Cover Papa Bernd

© 2010 adeo Verlag,

in der Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

1. Auflage August 2010

2. Auflage September 2010

ISBN 978-3-86334-702-4

Umschlaggestaltung: Buttgereit & Heidenreich, Haltern am See

Umschlagfoto: Peter Müller

Fotos im Bildteil: Arche, Peter Müller, Privat

Satz: Marcellini Media GmbH, Wetzlar

Über die Autoren

Bernd Siggelkow gründete 1995 in Berlin-Hellersdorf das christliche Kinder- und Jugendhilfswerk „Die Arche“. Er ist verheiratet und Vater von sechs Kindern. Für seine Arbeit erhielt er das Bundesverdienstkreuz.

Wolfgang Büscher arbeitet neben seiner Tätigkeit als Journalist und Pressesprecher der „Arche“ als Medienberater mit einem eigenen Unternehmen. Gemeinsam mit „Arche“-Gründer Bernd Siggelkow hat er mehrere Bestseller geschrieben.

Marcus Mockler ist Journalist, Publizist und Kommunikationstrainer. Er leitet die Baden-Württemberg-Redaktion des Evangelischen Pressedienstes (epd) Stuttgart.

Vorwort

Mario Barth

Vor gut einem Jahr traf ich Bernd Siggelkow zum ersten Mal. Bis dahin kannte ich nur das Konzept und die Idee, die hinter der Arche stecken, und hatte daraufhin bereits begonnen, die Einrichtung zu unterstützen. Doch dann wollte ich mich selbst vor Ort über die Arbeit informieren und besuchte die Arche in Berlin-Hellersdorf. Mein Management hatte 90 Minuten für den Besuch eingeplant, daraus wurden dann aber gute vier Stunden. Vier Stunden, denen noch viele weitere folgen sollten. Vier Stunden, die mich gewaltig geerdet haben.

Wer wirklich glaubt, bei uns ist alles in Ordnung, sollte Bernd Siggelkow in seiner Arche besuchen. Mir wurde dabei nicht nur klar, dass mein Einsatz für die Arche wichtig war und ist, sondern auch, dass das Geld und der persönliche Einsatz vieler Helfer hier direkt bei den jungen Menschen ankommen, die beides wirklich benötigen. In mir wuchs an dem Tag auch noch einmal der Respekt für Bernd Siggelkow. Er leistet mit seinem Team in Berlin-Hellersdorf und in den vielen anderen Archen, die es inzwischen im ganzen Bundesgebiet gibt, eine Arbeit, die viel persönlichen Einsatz und einen unerschütterlichen Optimismus erfordert.

Jeden Tag begegnet er in seinen Einrichtungen Kindern, denen in ihren Familien wenig bis gar keine Liebe entgegengebracht wird. Kindern, die nichts für ihre Situation können. Kindern, die unsere Zukunft sind – und unsere Gegenwart, wie Bernd Siggelkow mir einmal so richtig sagte. Unermüdlich arbeitet er seit vielen Jahren für die Kinder. Ohne große Bürokratie, damit die Arbeit direkt wirkt, widmet er sich dem großen Ganzen und kümmert sich im nächsten Moment um einen einzelnen Jungen, dessen Mutter nicht genug Geld für die Weihnachtsgeschenke aufbringen kann. Er spricht die direkte, manchmal flapsige Sprache der Kinder und erreicht sie damit. Obwohl er längst nicht mehr jeden Tag in jeder Arche sein kann, achten er und seine Mitarbeiter darauf, dass hier jedes Kind als Persönlichkeit und nicht als anonymes Wesen behandelt wird.

Die Arbeit, die Bernd Siggelkow leistet, kann gar nicht hoch genug bewertet werden, und jeder kann helfen. Ich selbst will das auch weiterhin tun. Aber ich möchte auch andere Menschen ermutigen, das Gleiche zu machen – ob finanziell, mit Sachspenden oder Zeit. Bernd Siggelkow und seine Idee von einer Anlaufstelle für benachteiligte Kinder haben unser aller Hilfe verdient.

