Cover

Über dieses Buch:

Maren hat sich verliebt. Ausgerechnet in einen Völkerkundler! Das kann nicht gut gehen - schließlich ist sein Spezialgebiet das menschliche Paarungsverhalten … Währenddessen hat Günter ganz andere Probleme: Erst wird er von seiner Freundin verlassen und dann stellt sich heraus, dass sie noch mehr als eine Rechnung mit ihm begleichen will … Wenn von der großen Liebe nur ein gebrochenes Herz bleibt, wird es spannend – denn dann beginnen starke Frauen mit Liebreiz, Humor und scharfen Waffen zurückzuschlagen!

 

      Charmante, gefährliche und immer höchst amüsante Geschichten von der Bestsellerautorin Annemarie Schoenle – ein Vergnügen für Kopf, Herz und Seele.


Über die Autorin:

Die Romane Annemarie Schoenles werden millionenfach gelesen, zudem ist sie eine der begehrtesten Drehbuchautorinnen Deutschlands (u. a. Grimme-Preis). Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von München.

Bei dotbooks erschienen bereits Annemarie Schoenles Romane »Frauen lügen besser«, »Frühstück zu viert«, »Verdammt, er liebt mich«, »Nur eine kleine Affäre«, »Du gehörst mir«, »Eine ungehorsame Frau«, »Ringelblume sucht Löwenzahn«, »Ich habe nein gesagt«, »Familie ist was Wunderbares«, »Abends nur noch Mondschein« und die Sammelbände »Frauen lügen besser & Nur eine kleine Affäre« »Ringelblume sucht Löwenzahn & Abends nur noch Mondschein« sowie die Erzählbände »Die Rache kommt im Minirock«, »Die Luft ist wie Champagner«, »Das Leben ist ein Blumenstrauß«, »Dreitagebart trifft Minirock«, »Tanz im Regen« und »Zuckerherz und Liebesapfel«.

Die Website der Autorin: www.annemarieschoenle.de

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2013

Dieses Buch erschien bereits 1995 unter dem Titel »Rache und was sonst noch zählt« bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Originalausgabe 1995 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München, unter Verwendung von Fotolia.com/milovelen

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-924-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Der Teufel steckt im Stöckelschuh« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Annemarie Schoenle

Der Teufel steckt im Stöckelschuh

Charmante Geschichten

dotbooks.

Die Aufziehpuppe

Manchmal, wenn sie ihrer Mutter oder Tante Amy gegenübersaß, erinnerte sie sich an die Puppe, die Vater ihr zum achten oder neunten Geburtstag geschenkt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie die Schachtel aufriss und auf die hässliche Zelluloidpuppe starrte und wie Mutter rief: »Sieh nur, Erica, man kann sie aufziehen, Gott, was für ein kitschiges Ding!«

Sie hatten die Puppe aufgezogen und auf ein schräg liegendes Brett gestellt, und die Puppe lief auf steifen Beinen das Brett hinunter bis zum Boden, tak-tak-tak, der Schlüssel, der wie ein kleines Messer in ihrem Rücken stak, drehte sich langsam, und als sie den Boden erreichte, fiel sie um, die porzellanblauen dummen Augen nach oben gerichtet.

»Typisch«, sagte Ericas Mutter und warf Amy einen bedeutsamen Blick zu, »das ganze Jahr lässt er nichts von sich hören, und dann das! Eine Zelluloidpuppe von Woolworth!«

Sie hatte die Schachtel mit der Puppe in ihrem Spielschrank versteckt und hatte sich geschämt, dass Vater so wenig Geld besaß und bei Woolworth kaufte, doch nachts, wenn sie sich einsam fühlte und die leisen Stimmen von Amy und Mutter aus dem Wohnzimmer drangen, holte sie die Puppe hervor, zog sie auf und ließ sie über den Teppich stolpern. Dann stellte sie sich vor, dass Vater zurückkehrte und Tante Amy aus dem Haus jagte und die Jungs verprügelte, die sich über sie in der Schule lustig machten und hinter ihrem Rücken erzählten, im Haus am Glockenbach spuke es und Mutter und Amy würden leben wie ein Ehepaar.

