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ISBN: 978-1-78310-679-0

Nathalia Brodskaïa

 

 

 

Surrealismus

Die Geschichte einer Revolution

 

 

 

 

 

INHALT

 

 

Surrealismus

GIORGIO DE CHIRICO: DER WEGBEREITER DES SURREALISMUS

DER KRIEG – DER STIMULUS FÜR DADA

DADA – DIE WIEGE DES SURREALISMUS

DADA AUSSERHALB VON ZÜRICH

DADA IN PARIS

DIE TAUFE DES SURREALISMUS

DIE ENTWICKLUNG DES SURREALISMUS

DIE SURREALISTEN VOR DEM SURREALISMUS

MAX ERNST 1891 bis 1976

YVES TANGUY 1900 BIS 1955

Joan Miró 1893 BIS 1983

André Masson 1896 BIS 1987

René Magritte 1898 BIS 1967

Salvador Dalí 1904 BIS 1989

Paul Delvaux 1897 BIS 1994

Surrealismus ohne Grenzen

INDEX

ANMERKUNGEN

Giorgio de Chirico, Portrait von Guillaume Apollinaire, 1914.

 

 

Surrealismus

 

 

GIORGIO DE CHIRICO: DER WEGBEREITER DES SURREALISMUS

 

Die Geschichte des Surrealismus birgt eine wunderschöne Legende in sich: Ein Seemann kehrt nach einer langen Reise nach Paris zurück. Sein Name ist Yves Tanguy. Als er gerade mit dem Bus die Rue La Boétie entlang fährt, sieht er plötzlich im Schaufenster einer der zahlreichen Kunstgalerien ein Bild. Vor dem Hintergrund einer dunklen, geisterhaften Stadt ist der nackte Oberkörper eines Mannes abgebildet. Vor ihm auf einem Tisch liegt ein Buch, aber der Mann sieht nicht hin. Seine Augen sind geschlossen. Noch während der Fahrt springt Yves Tanguy aus dem Bus und läuft zu dem Schaufenster, um das merkwürdige Bild genauer zu betrachten. Der Titel des vom italienischen Maler Giorgio de Chirico gemalten Bildes lautet Das Gehirn des Kindes. Die Begegnung mit diesem Bild bestimmt fortan das Schicksal des Seemanns, denn Tanguy beschließt, für immer an Land zu bleiben und Künstler zu werden, obwohl er noch nie zuvor einen Stift oder Pinsel in die Hand genommen hatte.

Diese Geschichte ereignete sich im Jahre 1923, also ein Jahr, bevor der Dichter und Psychologe André Breton sein Surrealistisches Manifest in Paris veröffentlichte. Zwar erhebt diese Legende, wie jede andere, keinen Anspruch auf Detailtreue, aber eines ist sicher: das Bild von Giorgio de Chirico hinterließ einen so nachhaltigen Eindruck, dass es zu einer der Ursprünge der surrealistischen Kunst wurde, die sich nach dem Ersten Weltkrieg zu entwickeln begann. Das Gehirn des Kindes faszinierte neben Yves Tanguy aber auch noch jemand anderen:

Ich fuhr gerade mit dem Bus die Rue La Boétie entlang. Als ich an den Schaufenstern der alten Galerie Paul Guillaume vorbei kam, wo das Bild gerade ausgestellt war, sprang ich plötzlich auf, um auszusteigen und es mir genauer anzusehen, erinnerte sich André Breton später. „Ich konnte lange Zeit an nichts anderes mehr denken und das Bild ließ mir solange keine Ruhe, bis es mir endlich gelang, es zu erwerben. Einige Jahre später kehrte das Bild dann, anlässlich einer allgemeinen de Chirico-Ausstellung, von meinem Haus an seinen ursprünglichen Ausstellungsort zurück in das Schaufenster der Galerie Paul Guillaume. Dort löste es bei einer anderen Person, die den selben Weg mit dem Bus fuhr, genau die gleiche Reaktion aus, die es jetzt, wo es wieder bei mir an der Wand hängt, immer noch bei mir auslöst, obwohl meine erste Begegnung mit diesem Bild schon so lange zurück liegt. Und diese Person war Yves Tanguy.[1]

Wie sich die Dinge genau zugetragen haben, ist von eher nebensächlicher Bedeutung, entscheidend ist, dass de Chiricos Bilder eine außergewöhnliche Wirkung auf die künftigen Surrealisten ausgeübt haben, wie es die Künstler selbst auch richtig erkannten. Erklären konnte man dieses Phänomen allerdings erst im Laufe der Zeit, nachdem die Bilder der europäischen Surrealisten bereits zu den legendären Kunstwerken zählten und die Zeit reif war, Bilanz zu ziehen und ihre künstlerische Sprache zu interpretieren.