Politiker spielen
„Arche“-Versenken

Es war Ende des Jahres 2005. Da gab es die „Arche“ in Berlin bereits seit zehn Jahren. Längst lagen die Tage der Pionierarbeit hinter uns, das Engagement des Vereins für in Armut lebende Kinder in der Bundeshauptstadt galt schon als etabliert. Dann kam eine Attacke gegen uns – ja, gegen mich persönlich –, mit der niemand rechnen konnte.

Ein Berliner Kommunalpolitiker der damaligen PDS (die später in die Partei „Die Linke“ aufging) schoss in einem internen Papier gegen unsere Einrichtung und gegen mich, Bernd Siggelkow, als deren Gründer. Der Vorwurf des sozialistischen Politikers: Ich wahrte angeblich „nicht die notwendige körperliche Distanz zu den Kindern“. Er hätte auch gleich etwas von sexuellem Missbrauch oder dem Begrapschen von Schutzbefohlenen schreiben können, beließ es aber bei dieser Formulierung (und war damit vermutlich auch juristisch aus dem Schneider). Als ob das nicht genug gewesen wäre, ballerte der Mann zusätzlich mit der Kritik, in der Arche würden Kinder „über den Magen“ missioniert. Und natürlich berichteten die Medien bundesweit über diese Angriffe.

Warum wurde diese Kampagne losgetreten? Einerseits konnten wir das nicht verstehen. Die Arche mobilisierte ein riesiges Aufgebot an Spenden und ehrenamtlichem Engagement, um das Leben von sozial benachteiligten Kindern zu verbessern. Wer konnte ernsthaft gegen so eine Einrichtung sein? Andererseits hatten wir eine Ahnung davon, dass es Leute gab, denen die erfolgreiche Arbeit der Arche missfiel. Leute, in deren weltanschauliches Konzept die christliche Farbe unseres Engagements nicht passte und die mit ihrer Offensive indirekt jede kirchliche Sozialarbeit angriffen.

Viele meiner Mitarbeiter und auch ich hatten die Wirkung unterschätzt, die diese Kampagne auf die Arche-Kinder und auf deren Eltern hatte. Immer wieder stellten die Kleinen dieselbe Frage: „Bernd, Bernd, machst du jetzt die Arche zu?“

Zur selben Zeit wollte uns die Gewerkschaft der Polizei eine größere Spende überreichen, und so tauchten eines Tages sechs Polizeibeamte aus Karlsruhe in Uniform in meinem Büro in der Arche auf. Auch sie schüttelten nur den Kopf über die Vorwürfe, die in diesen Tagen durch die Presse geisterten. Sie versicherten mir und der Arche ihre volle Unterstützung.

Wir redeten zunächst etwa eine halbe Stunde lang miteinander, dann wollten sich die Beamten die Arche anschauen. Gemeinsam verließen wir mein Büro und gingen den Flur unserer Einrichtung entlang, wobei ich, ohne mir Gedanken darüber zu machen, was für ein Bild wir boten, zwischen den uniformierten Beamten lief. Als jedoch ein Mädchen, das täglich unsere Einrichtung besuchte, an uns vorbeiging, registrierte ich aus dem Augenwinkel den entsetzten Blick der Kleinen. Sechs Polizisten und in der Mitte Bernd Siggelkow. In diesem Moment dachte ich: Was geht jetzt wohl in diesem Mädchen vor?

Meine Frau Karin, die das Ganze beobachtet hatte, lief dem Mädchen sofort hinterher. Sie hatte die Situation richtig eingeschätzt, denn sie musste das Kind beruhigen.

„Nehmen die den Bernd jetzt mit? Muss er ins Gefängnis?“, fragte die Kleine. Die Augen verrieten ihre Angst. Auch sie hatte wahrscheinlich von den Angriffen auf die Arche gehört. Sogar eine meiner Mitarbeiterinnen, die mich mit den Polizisten sah, hatte denselben Verdacht: Jetzt nehmen sie den Bernd mit. Unter den Kindern und auch unter den Eltern gab es an diesem Tag eine große Unruhe. Alle hatten Angst, dass die Arche geschlossen würde. Erst nachdem die Polizisten noch ein Erinnerungsfoto gemacht und sich verabschiedet hatten, konnten wir die Kinder beruhigen.