Das Haus am Glockenbach ... Es schauderte sie, wenn sie es sich, an ihrem Schreibtisch sitzend, vorstellte: rechteckig wie ein Sarg, ein großer dunkler Klotz, in dessen bemoosten Mauern Efeu und Immergrün zähe Wurzeln schlugen und Dutzende von Spinnen und kleine Fliegen in die Zimmer lockten. Wie oft schon hatte sie das Haus verlassen wollen, doch es hatte sie umgarnt und festgehalten, als hätte sich die im Mondlicht blinkende Fensterfront mit den im Wind singenden Blättern zu einem undurchdringlichen Netz verknüpft, als nähmen es die Spinnen und Fliegen endgültig in ihren Besitz und lähmten sie, Mutter und Amy mit dem Gift einer alles überwuchernden Trägheit. Ihre Freundinnen hatten geheiratet, Kinder geboren, sie hatten sich scheiden lassen, hatten sich Liebhaber genommen, hatten wieder geheiratet. Sie hatten gelebt, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr, während es sich für sie nicht lohnte, ihre Tage in Stunden und die Jahre in Monate aufzuteilen, weil sie sich im Geflecht ihrer Resignation und ihres Hasses immer mehr verstrickte. Manchmal malte sie sich aus, wie sie Vaters Puppe nahm und am Schlüssel drehte, bis die Feder im Inneren zerbrach, wie sie die Treppen zu Amys Zimmer hinaufstieg und die Bremsen des Rollstuhls löste, wie sie dem Stuhl einen Tritt gab, einen kräftigen, hasserfüllten, befreienden Tritt, und wie sie Mutter an Amys Grab allein zurückließ, ihre Koffer packte und zu Tony ging. Immer, wenn sie sich mit diesen Koffern das Haus verlassen sah, bäumten sich ihre Träume auf, und Mutters Gesicht schwebte wie ein zarter Mond im Zimmer, mit einer pergamentdünnen, rosafarbenen Haut, schmalen, sanft geschwungenen Lippen und mit Augenbrauen, die wie erschrockene Schmetterlingsflügel in die Stirn fuhren. Grauenvolle Leere erfüllte sie dann, die ihr die Brust abschnürte und alles Leben in ihr versickern ließ. Und sie schlich sich in die Küche und schnitt dicke Scheiben vom frischen Brotlaib ab, bestrich sie mit Butter und Marmelade, rot wie Blut, und stopfte sich das Brot so gierig in den Mund, als hätte sie seit Stunden gehungert. Dann lief sie zum Spiegel und betrachtete diesen Mund mit seiner rissigen Haut, die matten Augen, die haarfeinen Linien auf ihrer Stirn, und sie schwor sich, ein neues Leben zu beginnen, ihr Leben, gleich, sofort. Am nächsten Morgen holte sie den enganliegenden Pullover, den Mutter nicht leiden konnte, aus dem Schrank, aß ein Schüsselchen Vollkornmus und trank dazu Orangensaft. Ihre Mutter stand am Fenster oder am Tisch, die Augen wachsam, sie nahm ihren Stock, suchte sich mühsam den Weg zum Flur, Erica hörte das Klicken des Telefons und Mutters zarte Stimme, die voll Wärme mit Elli oder Berte oder Amanda telefonierte. Ja, ja, ich sag' es doch! Sie ist eine Mustertochter. Seit Amy im Rollstuhl sitzt und ich diese scheußlichen Gichtanfälle habe, tut sie alles, um uns das Leben zu erleichtern. Denkt nie an sich. Nicht wie ihr verrückter Vater ...

Die Flocken in Ericas Mund schmeckten wie Gummi, es wurde ihr unmöglich, ihre Gedanken an ein neues Leben weiterzuspinnen. Sie hastete ins Badezimmer, ihr Gesicht im Spiegel quoll auf, sie biss auf die rissige, welke Haut ihrer Lippen, bis sie bluteten, und ging zurück in die Küche, strich sich ein Marmeladenbrot und bestreute es mit Schokoladensplittern.

