Elisabeth Sandmann erzählt in diesem Buch die Geschichte eines der größten Kunstskandale des 20. Jahrhunderts: Im Jahr 1907 schuf Gustav Klimt in Wien die »Goldene Adele«. Das Porträt von Adele Bloch-Bauer befand sich in Familienbesitz, bis es im Zuge der Enteignung jüdischen Besitzes von den Nazis geraubt wurde. Alle Bemühungen der Erben, es nach Kriegsende zurückzubekommen, scheiterten, ihre Forderungen wurden über Jahrzehnte hinweg von offizieller Seite abgewiesen. Bis sich Maria Altmann, Adeles Nichte, im hohen Alter dazu entschloss, in höchster Instanz den Staat Österreich zu verklagen – und schließlich das fast Undenkbare erreichte: die rechtmäßige Rückgabe der Kunstwerke.

Die Geschichte um die »Goldene Adele« ist die eines beispiellosen Unrechts, das noch lange nach dem Nationalsozialismus fortbestand – aber auch die einer sensationellen Restitution.

»Ich habe immer gehofft, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Und genau das ist geschehen.«

Maria Altmann

Elisabeth Sandmann, Verlegerin des gleichnamigen Verlags, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Restitution. Sie hat nach ihrer Lehre zur Verlagsbuchhändlerin Kunstgeschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn und Oxford studiert und über George Bernard Shaw promoviert.

ELISABETH SANDMANN

Der gestohlene Klimt

Wie sich Maria Altmann die
Goldene Adele zurückholte

INSEL VERLAG

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4483.

Insel Verlag Berlin 2016

© 2015, Elisabeth Sandmann Verlag GmbH, München

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Umschlaggestaltung: Schimmelpenninck.Gestaltung, Berlin

Umschlagabbildung: Gustav Klimt, Bildnis der Adele Bloch-Bauer I, 1907

Foto: Artothek, Weilheim

eISBN 978-3-458-75073-4

www.insel-verlag.de

Für Charles Goldstein
(1936 – 2015)

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1 Porträtfotografie Adele Bloch-Bauers, um 1910

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3 Marie Viktoria Bloch-Bauer, um 1920

Maria

»Ich bin im Jahr 1916 geboren und war neun Jahre alt, als Tante Adele starb.«

Maria Altmann, 1999

Therese Bloch-Bauer hat bereits drei Söhne und eine Tochter, als sie 1915, im Alter von 41 Jahren, noch einmal schwanger wird. Ausgerechnet jetzt, wo die Söhne junge Männer sind und Luise, die Jüngste, immerhin schon acht Jahre alt ist, soll sie noch einmal von vorne anfangen und all die Zuwendung aufbringen, die kleine Kinder brauchen – eine Herausforderung, obwohl ausreichend Personal im Hause ist. Sie hatte ja vorgehabt, ihren Mann Gustav häufiger auf Reisen zu begleiten und das gesellschaftliche Treiben, das Wien trotz der Kriegsjahre immer noch zu bieten hat, in vollen Zügen zu genießen – und nun das!

Ganz anders ihre Schwester Adele: Kinderlos geblieben, führt sie das Leben einer in jeder Hinsicht emanzipierten Frau. Finanziell und geistig unabhängig, liebt sie es, sich mit Malern, Schriftstellern, Intellektuellen und Salonièren zu treffen, raucht Zigaretten, die in langen, eleganten Haltern stecken, und macht sich nichts aus dem, was die konventionelle großbürgerliche oder aristokratische Wiener Gesellschaft von ihr denkt. Doch bei allen Unterschieden im Lebensstil und in der Auffassung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Pflicht verbindet die beiden Schwestern, dass sie Brüder geheiratet haben. Die Bauer-Schwestern haben die Bloch-Brüder geehelicht, und die Paare führen den Doppelnamen Bloch-Bauer.

