm einen Holzspatel in die rechte Hand und beugte sich zu ihrer kleinen Patientin vor.
»Jetzt machst du mal bitte den Mund ganz weit auf und streckst mir die Zunge heraus«, sagte sie lächelnd. »Bei mir darfst du das.«
Das kleine Mädchen lachte, und ihre Ängstlichkeit, mit der sie die Kinderärztin bisher beäugt hatte, war verschwunden. Dann öffnete sie gehorsam den Mund.
»Du bist ja ganz rot im Hals, das kratzt bestimmt ganz toll«, meinte sie. »Dann mußt du deine Medizin schlucken, die hilft dir bestimmt. Und in drei Tagen kannst du wieder in den Kindergarten und mit deinen Freunden spielen. Doch bis dahin bleibst du besser zu Hause im Bett, damit es nicht noch schlimmer wird.« Sie reichte der Mutter des Mädchens ein Rezept. »Es ist ein kleiner Infekt, nicht schlimm«, beruhigte sie die Frau.
Als die Mutter mit dem Kind die Praxis verlassen hatte, seufzte Karin Illinger auf. »So, das war der letzte Patient«, sagte sie zu ihrer Sprechstundenhilfe. »Das war wirklich ein langer Tag.«
»Nicht ganz«, widersprach die Schwester. »Draußen sitzt noch jemand.«
»So?« wunderte sich die Kinderärztin. »Ein Notfall?«
»Sieht fast so aus«, schmunzelte die Schwester.
Neugierig streckte Karin den Kopf durch die Tür zum Wartezimmer. Ein großgewachsener junger Mann spielte selbstvergessen mit einem Plastikauto. Vorsichtig schlich sich Karin an ihn heran und umschlang seinen Hals.
»Mein letzter Patient bekommt alle Spritzen, die übrig geblieben sind«, sagte sie.
Der junge Mann fuhr lachend herum und zog Karin an sich. »Aber für jede Spritze möchte ich einen Kuß«, sagte er.
»Das ist ein Kuhhandel«, erwiderte sie. »Einen Kuß gibt es gratis.« Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. »Ich bin gleich fertig. Schwester Angelika macht noch die Abrechnung fertig, die Medikamentenbestellung habe ich zum Glück bereits heute früh erledigt. Gehen wir heute abend ins Konzert? Es soll noch Restkarten geben?«
Fragend blickte sie ihn an. Der Mann seufzte und erhob sich. Erst jetzt sah man seine athletische Gestalt, die blauen Augen, die jungenhaft in seinem zart gebräunten Gesicht unter dem dunkelblonden Haar blitzten.
»Karin, du weißt doch, daß es nicht geht. Heute abend habe ich noch zwei Trainingstunden. Ich kann sie nicht vor der Tür stehen lassen!«
Enttäuscht wandte sich Karin Illinger ab. Wie hätte sie auch denken können, daß sie Frank Meißner mal einen Abend für sich allein haben könnte. Der junge Mann bemerkte ihre Verstimmung.
»Karin, nun zieh doch bitte nicht so ein Gesicht. Ich habe bis neunzehn Uhr frei, wir könnten ins Kino gehen und anschließend in ein Café. Und am Freitagabend habe ich Zeit für dich.«
»Von Freitag bis Montag habe ich Bereitschaft im Kinderkrankenhaus, da habe ich keine Zeit. Ach, Frank, die täglichen Sprechstunden, Bereitschaftsdienst, Dienstag und Donnerstag Operationen. Wann haben wir eigentlich mal Zeit füreinander?«
Frank Meißner zog sie zu sich heran. »Du weißt doch, daß ich Verständnis für deine verantwortungsvolle Arbeit habe. Glaubst du, mir fällt es leicht, daß wir uns kaum sehen? Meine Arbeit bringt es nun mal mit sich, daß ich meist vormittags frei habe und nachmittags und abends die Trainingsgruppen leite. Schließlich sind die meisten meiner Schüler berufstätig.«
Ein wenig brüsk wandte sich Karin ab und schwieg.
»Ja, ich weiß ganz genau, daß meine Arbeit in deinen Augen keine Arbeit ist«, sagte er ein wenig verbittert.