In der Nacht, als Tony ihr das Ultimatum stellte, »entweder die beiden oder ich«, hatte sie in ihrem Zimmer auf dem Teppich gesessen, Vaters Aufziehpuppe vor sich. Sie hatte am Schlüssel gedreht, die Schuhe der Puppe verfingen sich, sie fiel um und lag auf dem Rücken, der Schlüssel schnurrte, die Puppe drehte sich im Kreis, während die Beine, steif und ungelenk, in die Luft stießen. Die Tür öffnete sich, und Erica sagte, ohne aufzublicken: »Ich werde Tony heiraten, tut mir leid, Mutter, aber ich kann nicht mein ganzes Leben im Haus am Glockenbach verbringen. Ich hasse dieses Haus, es frisst mich auf, und Amy hasse ich auch!«

»Ruhig, mein Liebling, ganz ruhig. Du liebst Amy, ich weiß es. Aber wenn Tony dich tatsächlich ... also, wenn er dich wirklich zur Frau will ... Schließlich ist er der einzige, der dich gefragt hat, mein armes Kleines ...«

»Er ist nicht der einzige. Auch Martin und Richard ...«

»Martin und Richard! Windhunde! Sie hatten nie die Absicht, dich zu heiraten. Sie hatten nur eines im Sinn ... dich rumzukriegen. Sie waren, wie alle Männer waren ...«

»Sie waren nett, aber plötzlich ließen sie nichts mehr von sich hören. Das ist eigenartig, findest du nicht?« fragte Erica. Und sie setzte, fast leidenschaftlich, hinzu: »Dabei hatten sie mich wirklich gern.«

»Tja, so sind sie, die Männer, wankelmütig und feige. Sie haben sich anderswo umgesehen. Und Tony, meinst du ... Er ist jünger als du ...«

»Zwei Jahre.«

»Die Männer wollen's gern knusprig und frisch.«

»Tony liebt mich.«

»Bist du sicher?« fragte Mutter, und es lag so viel Skepsis in der kleinen Frage, dass Erica mutlos die Schultern sinken ließ und sich ihrer Reizlosigkeit schämte.

Auch Tony war fortgegangen. Ohne Gruß. Geblieben war ihr nur sein Bild. Sein Gesicht. Lachend. Die haselnussbraunen Augen schienen ihr überallhin zu folgen. Oh, wie gern hatte Tony gelacht! Und wie sehr hatte sein Lachen angesteckt!

Mit Amy sprach Erica nur das Nötigste. Als sie noch ein Kind war, hatten sie im Religionsunterricht von dem absolut Bösen, der zerstörerischen Kraft, gehört, die die Welt zum Jammertale machte, und Erica hatte sofort gewusst, dass sie das absolut Böse kannte, denn sie kannte Amy, und Amy war böse. Sie war eine große, breite Frau mit honiggelben Augen unter schweren Lidern, sie trug Männeroveralls, Gummistiefel, sie harkte im Garten die Beete, sie aß ihre Steaks fast roh und rauchte Zigarren wie ein Mann. Zuerst schien es, als könne es ihr nicht schnell genug gehen, bis Erica aus dem Haus war, als aber dieser Schlaganfall kam – Amy war damals erst fünfzig –, musste sie es sich wohl anders überlegt haben. Nun war es ihr recht, dass Erica das Haus nicht verließ, sie hielt sie immer in Trab, verlangte nach Tee, nach Keksen, nach der Wodkaflasche, nach frisch gehackter Minze, die sie in das Wodkaglas warf, und ihre tiefe Stimme dröhnte durchs Haus und verfolgte Erica bis in den Schlaf.

Eines Tages, die Geschichte mit Tony lag schon gut zehn Jahre zurück, traf sie ihn wieder. Sie hatte für Mutter Spitze besorgt, trat aus einem Laden und lief direkt in ihn hinein.

»Pardon«, sagte er und blieb überrascht stehen. Und sie hatte, instinktiv, fast neckisch, die linke Hand gespreizt und über Mund und Nase gelegt. Sie wollte verhindern, dass er sie erkannte, zehn Jahre älter, zehn Jahre enttäuschter. Nachdem sie beide sich höflich erkundigt hatten, wie es denn ginge, gab Erica sich einen Ruck; sie sah Tony in die Augen und fragte: »Warum hast du damals so plötzlich nichts mehr von dir hören lassen?« Er wurde rot. »Aber ich bitte dich. Es ist so lange her, und deine Mutter ...«

»Was ist mit meiner Mutter?«

»Oh ... Du weißt schon. Deine Familienverhältnisse ...«

Nun war sie es, die errötete. »Was ist mit meinen Familienverhältnissen?« fragte sie steif.