Beide Familien, die Blochs und die Bauers, sind vermögend und angesehen. Der Vater der Bauer-Töchter war erfolgreicher Bankier, der als Generaldirektor des Wiener Bankvereins einer der größten Banken der österreichisch-ungarischen Monarchie vorstand und Präsident der Orientbahnen war. Bei seinem Tod im Jahr 1905 hinterließ Moritz Bauer seinen beiden Söhnen und den Töchtern Therese und Adele ein beachtliches Vermögen. Der Vater der Brüder wiederum, David Bloch, war in Prag mit der Fabrikation von Zucker zu Wohlstand gekommen, dem »weißen Gold«, dessen Nachfrage stetig stieg. Die Österreichische Zuckerindustrie AG, die Ferdinand Bloch-Bauer von seinem Vater übernehmen wird, expandierte und produzierte um die Jahrhundertwende etwa 20 Prozent des Zuckerbedarfs im Habsburgerreich. Sein Bruder Gustav ist als Rechtsanwalt in Wien tätig. Beide Familien interessieren sich für Kunst, wenn auch für unterschiedliche Richtungen; man sammelt schöne Gegenstände, liest und reist ausgiebig, musiziert, ist gesellig und führt das Leben der privilegierten und kultivierten Schicht. Für die assimilierte jüdische Familie spielt der Glaube keine übergeordnete Rolle; Weihnachten und Ostern werden ebenso gefeiert wie das jüdische Lichterfest Hanukkah.

In diese wohlhabende, geistig offene und fürsorgliche Familie wird am 18. Februar 1916 Marie Viktoria Bloch-Bauer in Wien hineingeboren, und ihr Vater Gustav ist außer sich vor Freude. Auch die anderen Familienmitglieder verlieben sich schnell in den entzückenden Nachzügler. Die Familie wohnt in einem schönen Haus im vornehmen 1. Bezirk in der Stubenbastei, unweit vom Stephansdom. Tante Adele und Onkel Ferdinand residieren noch im 4. Bezirk, ziehen aber bald in ein herrschaftliches Palais in der Elisabethstraße 18, etwa 15 Gehminuten entfernt, das im Stil des Historismus erbaut worden war.

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4 Gustav und Therese Bloch-Bauer, 1918

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5 + 6 Adele und Ferdinand Bloch-Bauer, um 1920

Im Geburtsjahr der kleinen Marie hat sich die Kriegseuphorie, die beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 herrschte, bereits gelegt, und Ernüchterung ist eingetreten. Natürlich hofft man immer noch auf den Sieg, aber die vielen Verwundeten, die heimkehren, und die unzähligen Toten, die einfach auf den Schlachtfeldern liegen bleiben, lassen die Menschen zunehmend an dem von den Kriegsherren in Deutschland und Österreich verordneten Optimismus zweifeln. Zudem ist die Lebensmittelversorgung der Stadt Wien, wie die des ganzen Landes, bedroht, und im Mai 1916 kommt es zu ersten Hungerkrawallen. Milch, Kaffee, Brot, Butter und andere Lebensmittel werden rationiert, gefüllte Brotkörbe in Restaurants gibt es nicht mehr – man muss nun sein Gebäck selbst mitbringen –, und die Not wird unübersehbar. Da die meisten Männer an der Front sind, werden Frauen als Schaffnerinnen und in anderen Berufen eingesetzt – es ist der Beginn einer Zeit, in der dem »schwachen Geschlecht« mit dem angeblich niedrigeren Intelligenzquotienten plötzlich mehr zugetraut wird, als sich nur um Heim und Herd zu kümmern.

All diese großen Veränderungen, die nicht nur Wien, sondern ganz Europa betreffen, verfolgten die Brüder Ferdinand und Gustav Bloch-Bauer mit Besorgnis, zumal auch der Zucker rationiert und die Not täglich größer wurde. Aber noch gibt es das große Habsburgerreich unter Kaiser Franz Joseph I., den deutschen Kaiser und den Zaren von Russland. Niemand ahnt, dass nur ein Jahr später die Revolution in Russland Nikolaus II. und das Zarenreich hinwegfegen werden, dass sich nach einem verlorenen Krieg Kaiser Wilhelm II. ins holländische Exil begeben sollte und der Habsburger Thronfolger Kaiser Karl I. und seine Frau Zita eine 700 Jahre alte Dynastie hinter sich lassen und ebenfalls ins Exil gehen würden. 1919 werden drei große Monarchien von der Bildfläche verschwunden sein, und die gesamte europäische Landkarte hat sich für immer verändert.