Der nächste Arbeitstag begann mit einer tollen Überraschung. Die Eingangstür zu meinem Büro war zugepflastert mit Briefen der Kinder. Das Holz der Tür war fast nicht mehr zu erkennen. All diese Briefe hatten die Kids aus eigener Motivation geschrieben, ohne Hilfe der Eltern oder unserer Mitarbeiter. „Lieber Bernd, mach weiter, wir haben dich lieb“ und „Lass dich nicht unterkriegen“ oder „Das sind alles Lügen, was die da so sagen“ und viele weitere Zusprüche schmückten meinen Büroeingang. Es war überwältigend. Eine ganze Tür vollgeklebt mit Liebeserklärungen! Da erst bemerkte ich, was der Aufruhr bei den Kindern ausgelöst hatte. Mir waren die Vorwürfe nicht so furchtbar nahegegangen, weil ich die Situation besser einordnen konnte als die Kinder.

Das Ganze war aber nicht nur eine harmlose Diskussion in den Gazetten. Die Sache hatte für uns unangenehme Folgen: Man kürzte uns die Zuschüsse. Damals bezahlte uns der Stadtbezirk eine Personalstelle. Dank der Stimmung, die gegen uns gemacht wurde, wurde diese Stelle nun jedoch zunächst für ein Jahr auf die Hälfte gekürzt, um sie nach einem weiteren Jahr schließlich ganz zu streichen. Diese Entscheidung fiel in einer seltsamen Allianz zwischen den Sozialisten und der FDP. Aus psychologischer Sicht vielleicht ein bisschen verständlich: Sie wollten nicht wahrhaben, dass in einer Stadt wie Berlin Kinder verwahrlosen und häufig auch nicht genug zu essen bekommen. Andererseits: Wir haben den Politikern nie persönlich wegen dieser schlimmen Situation Vorwürfe gemacht.

Etwas haben wir aber aus der Sache gelernt: Erst in der Krise merkt man, ob man Freunde hat. Wir hatten welche, und zwar beglückend viele. Unser Telefon stand nach dem unverschämten Angriff des Kommunalpolitikers nicht mehr still. Viele Politiker – auch ein paar aus der damaligen PDS – besuchten uns in der Arche, um uns ihre Unterstützung zuzusagen. Dazu zählten etwa der damalige Bezirksbürgermeister von Hellersdorf-Marzahn, Uwe Klett, und die Bundestagsabgeordnete der Linken, Petra Pau, die heute Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages ist. Sie waren entsetzt über die hohen Wellen, die über uns hinwegschlugen und die am meisten den uns anvertrauten Kindern schadeten – das waren zu der Zeit etwa 250 täglich.

Vor allem in der bundesweiten Presse fanden wir eine riesige Unterstützung. Viele berichteten über unsere Arbeit und über die kleinen Erfolge, die wir aufweisen konnten. Auch der örtliche Bürgermeister bestätigte öffentlich die katastrophale Situation vieler kinderreicher Familien in seinem Bezirk. Dabei muss man wissen, dass Kinderarmut nicht ausschließlich ein Problem der Großstadt Berlin ist, obwohl in dieser Stadt heute fast 40 Prozent aller Kinder von Transferleistungen leben. Auch im übrigen Deutschland vegetieren immer mehr Kinder in Armut dahin. Inzwischen sind mehr als drei Millionen Kinder in unserem Land betroffen.

Viele Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses hörten zum ersten Mal von dieser Not. Politiker gaben sich in der Arche die Klinke in die Hand. Sie wollten wissen, was man denn tun könne. Natürlich haben auch wir kein Allheilmittel. An einem Punkt können wir aber ansetzen: Unsere Kinder brauchen viel Zuneigung und Liebe, die sie zu Hause nicht immer bekommen. Sie brauchen uns Erwachsene als zuverlässige Partner und Freunde.