Die geschlossenen Augen der de Chirico–Figur wurden als Appell an die Romantiker und Symbolisten interpretiert, die Welt nicht mit dem physischen, sondern mit dem inneren Auge zu betrachten und sich über die brutale Realität zu erheben. Gleichzeitig stellt der Künstler seine Figur nüchtern naturalistisch dar. Das Gesicht mit dem gewöhnlichen Gesichtsausdruck, die abstehenden Ohren, der vornehme Schnurrbart und der kleine Kinnbart, in Kombination mit einem Körper, der zwar bei Weitem nicht unathletisch ist, aber einfach etwas zu viel Raum einnimmt, sind typische und zugleich wesentliche Merkmale. Die geheimnisvolle Stimmung und Entrücktheit in diesem Bild wirken durch diese Widersprüche erschreckend echt. Mit seinem metaphysischen Gemälde setzte de Chirico seinen Zeitgenossen ein Beispiel für die Sprache des Surrealismus. Salvador Dalí definierte sie später als „Die Fixierung von Traumbildern in trompe l’oeil“[2]. Jeder Surrealist setzt dieses Prinzip in seiner ganz eigenen Weise um, aber genau darin liegt die Qualität ihrer die Grenzen der Realität überwindenden Kunst. Ohne Giorgio de Chirico hätte es den Surrealismus so nie gegeben.

Das Schicksal verband Giorgio de Chiricos Leben mit den Orten und Landschaften, die seine Fantasie anregten. Er wurde 1888 in Griechenland geboren, da sein Vater dort im Eisenbahnbau beschäftigt war. Seine Geburtsstadt war Volo, die Hauptstadt von Thessalien, wo der griechischen Sage nach die Argonauten ihre Suche nach dem Goldenen Vlies begannen. Die lebhaften Erinnerungen an die klassische Architektur Athens ließen Giorgio de Chirico sein ganzes Leben lang nicht los. „All diese prächtigen Sehenswürdigkeiten, die ich in meiner Kindheit in Griechenland zu sehen bekam (ich habe nie wieder etwas vergleichbar Schönes gesehen), haben mich ohne Zweifel tief beeindruckt und sich fest in meine Seele und mein Gedächtnis eingebrannt“, schrieb er in seinen Memoiren.[3]

In fast jedem seiner Bilder spiegeln sich seine Erinnerungen an die klassische Architektur und die Skulpturen des alten Griechenland wider. In Griechenland nahm er seinen ersten Zeichenunterricht. Mit zwölf Jahren begann de Chirico an der Akademie der Schönen Künste in Athen zu studieren. Nach dem Tod seines Vaters ging er schließlich im Alter von sechzehn Jahren gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Italien. Dort entdeckte de Chirico die wundervollen italienischen Städte, in denen der Geist des Mittelalters noch immer zu spüren war – Florenz, Mailand, Turin, Venedig und Verona.

Geprägt von den Eindrücken dieser Städte und seinen Erinnerungen an Griechenland schuf de Chirico sich in seinen Bildern seine eigene kleine Welt. Da die Bilder aus seiner Jugend, seiner sogenannten „Arkaden-Periode“, von einer Qualität sind, die avantgardistische Gemälde dieser Zeit oft vermissen lassen, sind sie besonders faszinierend. De Chirico entwarf seine Traumstadt – eine am Ufer eines tiefblauen Meeres gelegene weiße Stadt. Ihre geraden Straßen waren, wie in Turin oder Ferrara, von Arkaden gesäumt und mündeten in einem großen, mit antiken Skulpturen verzierten Platz. Aber die Stadt war vollkommen leer und unbewohnt. Nur vereinzelt gewährte die Straße dem Betrachter einen Blick auf einen Menschen und manchmal war es noch nicht einmal der Mensch selbst, sondern lediglich sein Schatten. An einigen Orten lehnte noch ein vergessener Spazierstock an der Wand und manchmal trieb sich ein kleines Mädchen auf der Straße herum, ganz allein in einer menschenleeren Stadt.

Vielleicht war diese sonderbare Stadt schon mal jemandem im Traum erschienen: sie hatte etwas Unwirkliches. Die Steine der Gebäude und die Schatten, die sie warfen, wirkten erschreckend echt, aber zugleich barg die Stadt auch etwas Geheimnisvolles in sich, eine leise Ahnung von einer anderen Welt, die wir zwar versuchen können, uns vorzustellen, die jedoch nur wenige Auserwählte tatsächlich zu sehen bekommen. Der surrealistische Dichter Paul Éluard widmete Giorgio de Chirico die folgenden Zeilen:

Eine Mauer kündet von einer anderen Mauer

Und der Schatten beschützt mich vor meinem furchtsamen Schatten

Oh Kreis meiner Liebe um meine Liebe

Alle Mauern umspinnen weiß meine Stille.