Die kleine Marie, genannt Maria, wächst trotz der großen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen jener Zeit unter der Aufsicht ihrer Eltern behütet heran und wird von ihrem protestantischen Kindermädchen, Fräulein Emma Raschke, heiß geliebt. Marias Mutter ist darauf bedacht, ihre Tochter nicht zu sehr zu verwöhnen, und Maria wird später erzählen, sie habe als Kind ihre Kleider lange tragen müssen, bevor es ein neues gab. Es ziemte sich nicht, zu zeigen, was man hatte. Eine derartige Prahlerei hätte das gesellschaftliche Umfeld als vulgär empfunden. Geradezu verschwenderisch großzügig hingegen ist die Familie, wenn es um Kunst, Literatur und vor allem um Musik geht. Marias Vater Gustav ist ein begeisterter Musiker, der wöchentlich zu Kammermusikabenden einlädt und selbst das Cello spielt. Die Brüder Rothschild, denen er regelmäßig im »Tempel«, einem der jüdischen Gebetshäuser in Wien, begegnet und die seine Leidenschaft für dieses Instrument kennen, haben ihm auf Lebenszeit ein echtes Stradivari-Cello geliehen, das nun in einem verschlossenen Musikschrank verwahrt wird und sein ganzer Stolz ist.

Bevor die Nazi-Plünderer ab 1938 die jüdischen Familien in Österreich auszurauben beginnen, werden Juden per Gesetz zu Vermögensangaben gezwungen. Offizielle Stellen wissen also genau, wo was zu finden ist, und die Rothschilds, die Gustav das Cello geliehen hatten, haben das Instrument auf ihrem Vermögensnachweis notgedrungen angegeben. Und so fragen die Männer von der Gestapo, als sie eines Morgens am Haus in der Stubenbastei klingeln – und Gustav glücklicherweise gerade einen Spaziergang macht –, direkt nach dem Stradivari-Cello, das an diesem Tag für immer verschwinden wird. Maria Altmann wird später sagen, ihr Vater sei wenige Wochen nach diesem Vorfall gestorben – »an gebrochenem Herzen«; schließlich hatte man ihm nicht irgendein Instrument geraubt, sondern sein, wie er stets zu sagen pflegte, »sechstes Kind«.

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Aber noch ist das Jahr 1938 in weiter Ferne.

Maria besucht ab 1926 eine Schule für höhere Töchter, deren Schülerinnen meist aus jüdischen Familien stammen. Die 1911 gegründete und nach Eugenie Schwarzwald benannte Schule basiert auf reformpädagogischen Grundsätzen und fördert die individuellen Begabungen ihrer Schützlinge. Eine auch nach heutigen Gesichtspunkten moderne Einrichtung. Es ist die erste Schule in Österreich, auf der Mädchen die Matura ablegen dürfen. Allerdings ist nicht anzunehmen, dass für die wohlhabenden Töchter eine akademische Ausbildung mit späterem Universitätsabschluss geplant war. Vielmehr ging es darum, den jungen Damen eine solide Allgemeinbildung angedeihen zu lassen, sodass sie moderne Sprachen beherrschen und in der Gesellschaft konversieren können. Es gehörte einfach zum guten Ton, auch als Mädchen eine ausgezeichnete Bildung vorweisen zu können. Diese Schuljahre werden vermutlich dazu beigetragen haben, dass Maria sich zu jener selbstbewussten Frau entwickeln konnte, die sie später wurde.

Zu ihrer Tante Adele, die mit Kindern nicht viel anzufangen weiß, hat Maria zwar regelmäßig Kontakt – wobei sich meistens das Gefühl einstellt, von ihr nicht wirklich wahrgenommen zu werden. Als das Mädchen neun Jahre alt ist, verstirbt die Tante völlig unerwartet, deren Erscheinungsbild, Ausdrucksweise, Autorität und Extravaganzen Maria trotz aller Fremdheit nachhaltig beeindruckt haben und an die sie sich ein Leben lang erinnern wird.