Die mediale Aufregung verwandelte sich für mich in eine Lehrstunde: Ich lernte, die Vorwürfe aus dieser politischen Ecke nicht mehr für voll zu nehmen. Denn keiner dieser Kritiker hatte je die Arche besucht, und das war doch sehr bezeichnend. Man merkte sofort, dass es ihnen nicht um die Sache ging. Bestimmte politische Kreise hatten einfach etwas gegen jede christliche Einrichtung, und diese Ausrichtung war das eigentliche Ziel der Angriffe. Da bleibt schon irgendetwas hängen, wird sich mancher der Agitatoren gedacht haben. Welchen Schaden diese Kritik bei den Kindern verursachen könnte, schien zweitrangig.

Viele unserer Spender und auch einige Politiker und Unternehmer unterstützten uns in dieser Situation. Wir erlebten eine ungeheure, geradezu begeisternde Solidarität der Menschen. Der Berliner Unternehmer Hans Wall beispielsweise bezahlte uns, ohne zu zögern, die vom Bezirk gestrichene halbe Stelle für ein Jahr. Ich war überwältigt. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Jene aufregenden Wochen im Jahr 2005 zeigen, in welchem Umfeld sich die Arche bewähren musste und bis heute bewähren muss.

In diesem Buch möchte ich aber nicht nur von der Arche berichten, auch wenn sie zu meinem Lebensthema geworden ist. Ich möchte – hoffentlich in der notwendigen Bescheidenheit – Rechenschaft geben von dem, was mich auf dem Weg in diese Arbeit geprägt hat. Das Buch beleuchtet nicht allein die Geschichte des Kinderhilfsprojekts, das immer weitere Kreise zieht. Es berichtet von wunderbaren Menschen, die mich mit meinem schwierigen familiären Hintergrund stark gemacht haben. Es erläutert mein persönliches christliches Selbstverständnis und das der Arche. Es lobt die zahllosen Miterbauer und -erhalter der Arche, einige sogar namentlich.

Im Jahr des Erscheinens dieses Buchs wird die Arche 15 Jahre alt. In diesen Jahren hat sie von Politikern, Wirtschaftsleuten und von vielen Menschen aus der Gesellschaft große Hilfe erfahren. Dank dieser Hilfe konnten wir mittlerweile Archen in Berlin, Potsdam, Hamburg, München, Düsseldorf, Köln und Frankfurt aufbauen und erfolgreich betreiben. Weitere werden noch hinzukommen. So traurig es klingen mag: Der Misserfolg unserer Gesellschaft ist der gesellschaftliche Erfolg der Arche – ein Erfolg, auf den ich nicht stolz bin. Aber: Wohl dem Menschen, der sich in einer notvollen Situation in eine Arche zurückziehen kann!

Der Tag, an dem Mutter
auszog ...

Ich bin immer wieder erstaunt, an was sich manche Menschen so alles erinnern. Sie können noch zahllose Ereignisse aus dem Kindergarten erzählen, sogar aus den Jahren davor. Manche erinnern sich sogar noch an Szenen, die sie im Kinderbettchen erlebt haben.

Bei mir ist aus dieser Zeit nichts hängen geblieben. Zumindest fast nichts. Ich erinnere mich nicht an die Tapete über meinem Gitterbett, nicht an Küsschen verteilende Tanten, nicht an den Verlust des ersten Zahns. Das Geflecht meiner Erinnerungen hat an dieser Stelle ein gewaltiges Loch.

Geboren bin ich 1964 auf St. Pauli in Hamburg. Damals war die Welt meiner kleinen Familie noch einigermaßen in Ordnung. 1964 war das Jahr, in dem Cliff Richard seinen Hit „Rote Lippen soll man küssen“ sang und der Schauspieler Paul Newman einen Oscar bekam. In Amerika ereignete sich das bis dahin stärkste Erdbeben, das als Karfreitagsbeben in die Geschichte einging; Lyndon B. Johnson war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Jahr amerikanischer Präsident.