Du, was hast du schon verteidigt? Himmel, gefühllos und rein,

Zitternd verbargst du mich. Das Lichtrelief

Am Himmel, der nicht mehr Spiegel der Sonne ist

Die Tagessterne zwischen den grünen Blättern,

Die Erinnerungen an jene, die ohne Wissen sprachen,

Herren meiner Schwächen, und ich bin an ihrer Statt

Mit liebenden Augen und Händen, zu treu

Um eine Welt zu entvölkern, in der ich nicht bin.[4]

Das Leben schenkte Giorgio de Chirico eine weitere wundervolle Gelegenheit: Er verbrachte zwei Jahre in München, wo er nicht nur Malerei, sondern auch klassische deutsche Philologie studierte.

„Um originelle, außergewöhnliche und vielleicht sogar unsterbliche Ideen zu haben“, schrieb Schopenhauer, „muss man sich einfach nur für ein paar Sekunden so vollkommen von der Welt und den Dingen isolieren, dass einem die meisten gewöhnlichen Gegenstände und Ereignisse völlig neu und unbekannt erscheinen, um auf diese Weise das Wesentliche an ihnen zu entdecken“.[5]

In München entdeckte de Chirico einen Malstil, der das tief in seiner Seele schlummernde Verlangen nach Mystischem weckte, er lernte Arnold Böcklin kennen. Giorgio de Chirico kam 1911 nach Paris und ließ sich im Künstlerviertel Montparnasse auf der Rue Campagne-Premiere nieder. Als seine Gemälde im Salon dautomne auftauchten, sahen die Pariser Künstler den de Chirico, der sie später mit dem Gehirn des Kindes beeindrucken sollte und der schrieb: „Nicht was ich höre, sondern was ich mit offenen Augen sehe ist wichtig, aber noch viel wichtiger ist, was ich sehe, wenn meine Augen geschlossen sind.“[6] Giorgio de Chirico selbst nannte seine Kunst „metaphysisch“.

Giorgio de Chirico, Frühling in Turin, 1914.

Giorgio de Chirico, Melancholia, 1912.

 

 

Giorgio de Chirico erschien zur rechten Zeit am rechten Ort. Für die jungen Leute in Montmartre und Montparnasse war er eine Inspiration und fast schon eine Art Heiliger. De Chirico malte 1914 vor dem Hintergrund eines Fensters das Profil Apollinaires mit einem weißen Kreis an seiner Schläfe. Als Apollinaire kurze Zeit später an die Front ging, wurde er an der Schläfe verwundet und zwar genau an der auf dem Gemälde abgebildeten Stelle. Von da an galt der Künstler als Visionär und man sprach ihm die Fähigkeit zu, in die Zukunft blicken zu können. Guillaume Apollinaire selbst, der ein glühender Verehrer des Kubismus und Theoretiker der Kunst, Farben und Formen war, wurde von der romantischen Mystik des de Chirico-Bildes schier überwältigt. Er widmete ihm ein Gedicht, das zum Leitbild der sich später entwickelnden surrealistischen Literatur wurde und nannte es Ein Meer aus Land:

Ich baute ein Haus mitten im Meer

Seine Fenster sind Flüsse, die aus meinen Augen fließen

An allen Seiten tummeln sich Kraken oder hängen sich an seine Mauern

Lauscht nur ihrem dreifachen Herzschlag und dem Klopfen ihrer Schnäbel

an den Fenstern.

Feuchtes Haus

Brennendes Haus

Schnelle Zeit

Singende Zeit

Die Flugzeuge legen Eier

Passt auf, sie legen gleich an

Passt auf, wo sie ihre Tinte verspritzen

Ihr solltet den Himmel nun besser verlassen.

Das Geißblatt des Himmels rankt sich immer weiter empor

Die irdischen Kraken zittern

Wir werden mehr und mehr, wir könnten wir unsere eigenen

Totengräber sein

Blasse Kraken auf kreideweißen Wellen, Oh Kraken mit blassen Schnäbeln

Das Haus ist umgeben von jenem dir so vertrauten Meer,

Das niemals ruht.[7]

Giorgio de Chirico holte an die Oberfläche, was tief in dieser Kunst des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts verborgen lag. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte fand der Geist de Chiricos seinen Weg in die Malerei der surrealistischen Künstler. Bezüge zu seinen Bildern tauchten sowohl auf ihren Leinwänden als auch in mystischen Zeichen und Symbolen auf, die aus seinen Ideen entstanden sind. Die von ihm entworfenen Puppen verlängerten ihr Leben. Um jedoch das Saatkorn der Kunst de Chiricos zum Keimen zu bringen, musste die junge Generation des Zwanzigsten Jahrhunderts erst die Erfahrung eines Umbruchs machen.

Carlo Carrà, Das verzauberte Zimmer, 1917.

Giorgio de Chirico, Hektor und Andromache, 1917.