Tante Adele, Klimt und die Wiener Moderne

»Du brauchst kein Kunstgelehrter zu werden, aber Du musst wissen, was echt ist, was Styl ist.«

Adele Bloch-Bauer 1921 an ihren Neffen

Adele Bauer wird am 9. April 1881 als Tochter des Bankiers Moritz Bauer und dessen Frau Jeanette Bauer, geborene Honig, in Wien geboren. Die Familie hat insgesamt sieben Kinder, und sie ist die jüngste Tochter. Mit 15 Jahren stürzt sie der Tod ihres Lieblingsbruders Karl in eine tiefe Trauer. Diesen Schmerz wird sie zeit ihres Lebens mit sich herumtragen. Sie wird eine ernste, selten lachende, stets die Tiefe suchende Frau.

Adeles Leben ist kurz, aber intensiv. Bereits als junge Frau weiß sie, was sie will, was sie interessiert, mit wem sie Umgang haben möchte und welche politische Haltung für sie die richtige ist. Einzig in der Frage der Familiengründung folgt sie dem Rat ihrer Eltern und entscheidet sich für die damals übliche arrangierte Ehe. Sie heiratet im Jahr 1899 den fast doppelt so alten Ferdinand Bloch, der sie verehrt und ihr all den Freiraum lassen wird, den sie für sich reklamiert. Die Ehe bleibt nach zwei Fehlgeburten und dem Tod eines Säuglings kinderlos.

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8 Maria und ihre neun Jahre ältere Schwester Luise, um 1925

Ihrer sieben Jahre älteren Schwester Therese gegenüber empfindet sie zwar familiäre Nähe, aber keine Wesensverwandtschaft. Therese ist angepasst, Adele wird es im Laufe ihres kurzen Lebens immer weniger sein. Gerne hätte sie studiert, wissenshungrig, wie sie nun mal ist – aber das kommt für eine junge Dame aus ihrer Gesellschaftsschicht nicht infrage. Auch ist das Frauenstudium in Wien erst seit 1897 überhaupt zugelassen, jedoch noch nicht in allen Fächern. Alles, was ihr eine akademische Ausbildung hätte vermitteln können, bringt sich Adele deshalb durch intensive Beschäftigung mit Literatur, Kunst, Politik und Geschichte selbst bei. Sie liest nicht nur – sie geht den Dingen auf den Grund, sie will alles verstehen, Zusammenhänge herstellen, aus eigener Reflexion urteilen; sie will auf der Höhe ihrer Zeit sein. Ihr Anspruch an sich selbst könnte nicht ehrgeiziger sein, und ihren Idealen gerecht zu werden verlangt sie auch von anderen. An ihren Neffen Robert, der ihr besonders am Herzen liegt, schreibt sie 1921 in einem Brief:

»Du brauchst kein Kunstgelehrter zu werden, aber Du musst wissen, was echt ist, was Styl ist. Du musst sehen lernen. Denn wenn Du den ›Muschelsaal‹ in Potsdam schön findest, dann kann Dir ein Rembrandt, ein Vermeer nicht gefallen. Du musst das Gefühl für Qualität bekommen. Wenn Du mit Genuß die großen Werke der Kunst, der bildenden und der Dichtkunst, verstehend genießt, dann wirst Du auch die Menschen ermessen können, ob sie zu den qualitativ wertvollen oder wertlosen gehören.«

Aus diesen Zeilen spricht das Ideal klassischer Bildung und der Glaube, dass sich »wertvolle« Menschen an ihrer Liebe zur Kunst und ihre Humanität an ihrem Urteilsvermögen in künstlerischen Fragen erkennen lassen. Nur ein Jahrzehnt später wird von Adeles Idealismus nicht mehr viel mehr übrig sein, und solche Plädoyers werden für lange Zeit verstummen.

Adele ist nicht die Einzige, die in Wien so denkt. Wien ist, wie London und Paris, ein Zentrum geistiger Bewegungen in Europa. Intellektuelle, Schriftsteller, Musiker und Künstler zieht die Stadt wie ein Magnet an, aber sie erwartet auch viel von ihnen. Das Wiener Publikum ist es gewohnt, dass die Künstler nicht nur ihr Bestes geben, sondern neue und immer höhere Maßstäbe setzen. Stefan Zweig wird in Die Welt von gestern von einem »Kennertum ohnegleichen« sprechen, das es in Wien auf allen »kulturellen Gebieten« gab.