Wie gesagt, ich habe keine Erinnerungen an meine früheste Kinderzeit. Was ich weiß, weiß ich aus Erzählungen. Mit knapp zwei Wochen wurde ich getauft. In den Kindergarten ging ich nicht – genau wie mein eineinhalb Jahre älterer Bruder. Mehr Informationen habe ich nicht über meine ersten Lebensjahre.

Das Erste, woran ich mich wirklich erinnere, ist ein Umzug. Für eine kurze Zeit verließen wir St. Pauli und zogen in einen kleinen Ort in Niedersachsen, aber nicht weit von Hamburg entfernt, wo sich mein Vater eine kleine Zoohandlung aufgebaut hatte. Allerdings stand nicht er im Laden, sondern meine Großmutter. Er selbst blieb in Hamburg und verdiente zusätzliches Geld, das wir dringend zum Leben brauchten. Auch meine Mutter hatte einen Nebenjob. Sie verdingte sich als Fleischverkäuferin in einer Metzgerei in der Nachbarschaft. So blieben meine Großmutter, mein Bruder und ich in der kleinen Ladenwohnung und dem Geschäft. Ich erinnere mich daran, dass der Laden ein riesengroßes Schaufenster zur Hauptstraße hin hatte. Meine Großmutter und ich saßen hin und wieder an diesem Fenster und veranstalteten miteinander ein Spiel. Jeder gab einen Tipp ab, welche Farbe wohl das nächste Auto haben würde, das am Fenster vorbeifuhr.

Dies sind also meine ersten Kindheitserinnerungen – und dann kommt lange Zeit praktisch gar nichts. Auch von meinen ersten Schultagen weiß ich nichts mehr. Es gibt keine Fotos aus dieser Zeit. Ich muss wohl ein ganz passabler Schüler gewesen sein; mit meinen Leistungen waren jedenfalls alle zufrieden. Aber einzelne Begebenheiten aus dem Schulalltag, an die ich mich erinnere? Fehlanzeige.

Ein Tag aus meiner Kindheit wird mir allerdings wohl ewig ins Gedächtnis gebrannt sein. Es war der schlimmste Tag meines damals noch jungen und ganz glücklichen Lebens – und es sollte der schlimmste bleiben. Meine Mutter war in jener Zeit eher selten zu Hause. Es musste immer wieder Krach mit meinem Vater und seiner Familie gegeben haben, von dem ich damals aber nichts mitbekommen habe. Es regnete an diesem Tag, die Wolken hingen schwarz und schwer über unserer Straße. Ich kam alleine nach Hause. Wo ich herkam, weiß ich nicht mehr. Mein Bruder und meine Oma, die bei uns wohnte, waren nicht da. Dann diese Szene wie aus einem rührseligen DEFA-Film: Meine Mutter hatte ihre Sachen gepackt, und nun stand sie in einer dicken Jacke vor mir, in jeder Hand einen Koffer.

„Wo willst du hin?“, fragte ich sie mit großen, ängstlichen Augen. Dass hier Unheil drohte, hatte ich sofort erspürt.

Sie antwortete sehr direkt und offenbar tief verletzt von dem, was hinter ihr lag: „Ich verlasse euch, ich gehe weg!“

Was für ein Schock!

Da stand ich Zwerg mit meinen sechs oder sieben Jahren in unserer kleinen Küche und die Tränen schossen mir in die Augen. Meine Mutter ging an mir vorbei durch die geöffnete Tür und zog sie hinter sich ins Schloss.

Ich blieb allein zurück. Buchstäblich mutterseelenallein. Und ich heulte Rotz und Wasser. Ich schrie, schrie, schrie mir meine verwundete Seele aus dem Leib. Aber keiner hörte es. Keiner kümmerte sich um mich, keiner nahm mich in den Arm, keiner tröstete mich.

Ein furchtbarer Moment in meinem bis dahin eher behüteten Leben. Instinktiv spürte ich schon als kleines Kind, dass dies nun bitterer Ernst war und dass sie wohl nie mehr zurückkommen würde. Ich hatte meine Mutter verloren – und wusste nicht einmal, warum.