 

 

DER KRIEG – DER STIMULUS FÜR DADA

 

Die Kunst des Surrealismus war das unmittelbare Produkt jener Zeit, und diejenigen Künstler und Literaten, die sie schufen, gehörten einer im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts geborenen Generation an. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war jeder von ihnen so um die zwanzig Jahre alt. Nach den ungeheuren Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, der Vernichtung von Millionen von Menschen in Konzentrationslagern und der Zerstörung japanischer Städte durch die Atombombe verblassten die vorherigen Kriege zu weit entfernten, historischen Ereignissen. Es ist danach schwer vorstellbar, welches Desaster, ja, welche Tragödie bereits der Erste Weltkrieg für die Menschen bedeutete. Die ersten Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts waren gezeichnet von Konfliktausbrüchen in den verschiedensten Teilen der Welt, was den Menschen das Gefühl vermittelte, auf einem Vulkan zu leben.

Dennoch kam der Kriegsausbruch für sie überraschend. Am 28. Juni 1914 ermordete der Student Gavrilo Princip in der serbischen Stadt Sarajevo den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau. Auf dem Balkan brach ein Krieg aus, und danach überschlugen sich die Ereignisse: Da ein Serbien gestelltes Ultimatum nicht akzeptiert wurde, erklärte Österreich Serbien den Krieg. Am 30. Juli befahl Russland die Generalmobilmachung zur Unterstützung Serbiens. Deutschland war Bündnispartner Österreichs und erklärte am 1. August Russland den Krieg. Am 3. und 4. August erklärten die Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg.

Nur der Sieg über die Deutschen in der Schlacht an der Marne vom 5. bis 12. September 1914 bewahrte Paris vor der Zerstörung. Gleichzeitig begann damit jedoch auch ein sich zum Albtraum entwickelnder langwieriger Stellungskrieg. Zehntausende junger Männer aus allen Ländern, die in den Krieg gezogen waren, kehrten niemals nach Hause zurück und wurden statt dessen Opfer von Granatsplittern, starben in den Schützengräben an Krankheiten oder wurden von dem von den Deutschen in diesem Krieg erstmals 1916 eingesetzten Gas vergiftet. Viele kehrten als Kriegsinvaliden zurück und starben später an den Folgen ihrer Verletzungen. Und genau diese Generation schuf schließlich die Kunst des Zwanzigsten Jahrhunderts und setzte die mutigen Anfänge ihrer Vorgänger fort.

Vor dem Krieg erfreute sich das künstlerische Leben von Paris einer schier vollkommenen und überwältigenden Freiheit. Die Impressionisten und die Meister des Post-Impressionismus entfesselten die Hände der Künstler. Das durch Schulen oder Tradition vermittelte Gefühl der Grenzen der Kunst verschwand völlig. Junge Künstler konnten sich alles Mögliche und Unmögliche erlauben. Die Kühnheit der Generation des späten Neunzehnten Jahrhunderts veranlasste sie, Farben und Formen genau zu studieren. Der junge Maler und Kunsttheoretiker Maurice Denis fasste erstmals 1890 in Worte, was diese Künstler gerade von den Werken ihrer Vorgänger zu verstehen begannen: „Bevor ein Gemälde zum Schlachtross, weiblichen Akt oder einer sonstigen Art von Darstellung wird, ist es im Grunde nur eine glatte Fläche, die mit systematisch aufgetragenen Farben bedeckt ist.“[8]

Das Wichtigste bei der Malerei waren die Farben, und deshalb benötigte man eine spezielle Form der Untersuchung. Bereits in den 1880ern wandten sich Seurat und Signac mit dem Ziel an Chemiker und Physiker, eine Wissenschaft der Farben zu begründen, die sie für eigene Zwecke verwenden konnten. Die Struktur der auf die Leinwand aufgetragenen Farbe beeinflusst ihre Kraft. Die nervöse Expressivität der farbenreichen Striche in van Goghs Bildern faszinierte junge Künstler auf den nach dessen Tod stattfindenden Ausstellungen.

Bereits 1884 wurde der Salon des Independants in Paris gegründet, wo jeder, der Interesse hatte, seine Werke ausstellen konnte, ohne sich vorab der üblichen akademischen Beurteilung unterziehen zu müssen. Die Künstler, die offiziell nie an dem zuvor gegründeten Salon teilgenommen hatten, gründeten 1903 ihren eigenen Salon dAutomne, in dem Matisse und seine Gruppe dann 1905 den Namen Fauves (die Wilden) erhielten, weil die Gewalt ihrer Farben Assoziationen von Raubtieren und wilden Kreaturen im Urwald weckte. Dem Schriftsteller Guillaume Apollinaire, der ein großer Bewunderer von Matisse’ Kunststil war, gelang es 1907, ein Interview mit ihm zu führen. In seinem Artikel zitierte er die Worte des Künstlers: „Ich habe Farben und eine Leinwand und ich muss mich klar, ja fast schon einfach, ausdrücken, indem ich drei bis vier Farbpunkte oder drei bis vier starke Linien zeichne“.[9]

In der Cézanne-Ausstellung im Oktober 1906, unmittelbar nach dem Tod des Künstlers, richteten sich die Augen aller jungen Künstler auf die Form eines Gegenstandes. In den Werken der in großen Mengen nach Europa gelangten „primitiven“ Kunst, den Figurinen afrikanischer und ozeanischer Meister, entdeckten sie abstrakte Formen. Das eindrucksvollste Ergebnis dieser Offenbarungen war Picassos Kubismus, der 1907 seinen Freunden sein erstes kubistisches Bild zeigte: die Demoiselles dAvignon.