Er zuckte die Achseln. »Bitte, Erica ...«

»Hast du inzwischen geheiratet? Ich erinnere mich, dass du so gern geheiratet hättest.« Ihre Stimme zitterte.

»Nein. Ich habe sogar noch meine alte Adresse.«

Sie sagte: Wollen wir essen gehen heute Abend? »Was hältst du davon? Um unserer alten ... Freundschaft willen?«

Sie spürte, wie er sich zurückzog, sie musterte ihn genau, er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, es war dünner geworden. Das rührte sie und machte ihr Hoffnung, doch die Abwehr in seinen Augen war unübersehbar.

»Ich will wirklich nur mit dir essen gehen«, sagte sie und stieß ein kleines Lachen aus, denn ihre Einsamkeit war größer als ihr Stolz.

»Es hat keinen Zweck, Erica.«

Sie nickte. »Ja, das scheint mir auch. Aber ich will es wissen ... Warum bist du damals verschwunden, ohne noch mit mir zu reden?«

»Nach dem Gespräch mit deiner Mutter wäre jedes Wort peinlich gewesen ... überflüssig.«

»Nach dem Gespräch mit meiner Mutter«, wiederholte sie. Und da er nichts mehr sagte, presste sie die Lippen zusammen und ging wie blind die Straße entlang.

Zu Hause saß sie lange in ihrem Zimmer und starrte aus dem Fenster. Es wurde Frühling, der Efeu trieb aus, und im Garten roch es nach feuchter Erde. Nach dem Gespräch mit deiner Mutter ... Sie erhob sich, machte Licht und ging ins Badezimmer. Duschte. Zog ihr neues Kostüm an. Schminkte sich. Zuletzt steckte sie eine Seidenblume an das Revers ihrer Jacke und stieg langsam die Treppe hinunter.

Mutter und Amy saßen am Esstisch. Amys Atem ging schwer. Seit sie im Rollstuhl lebte, wurde sie dickleibig. Die honiggelben Augen versanken hinter Fleischwülsten, die Finger waren braun von Nikotin.

»Ich esse nicht mit euch«, sagte Erica, »ich bin verabredet.«

»Du? Aber um Himmels willen, mit wem denn, mein Liebling?«

»Mit Tony. Erinnerst du dich an Tony, Mutter? Er ließ eines Tages nichts mehr von sich hören. Und heute bin ich ihm wieder begegnet.«

»Tony?« sagte Mutter gedehnt. »Und er will mit dir ausgehen?«

»Wundert dich das?«

»Nein, nein ...«

»Er will mir über euer Gespräch berichten. Du weißt schon – das Gespräch, das du mit ihm hattest, bevor er mich verließ.« Erica sah, wie Mutter einen Blick mit Amy wechselte. »Ich hatte kein Gespräch mit Tony.«

Amy verzog die Lippen. »Du hattest eines. Mit ihm und auch mit den anderen.«

»Weshalb?« flüsterte Erica.

»Siehst du ...« Mutter wurde verlegen. »Wir wollten dich nicht verlieren. Männer sind ja so grässlich. Wir haben doch schön miteinander gelebt ...«

»Ach was! Wir haben sie gebraucht«, sagte Amy kalt und sah Erica durch den Rauch ihrer Zigarre an. »Deine Mutter hätte mich nicht pflegen können, sie ist zu schwach.«

»Mutter, was hast du Tony gesagt? Und Martin? Und Richard?«

»Sie hat gesagt, dass dein Vater in der Heilanstalt Selbstmord verübt hat. Was übrigens stimmte. Zumindest der Selbstmord. Und dass die Krankheit erbbedingt sei.« Amy lachte. Ihre Augen glitzerten, es machte ihr Spaß, Erica zu verletzen. »Wir haben deinen Vater, damals, als ich ins Haus wollte, in die Anstalt geschafft. Er war von jeher exzentrisch und gewalttätig. Wollte sich nicht damit abfinden, dass deine Mutter und ich ... Starr mich nicht so an. Sie hat sich das alles ganz allein ausgedacht Raffinierte Frau, deine Mutter.«