Sie zog zu ihrem Lebensgefährten, die beiden heirateten später auch und bekamen ein gemeinsames Kind. Sie sind heute übrigens immer noch zusammen.

Was für mich in Kindertagen unendlich grausam war, stellt sich für mich heute in einem milderen Licht dar. So hart es mich damals auch erwischte, so kann ich meine Mutter doch inzwischen verstehen. Sie wollte ausbrechen aus einem Leben, unter dem sie litt, und aufbrechen zu etwas Neuem, etwas Besserem. Das versprach sie sich von ihrer Flucht. Meine Eltern hatten sich kennengelernt, als sie noch sehr jung waren. Schnell wurde meine Mutter mit meinem Bruder schwanger. Das war Anfang der 60er-Jahre in Hamburg nicht ganz einfach. Die Leute guckten – und redeten. Also „mussten“ meine Eltern heiraten, obwohl sie sich kaum kannten. Bei den Unterschieden, die sie in die Beziehung einbrachten, war das Projekt „Ehe“ wohl vom ersten Tag an zum Scheitern verurteilt.

Jedenfalls war Mutter nun weg – von jetzt auf gleich. Weg aus der Wohnung, weg aus unserem Leben – aber nicht weg aus meinem Herzen. Ich sehnte mich nach ihr. Mein Bruder hingegen wollte nichts mehr von ihr wissen. „Sie hat uns verlassen, und deswegen hasse ich sie“, sagte er mir einmal. Er hat den Kontakt auch nie wieder gesucht. Ich konnte meine Mutter jedoch nicht einfach abhaken. Ungefähr zwei Jahre später ging ich einfach zu ihr, besuchte sie in ihrem neuen Zuhause. Heute habe ich zu meiner Mutter wieder ein gutes Verhältnis, und dafür bin ich dankbar.

Direkt nachdem sie gegangen war, wurde unsere Situation jedoch erst einmal komplizierter. Mein Vater war zwar noch sehr jung, saß aber schon auf einem immensen Schuldenberg. Seine Versuche, sich selbstständig zu machen, scheiterten immer wieder. Er ließ sich aber in dieser Situation nicht hängen, sondern rackerte sich ab, um seine Schulden zu bezahlen und um seine Familie zu ernähren. Häufig ging er mehreren Jobs gleichzeitig nach und war von frühmorgens bis spätabends unterwegs. Erfolg hatte er nicht immer. Hin und wieder verlor er einen Job und musste wieder neu auf die Suche nach Arbeit gehen. So sahen wir unseren Vater kaum. Er lebte sein eigenes Leben. In seiner knapp bemessenen Freizeit ging er irgendwelchen Hobbys nach, von denen wir nichts mitbekamen.

Natürlich suchte mein Vater auch nach einer neuen Frau, doch das war mit zwei Kindern, einer Mutter, der es gesundheitlich nicht gut ging, und wenig Freizeit fast unmöglich. An zwei Frauen, die für längere Zeit bei uns wohnten, kann ich mich aber noch erinnern. So richtig glücklich kann mein Vater damals jedoch nicht gewesen sein, denn er musste sich ganz schön schinden, um sein Leben auf die Reihe zu bekommen.

Ich machte mir damals über unsere Lebenssituation nicht allzu viele Gedanken. Natürlich fehlte mir meine Mutter, aber unsere finanzielle Lage bereitete mir keine Sorgen. Wir waren zwar arm, mussten vieles entbehren, aber ich kannte es nicht anders. Wenn ich Freunde besuchte, registrierte ich wohl oberflächlich, dass sie wohlhabender waren als wir, aber so richtig verglichen habe ich damals nicht – mein junges Herz war für Neidgefühle offenbar nicht besonders anfällig. Zu Hause musste ich viel und hart arbeiten. Mein Bruder war zwar älter als ich, aber leider nicht gesund. Schon seit er ein Baby war, wurde er von Epilepsieanfällen geplagt. Darauf nahmen alle sehr viel Rücksicht, und so brauchte er kaum Pflichten in der Familie zu übernehmen. Einkaufen und Abwaschen waren zum Beispiel meine Aufgaben. Mein Bruder durfte in dieser Zeit Freunde besuchen oder spielen.