Ähnliche Annäherungsprozesse an diese neue Expressivität der Farben und Formen vollzogen sich in jenen Jahren auch in anderen europäischen Ländern. In Dresden wurde 1905 die Brücke gegründet, die mit den Parisern im Bereich der Farben wetteiferte. Anschließend stritten sich deutsche Künstler mit den Franzosen darüber, wer als Erster die „primitive“ Kunst entdeckt habe. Das Futuristische Manifest wurde 1909 zunächst in Mailand und dann in Paris veröffentlicht. Sein Autor, Filippo Tommaso Marinetti, schrieb: „Was unsere Dichtkunst ausmacht, sind Mut, Verwegenheit und Auflehnung.“ Die Futuristen waren die Ersten, die sich gegen überholte Grundsätze und Gepflogenheiten in Kunst und Kultur zur Wehr setzten.

„Nieder mit Museen und Bibliotheken!“ schrieb Marinetti. „Wir erstellen dieses glühende Manifest zur Proklamation der Begründung des Futurismus, denn wir wollen dieses Land von dem bösartigen Tumor in seinem Inneren befreien – von Professoren, Archäologen, Ciceronen und Antiquaren. […] Eilt zu uns! Brennt Bibliotheken nieder! Staut die Kanäle auf und versenkt die Museen! Ha! Lasst die Strömung die berühmten Gemälde wegschwemmen. Greift euch die Spitzhacken und Hämmer! Zerstört die Mauern der ehrwürdigen Städte!“[10]

Die Form wurde eingesetzt, um die Geschwindigkeit dieser Bewegung und die Dynamik der neuen industriellen Welt widerzuspiegeln. In Russland bemühte sich der Künstler Kazimir Malewitsch, die Kunst den Fesseln der Literatur zu entreißen und sie zu befreien „… von allen Inhalten, die sie seit Tausenden von Jahren gefangen halten.“[11]

Malerei und Bildhauerkunst wurden von literarischen Elementen befreit, nur das Motiv blieb, um eine Angleichung von Form, Farbe und Bewegung anzuregen. Zur Veröffentlichung des gleichnamigen Almanachs schloss sich in München unter der Bezeichnung Der Blaue Reiter“ eine Gruppe von Künstlern zusammen, darunter auch der Russe Wassily Kandinsky. In ihren Bildern zeigte sich die gesamte Fülle der Farben, wie sie sich der europäischen Avantgarde gerade erst offenbarte. Kandinsky malte 1910 sein erstes Aquarell, in dem nichts anderes als ein Fleck aus Farben und Linien zu sehen war. Die natürliche Konsequenz einer so rasanten künstlerischen Entwicklung war die Entstehung abstrakter Gemälde. Mit bourgeoiser Ästhetik ging die künstlerische Avantgarde recht schonungslos um.

Aber nicht weniger wichtig war die Tatsache, dass die neue Kunst international wurde. Paris zog Umstürzler aus aller Welt an, all jene, die in der Lage waren, Alternativen zum gewohnten, eingefahrenen Weg zu finden. In Montmartre und später im Viertel des Boulevard Montparnasse entstand plötzlich eine ganz besondere Welt der Kunst. Etwa um 1900 „… beherbergte ein ungemütliches Holzhaus in Montmartre, das Bateau-Lavoir, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Schriftsteller, Humoristen, Schneider, Wäscherinnen und Straßenhändler.“[12]

Der Holländer Kees van Dongen zog ebenfalls dort ein, „… barfuß in Sandalen, mit seinem roten Bart, einer Pfeife im Mund und einem Lächeln auf den Lippen.“[13]

Salvador Dalí, Gala und der Angelus von Millet kurz vor
dem unmittelbaren Eintreffen der kegelförmigen Vexierbilder, 1933.

Hannah Höch, Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die
letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands, 1919-1920.

Francis Picabia, LŒil cacodylate, 1921. Öl und

Man Ray, Sonne der Nacht, 1943. Privatsammlung.