Erica sank auf einen Stuhl. Ihr Herz hämmerte. Sie erinnerte sich all der Sonntage, die sie, am Fenster stehend, in ihrem Zimmer verbracht und auf Vater gewartet hatte; sie hörte Autotüren knallen, hörte das Gekicher glücklicher Mädchen, sie sah ihre Freundinnen im weißen Kleid vorm Pfarrer stehen, sie sah Babys, die nach dem Haar der Mutter grabschten, sah eine endlose Reihe von Picknicks, bei denen junge Familien auf den Wiesen um den Glockenbach lagerten – und sah sich. Sah sich Verbände erneuern, Schüsseln leeren, treppauf, treppab laufen, sie beriet sich mit den Ärzten, der Gemeindeschwester, feilschte mit Handwerkern, sie sparte und ließ den Lift für Amys Rollstuhl einbauen, sie badete Mutters Füße, sie hastete ins Büro, sie hastete nach Hause, und draußen wurde es Frühling, und die Samenkränze bogen die Blumen zur Erde, es wurde Sommer, es wurde Herbst, Winter, und im Dunkeln leuchtete der Schnee, und es klingelten die Schellen der großen Schlitten, Silvesterpartys wurden gefeiert, Kinder zur Taufe getragen, Schulranzen gepackt, Urlaubsreisen geplant. Während ihre Haut alle Frische verlor, ihr Fleisch verdorrte und ihr Haar zu Asche wurde.

Sie stand auf, ihre Lippen spannten sich über den Zähnen, sie ging zurück in ihr Zimmer, holte den alten Karton aus dem Schrank, nahm Vaters Puppe und zog sie auf, immer wieder. Die Puppe lief über den Teppich. Fiel hin. Lief weiter. Fiel hin. Blieb liegen. Blieb endlich, endlich liegen. Hatte endlich ihren Frieden. Wie Vater. Wie sie.

Sie öffnete eine Schublade und entnahm den kleinen Revolver, den Mutter gekauft hatte, um sich vor Dieben zu schützen. Sie stolperte die Treppen hinunter und betrat das Wohnzimmer. Mutter und Amy saßen noch am Tisch.

Sie schoss sechsmal.

Dann rief sie Tony an.

Als die Polizei eintraf, stand sie in der Küche und stopfte sich große Brotstücke in den Mund.

»Seien Sie vorsichtig, sie ist verrückt«, flüsterte ein Polizist dem Amtsarzt zu. »Auch ihr Vater ist in der hiesigen Heilanstalt gestorben. Der Mann, der uns alarmierte, dieser Tony Wirth ... er erzählte es mir.«

»Meine Liebe« – der Arzt trat einen Schritt auf Erica zu – »würde es Ihnen etwas ausmachen, mich zum Wagen zu begleiten? Ich möchte Sie ins Krankenhaus bringen ... Sie sind krank. Sehr krank.«

Erica kicherte. »Sie meinen, ich bin verrückt? Ich bin nicht verrückt. Es ist nur der Schlüssel, hinten am Rücken, verstehen Sie? Mutter und Amy ... sie haben ihn überdreht. Die Feder ist kaputtgegangen. Pling – und kaputt war sie, die Feder.«

»Natürlich, meine Liebe, natürlich«, sagte der Arzt beschwichtigend, und der Polizist fügte voller Mitleid hinzu:

»Ist ein Graus mit diesen Schlüsseln hinten am Rücken. Und den überdrehten Federn. Wirklich, ein Graus.«

Paarung

Seit Philipp sein Buch über anthropologische Forschungen in Bezug auf menschliche Gefühlsregungen veröffentlicht hat, wird er von einer Talk-Show zur anderen gereicht. Natürlich gibt es massenhaft anthropologische Bücher, aber keines dieser Werke befasst sich so konträr und zugleich allgemein verständlich mit menschlichem Paarungsverhalten und der durch Evolution beeinflussten Psyche wie Philipps Buch. Philipp ist nahezu besessen von diesem Thema, seine ganze Weltanschauung basiert auf der These, alle menschlichen Verhaltensmuster seien biologisch-genetischen Ursprungs.

Heute ist er Gast einer TV-Sendung, die den Titel »Kultur und Menschen« trägt. Er spricht über Liebe, über Sex, über Partnerschaft und Trennung und stellt Verbindungen zum Tierreich her. Mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen sitzt er der hübschen Moderatorin gegenüber. Er trägt Jeans und ein Sportjackett, er wirkt ausgeglichen und souverän.