Für mich war im Alter von zehn Jahren an Spielen im Grunde nicht mehr zu denken. Dafür war einfach keine Zeit mehr. Hin und wieder ging ich allerdings in einen Jugendklub. Dort gab es zumindest eine Tischtennisplatte. Pädagogische Betreuer konnte ich dort nicht ausmachen, sonst hätte ich vielleicht professionelle Hilfe bekommen. Wenn ich so zurückdenke, durchlebte ich in meiner Kindheit sehr viel emotionale Einsamkeit.

Mein einziges Hobby war das Aufnehmen und Abhören von Musikstücken mit meinem Kassettenrekorder. So lernte ich die Musik von Elvis Presley kennen und lieben. Seine Songs hörte ich immer wieder, oft Tag und Nacht, aber darüber hinaus interessierte ich mich auch für sein Leben.

Wir wohnten damals in einer Dachwohnung mit Toilette draußen auf dem Gang. Da es in der Gegend, in der wir lebten, sehr viele Obdachlose, Alkoholiker und Prostituierte gab, hatten wir im Hausflur immer wieder ungebetene Gäste. In kalten Nächten zog es sie in unser Haus, wo sie sich auf der Treppe oder im Gang ein Plätzchen zum Übernachten suchten. Teilweise schlichen sie bis in die obere Etage, um dort ihr Nachtlager aufzuschlagen.

Einmal – es war mitten im Winter – musste ich nachts dringend aufs Klo. Ich schlich mich leise zur Wohnungstür und öffnete sie. Mit der Hand tastete ich an der Wand nach dem Lichtschalter, doch ich fand ihn nicht sofort. Es war bitterkalt, denn der Hausflur wurde natürlich nicht beheizt. Plötzlich spürte ich etwas an meinen Beinen, ich stolperte einen Schritt vor und fiel der Länge nach hin. Ein Grunzen und Stöhnen versetzte mich fast in Panik. Ein Obdachloser hatte es sich direkt vor unserer Wohnungstür gemütlich gemacht. Was für ein Schock war das für mich – mitten in der Nacht über einen betrunkenen Mann zu fallen! Nach diesem Vorfall ließ ich jedes Mal, wenn ich nachts zur Toilette musste, zuerst den Sicherheitsriegel an der Haustür einrasten, um dann vorsichtig die Tür zu öffnen, das Licht anzumachen und nachzuschauen, ob da jemand lag, ehe ich einen Schritt in den Hausflur machte.

Meine Oma war zu dieser Zeit schon vom Krebs zerfressen, wie mein Vater sich auszudrücken pflegte. Sie konnte mir schließlich im Haushalt kaum noch helfen. Morgens verließ ich das Haus, ohne zu frühstücken. Mittags dann, wenn ich von der Schule nach Hause kam, hatte Oma uns etwas gekocht, wenn sie die Kraft und das Geld dazu hatte. Meine Großmutter bezahlte in der Regel immer alles von ihrer kleinen Rente. Das Geld, das mein Vater erarbeitete, ging vor allem für die Tilgung seiner Schulden drauf.

Nach dem Mittagessen und dem anschließenden Abwasch schrieb Oma mir den Zettel für den Einkauf. Das Einkaufen darf man sich aber nicht so leicht vorstellen. Es gab keinen Supermarkt. Ich musste die Lebensmittel dort einkaufen, wo sie am preiswertesten waren. Oft durchkämmte ich an einem Nachmittag drei verschiedene Geschäfte, und das dauerte manchmal sehr lange. Taschengeld bekam ich zu diesem Zeitpunkt keines. So konnte ich mir bei diesen Einkäufen nur selten etwas für mich aussuchen. Als ich meinen Vater einmal nach Taschengeld fragte, wies er mich barsch zurück. „Wenn du Geld haben willst, dann musst du es eben selbst verdienen!“, fuhr er mich an. Ich war damals noch keine zehn Jahre alt.