 

 

Ab 1904 lebte dann auch der Spanier Pablo Picasso mit seiner Pariser Freundin Fernande Olivier im unteren Geschoss des Hauses. Er war häufig von spanischen Dichtern, Künstlern und Bildhauern umringt, aber auch die Fauves aus dem Pariser Vorort Chatou gingen oft bei ihm ein und aus, darunter auch die Größen André Derain und Maurice de Vlaminck. Aber auch die Schriftsteller Max Jacob, André Salomon und viele andere gesellten sich oft zu dieser Gruppe. Ihre ideologische Inspiration bekamen sie von Guillaume Apollinaire. Er traf Picasso kurz nach seiner Ankunft in Montparnasse und wurde zu einem der glühendsten Verfechter des von Picasso entwickelten Kubismus. Diese internationale Kolonie von Montmartre wurde 1906 noch von Amedeo Modigliani, einem Italiener aus Livorno, verstärkt. Juden aus Polen und Russland sowie Deutsche, Rumänen, ja sogar Emigranten aus Japan und Lateinamerika schlossen sich der bunt gemischten Künstlergemeinschaft an, die der Journalist von Montmartre, André Vanaux, humorvoll „… die Pariser Schule“ nannte.

Diese pittoreske Welt von Montmartre, die in der Kunst dieser Männer eine eigenständige, inspirierende Kraft war, wurde durch den Krieg zerstört. Der Krieg war der Niedergang all ihrer Hoffnungen. Die Pariser Deutschen mussten nach Deutschland zurückkehren und die Waffen gegen ihre Freunde erheben. Die Franzosen wurden ebenfalls mobilisiert, einige gingen an die Front, andere, wie de Vlaminck, arbeiteten in Munitionsfabriken. Im Dezember 1914 schrieb Apollinaire:

All die Erinnerungen an gerade vergangene Momente

Oh meine Freunde, sie zogen in den Krieg

Wo sind sie nur, Braque und Max Jacob

Derain, mit Augen so grau wie die Dämmerung

Wo sind Raynal Billy Dalize

Deren Namen von Melancholie widerhallen

Wie Schritte in einer Kirche

Wo ist Cremnitz, der neue Rekrut

Vielleicht sind sie längst alle tot …[14]

Apollinaires Gedicht ist voll von nostalgischen Gefühlen für alles, was der Krieg ihnen genommen hatte – Liebe, Romantik, die Schönheit der Natur, die endlosen Freuden von Paris. Für sie wurde das Strahlen der Sternennacht ersetzt durch die Blitze des Kanonenfeuers:

Am Himmel leuchten die Geschosse der Boches

der verzauberte Wald, mein Aufenthalt, lädt zum Ball

und das Maschinengewehr trillert eine Melodie in Zweiunddreißigstelnoten [15]

Apollinaires Einsatz an der Front war nur sehr kurz – er wurde schwer verwundet und kam am 17. März 1916 zurück nach Paris. Um ihn versammelten sich alte Freunde, aber auch Künstler und Schriftsteller, die gerade erst nach Montparnasse gekommen waren, darunter auch Max Jacob, Raoul Dufy, Francis Karko, Pierre Reverdy und André Breton. Der schwarze Verband, den Apollinaire nach seiner Kriegsverletzung um seinen Kopf trug, galt fortan als Heldensymbol. Dennoch widerstrebte vielen, die sich um die Barde der „… im Stich gelassenen Jugend“ gesellten, der ungezügelte Patriotismus, der Frankreich zu jener Zeit überrollte.

Herausragende Persönlichkeiten in der Kunst, wie Anatole France, Edmond Rostand, Jean Richepin, Madame de Noialles und andere, priesen das Heldentum der für ihr Land gestorbenen Soldaten, sie predigten Hass gegenüber dem Kaiser und riefen zum Sieg auf. Sie bezeichneten Romain Rolland als Verräter, weil er sich hartnäckig gegen den Krieg wehrte. André Breton, der ein großer Verehrer Apollinaires war, kritisierte ihn jedoch dafür, dass er nicht über die Angst einflößende Realität seiner Zeit sprach und auf das Grauen des Krieges nur mit dem Wunsch reagierte, in die Kindheit zurückkehren zu wollen. Dennoch unterstützten Apollinaire und andere Schriftsteller während des Krieges die modernistische Kunst.

Die erste Ausgabe der Zeitschrift SIC erschien 1916 in Paris, die modernistischen Schriftstellern und Künstlern eine Chance bot, ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Sie erschien drei Jahre lang, bis 1917 ein Konkurrenzblatt auftauchte. Der Dichter Pierre Reverdy veröffentlichte die Zeitschrift Nord-Sud mit dem Ziel, als vereinigende Kraft zwischen modernistischer Literatur und visueller Kunst zu fungieren. „Ist es denn verwunderlich“ schrieb Reverdy, „wenn wir denken, jetzt sei eine gute Zeit, sich um Guillaume Apollinaire zu scharen?“[16]

Viele der künftigen Surrealisten, wie z. B. die Schriftsteller Philippe Soupault und Louis Aragon, der Künstler Francis Picabia und manch anderer, verdankten den Beginn ihrer Berühmtheit diesen Zeitschriften. Als schließlich Tristan Tzara in Paris auftauchte, wurde dieser Künstlerkreis so richtig belebt. Im Frühling 1917 kündigte Max Jacob den „… Advent des rumänischen Schriftstellers Tristan Tzara“ an und in einem Artikel in der SIC mit der Überschrift Die Geburt Dadas wurde angekündigt: „Der rumänische Schriftsteller Tristan Tzara und der Künstler Janko bringen eine Kunstzeitschrift mit sehr interessanten Inhalten heraus. Die zweite Auflage von Dada erscheint schon bald.“[17]

Peter Blume, Süden von Scranton, 1931.

George Marinko, Sentimentale Aspekte des Pechs, um 1937.

 

 

DADA – DIE WIEGE DES SURREALISMUS

 

Dada – das war eigentlich der Name einer Zeitschrift. Aber Dada war viel mehr als nur eine Zeitschrift: Dada war eine Vereinigung gleich gesinnter Menschen, eine Bewegung, die auch die internationale künstlerische Avantgarde mit einschloss. Dada war der gleichzeitig in verschiedenen Ländern der Welt stattfindende Ausbruch emotionaler Reaktionen und Tendenzen. Dada war eine Auflehnung gegen die traditionelle Kunst und die Dadaisten.waren die Verfechter der Antikunst. Dada war die Wiege des Surrealismus, in der er seine ersten Worte sprach, seine ersten Bewegungen machte und sehr schnell wuchs und gedieh. Die Dada-Bewegung war das erste Kapitel des Surrealismus.

Obwohl Dada auch in Amerika zeitgleich viele Anhänger fand, wird Zürich meist als die Geburtsstätte von Dada betrachtet. In Europa weitete sich die Dada-Bewegung allmählich in verschiedene Ländern aus. Die kleine Schweiz war offiziell das einzige neutrale europäische Land, die einzige Insel des Friedens, umgeben von den Gefechtsfeuern des Weltkrieges. Und genau hier fanden diese jungen Menschen, die sich nicht am europäischen Krieg beteiligen wollten, eine Zuflucht. Unter diesen vom Winde des Weltkriegs nach Zürich Verwehten waren auch die Deutschen Richard Huelsenbeck und Hugo Ball, die Rumänen Tristan Tzara und Marcel Janko, der Elsässer Hans Arp sowie viele andere. Einige Schweizer Intellektuelle schlossen sich dieser Gruppe ebenfalls an. Das stärkste sie vereinigende Band war ihre Abneigung gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung, deren Folge in ihren Augen das sinnlose Blutvergießen des Krieges war. Es befanden sich zwar Pazifisten jeglicher Couleur unter ihnen, sie organisierten aber keine Anti-Kriegs-Demonstrationen und nahmen auch nicht aktiv an politischen Bewegungen teil. Der Protest dieser überwiegend aus bürgerlichen Familien stammenden Künstler nahm besondere Formen an und richtete sich in erster Linie gegen die offizielle Kunst. Er bezog sich ausschließlich auf den Bereich der Literatur, des Theaters und der visuellen Künste.

Im Frühjahr 1915 ließen sich die Rumänen Tzara und Janko in Zürich nieder. Der Deutsche Hugo Ball eröffnete 1916 in einer der kleinen Gassen der Züricher Altstadt das Cabaret Voltaire. Er schilderte später, wie es dazu kam, dass der Restaurantbesitzer Jan Efraim ihm für das Kabarett in der Spiegelgasse einen Saal zur Verfügung stellte, und Hans Arp seinen Freunden Bilder von Picasso höchstpersönlich für die Ausstellungen anbot. Janko, Tzara und der Schweizer Max Oppenheimer waren bereit, im Cabaret Voltaire aufzutreten, und am 5. Februar fand dort das erste Konzert statt. „Madame Hennings und Madame Leconte sangen französische und dänische Lieder, Monsieur Tzara las rumänische Gedichte und ein Balaleika-Orchester spielte fröhliche russische Tänze und Volkslieder“, schrieb Ball in seinen Memoiren.[18]

Der Name Dada wurde am 8. Februar geprägt, als Tristan Tzara, die Leitfigur dieser neuen Bewegung, dieses Wort angeblich auf der Seite eines französischen Wörterbuches las, weil ein Brieföffner rein zufällig darauf zeigte. „Dada bedeutet nichts“, schrieb Tzara im Dada-Manifest 1918“. „Wie wir den Zeitungen entnehmen können, bezeichnet das westafrikanische Volk der Kru den Schwanz einer heiligen Kuh mit: DADA . In einer bestimmten Gegend Italiens sagt man zu Würfel und Mutter: DADA. Das Holzpferd, die Amme, die Doppelaffirmation ist im Russischen und Rumänischen: DADA.“[19]