Kurze Zeit später lernte ich eine Dame aus unserer Nachbarschaft kennen, für die ich einmal in der Woche einkaufen durfte. Als Lohn erhielt ich 50 Pfennige, wovon ich mir dann Süßigkeiten leisten konnte.

Nach dem Einkaufen hatte ich etwas Freizeit, und die verbrachte ich in erster Linie auf den Spielplätzen der Nachbarschaft, wo ich mich mit meinen Kameraden traf. Mit zu uns nach Hause durfte ich niemanden bringen; das war tabu. Mein Vater schämte sich wahrscheinlich für die bescheidenen Verhältnisse, in denen wir lebten.

Armut prägte unser Leben. Ständig mussten wir rechnen und Preise vergleichen. Ganz schlimm wurde es immer, wenn unsere Schuhe kaputtgingen. Für neues Schuhwerk war nämlich in der Regel kein Geld vorhanden. Oma weinte oft, weil sie einfach nicht wusste, wie sie mit uns über den Monat kommen sollte. Manchmal war schon am 20. des Monats kein Geld mehr da. Irgendwie schafften wir es aber doch jedes Mal. Ich staune noch heute, wie meine Oma uns immer wieder über die Runden brachte, und bin ihr dafür sehr dankbar.

Natürlich gab es auch schönere Tage. Ein Höhepunkt war jeden Monat, wenn die Rente auf Großmutters Konto überwiesen wurde. Dann schickte Oma mich zum Fleischer und ich durfte Wiener Würstchen kaufen. Die gab es zusammen mit frischem Brot. Was für ein Festessen! Für viele ist das sicher nichts Besonderes, aber noch heute, wenn es bei uns Wiener Würstchen gibt, denke ich an diese Zeit zurück.

Seitdem mein Vater meinem Bruder und mir eröffnet hatte, dass meine Oma schwer krank sei, lebte ich in einer großen Angst. Vater hatte uns gesagt, dass sie vielleicht nur noch zwei Jahre zu leben hätte. Ich war damals erst zehn oder elf und wachte jeden Morgen mit dem Gedanken auf, was wohl sein würde, wenn Oma nicht mehr da wäre. Sie lebte dann aber doch noch fünf Jahre.

Meine Großmutter war damals für mich und meinen Bruder die einzige wirkliche Ansprechpartnerin. Die Angst, dass wir diesen fürsorglichen Menschen, den wir so sehr liebten und der sich um uns kümmerte, verlieren könnten, war bei uns Kindern daher natürlich groß.

Dass wir beiden Jungs uns keinen Luxus leisten konnten, daran waren wir gewöhnt. Was mir allerdings zu schaffen machte, war, dass ich die Klamotten meines älteren Bruders auftragen musste, wenn sie ihm zu klein geworden waren. Natürlich wollte ich auch mal eine neue Jeans oder einen neuen Pullover haben, aber das war fast nie drin.

Ich erinnere mich an das Jahr 1974 – damals war ich zehn Jahre alt. Die Tierhandlung meines Vaters ging pleite. Immer wieder klingelte in dieser Zeit der Gerichtsvollzieher bei uns an der Haustür. Das war für uns alle jedes Mal eine peinliche Situation. Meine Großmutter führte den Mann dann durch die Wohnung und manchmal nahm er etwas mit oder klebte den legendären „Kuckuck“ auf Möbel – das Pfandsiegel, das deutlich machte, dass das entsprechende Inventar nicht mehr uns gehörte. Oft versuchten wir, mit dem Gerichtsvollzieher zu reden. Er war kein kaltherziger Mensch, er zeigte häufig auch Mitleid mit uns. Natürlich wusste er, dass Kinder nichts für die Schulden ihrer Eltern können. Der Gerichtsvollzieher erkannte durchaus auch an, dass mein Vater sich sehr viel Mühe gab, um allen Verpflichtungen nachzukommen, aber Recht ist Recht – und diejenigen, die von uns Geld wollten, hatten ja einen Anspruch darauf.