Tzara, der gleichzeitig erklärte, dass er gegen jede Art von Manifest sei, schrieb weiter: „Und so entstand der Begriff Dada aus ihrem Misstrauen und aus dem Bedürfnis der Gemeinschaft nach Unabhängigkeit. Alle, die zu uns gehören, behalten ihre Freiheit. Wir erkennen keine Theorie an. Es gibt genug Kubisten und Futuristen: Werkstätten konventioneller Ideen. Wird Kunst etwa geschaffen, um Geld zu verdienen und dem netten Bourgeois um den Bart zu streichen?“[20]

Der Dada-Bewegung lag der Ehrgeiz zu Grunde, die alte Kunst ausnahmslos mit der Begründung zu vernichten, sie sei nicht frei und hätte sich nur durch die gesellschaftliche Ordnung etabliert, welche die Dadaisten zutiefst verachteten. Dada war die Negierung von Allem: „Jegliche Form von Hierarchie und sozialem Gleichgewicht, die von unseren Dienern als unser Wertesystem aufgestellt wurde: Dada; […] Abschaffung der Erinnerung: Dada; Abschaffung der Archäologie: Dada; Abschaffung von Propheten: Dada; Abschaffung der Zukunft: Dada […]“ schrieb Tzara.[21]

Seine Auffassung von Freiheit reichte sogar bis zur völligen Befreiung von der Logik: „Logik ist ein Hindernis. Logik ist irreführend. Sie beraubt Worte und Gedanken ihrer ursprünglichen Schärfe und zerrt sie weg von ihrer eigentlichen Aussagekraft hin zu Akzenten und Absichten, die trügerisch sind. Ihre Ketten sind tödlich und ersticken jede Form von Unabhängigkeit.“[22]

Im Cabaret Voltaire war immer etwas los. Anfangs waren seine Veranstalter zufrieden, Gedichte und musikalische Werke aufführen zu können, die hinsichtlich der konventionellen Geschmacksrichtungen relativ unbedenklich waren. Sie lasen Gedichte von Kandinsky und Blaise Cendrars und führten Liszts Rhapsodie Nr. 13 auf. Dann veranstaltete man russische und französische Abende. Am 14. März las Tzara bei einem solchen französischen Abend Gedichte von Max Jacob, André Salmon und Laforgue vor, während Arp Auszüge von Alfred Jarrys Ubu roi vortrug.

An den Abenden wurden Lieder von Aristide Briand gesungen und gleichzeitig eigene individuelle Werke vorgeführt, womit Dadas nihilistische Haltung in Relation zu allen Kunstformen der Vergangenheit, selbst der jüngsten, demonstriert werden sollte. Die Vorstellung von zentralen Werten der bourgeoisen Ästhetik stieß bei ihnen auf entschiedene Ablehnung. Hugo Ball schrieb am 11. Februar in sein Tagebuch: „Huelsenbeck kommt dazu und plädiert dafür, die afrikanischen Rhythmen noch zu verstärken. Hätten wir ihn gelassen, hätte er die gesamte Literatur durch einen Trommelwirbel ersetzt.“[23]

Am 29. März lasen Huelsenbeck, Janko und Tzara, begleitet von afrikanischen Gesängen, das Simultangedicht von Tristan Tzara Der Admiral sucht nach einem zu vermietenden Haus.

In diesen Werken wird das Prinzip der Antikunst zum Ausdruck gebracht. „Es handelt sich um ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehr Stimmen gleichzeitig flüstern, singen, sprechen oder etwas Ähnliches tun, allerdings so, dass der Inhalt dessen, was jeder für seinen „Teil“ in diesem Durcheinander vorträgt, melancholisch, fröhlich und sonderbar zugleich wirkt“, schrieb Hugo Ball über Tzaras Gedichte. „In diesen Simultangedichten wird die Eigensinnigkeit der Stimme und ihre Abhängigkeit von den jeweiligen Begleitumständen veranschaulicht. […] Seinen Ursprung hat das ‚Simultangedicht’ in der Qualität und Betonung der Stimme. […] Es signalisiert […] die Kollision der ‚Vox Humana’ mit der bedrohlichen und zerstörerischen Welt, deren Lärm und Rhythmus sie sich nicht entziehen kann.“[24]

Die Dadaisten veröffentlichten 1920 schließlich eines ihrer Manifeste, das genaue Anweisungen enthielt, „… wie man ein Dada-istisches Gedicht verfasst“:

Nehmt eine Zeitung.

Nehmt eine Schere.

Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus,

die Ihr Eurem Gedicht geben wollt.

Schneidet den Artikel aus.

Schneidet dann sorgfältig jedes einzelne Wort dieses Artikels aus,

steckt sie alle in eine Tüte

und schüttelt vorsichtig.

Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus.

Schreibt sie gewissenhaft ab,

in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind.

Das Gedicht wird Euch ähnlich sein.

Und schon seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten,

wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität.[25]

Jacques Hérold,
Das Spiel, die Nacht, 1936. Privatsammlung.