Trotz des Brexit, trotz der Eurokrise, trotz des Scheiterns einer solidarischen Politik in der Flüchtlingskrise; trotz alledem – und erst recht angesichts der neuen nationalistischen Front quer durch Europa: Heribert Prantl hält in seiner neuen Streitschrift ein leidenschaftliches Plädoyer für die Europäische Union als die größte Errungenschaft in der Geschichte des Kontinents. Prantl will, dass dieses Europa gestärkt aus seiner Krise hervorgeht: demokratischer, sozialer, bürgernäher.

Heribert Prantl

Trotz alledem!

Europa muss man einfach lieben

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage 2016.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-75077-3

www.suhrkamp.de

Europa muss man einfach lieben

Das ist der Wind der Reaktion,

Mit Meltau, Reif und alledem!

[…]

Doch sind wir frisch und wohlgemut,
Und zagen nicht trotz alledem!
In tiefer Brust des Zornes Glut,
Die hält uns warm trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Es gilt uns gleich trotz alledem!
Wir schütteln uns: Ein garst’ger Wind,
Doch weiter nichts trotz alledem!

Ferdinand Freiligrath, Anfang Juni 1848

Es gärt in Europa. Ob es Wein oder Essig werden wird, ist ungewiss. Georg Christoph Lichtenberg hat diesen Satz während der Französischen Revolution geschrieben. »In Frankreich gärt es«, so beobachtete er im April 1793, »ob es Wein oder Essig werden wird, ist ungewiss.« Damals wurde in Paris gerade die demokratische Verfassung der Ersten Französischen Republik geschrieben. Es war dies eine wunderbare Verfassung, es war dies die klügste, hochfliegendste, begeisterndste Verfassung, die je geschrieben worden ist. Es war eine Verfassung, die Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigentum versprach, die das allgemeine Wahlrecht festschrieb und der eine ergreifende Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vorangestellt war. In einer Volksabstimmung wurde diese Verfassung damals mit großer Mehrheit angenommen, sie trat dann aber nicht in Kraft, weil stattdessen ein Jahr lang »la Grande Terreur« regierte, der Terror des »Wohlfahrtsausschusses« mit Georges Danton und Maximilien de Robespierre an der Spitze.

Es gärt in Europa: Eine nationalistische Front macht quer durch Europa Front gegen Europa; sie macht Front gegen die Werte der Aufklärung, gegen die Achtung von Minderheiten; sie macht Front gegen die Werte, die in der Französischen Revolution erkämpft und grundgelegt wurden; sie macht Front gegen Liberalität und Toleranz. Sie macht auch Front gegen ein Europa der offenen Grenzen; sie sucht das Heil also wieder dort, wo einst das europäische Unheil begonnen hat. Die nationalistische Front rollt Stacheldraht aus und hält das für zukunftsgerichtete Politik. Aber je mehr sich eine Zivilisation einmauert, desto weniger hat sie am Ende zu verteidigen.

Die Europäer sammeln ihre Kräfte, wissen aber nicht so recht, wo und wie sie sie einsetzen sollen. Die Anti-Europäer wissen es schon. In Großbritannien wurde in einer Volksabstimmung der Brexit beschlossen. Er basierte auf einer Kampagne, die der Europäischen Union die Schuld an der Einwanderung gab und den Ausländern die Schuld an sämtlichen Missständen. In Österreich gibt es großes antieuropäisches Potenzial, man schwadroniert bereits vom »Öxit«. In Deutschland trommelt die AfD gegen Europa. In Frankreich agitiert Marine Le Pen gegen Europa und hat Chancen, 2017 Staatspräsidentin zu werden. In Italien sind die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega Nord manifest antieuropäisch. In den Niederlanden hat die nationalistische Partei des Geert Wilders schon angekündigt, ein »Nexit«-Referendum zum Austritt aus der Europäischen Union zu starten. Im Ungarn des Viktor Orbán sind die proeuropäischen Kräfte derzeit ohne jede Chance. Polen wird prononciert nationalistisch regiert, in Tschechien dominieren nationalistisch-narzisstische Parteien, in der Slowakei wird kein einziger muslimischer Flüchtling aufgenommen. Es gärt in Europa. Das bedeutendste Projekt der neuzeitlichen europäischen Geschichte steht auf dem Spiel. Die Furien des Nationalismus sind wieder entfesselt. Neben den Furiengesängen von rechtsaußen erklingt von links das Lied, dass die undemokratische EU-Bürokratenclique unreformierbar sei. Die Zukunftsmusik, die einmal im Namen »Europa« steckte, wird ersetzt durch eine nihilistische Kakophonie.

Trotz alledem: Dieses Europa ist das Beste, was den Deutschen, den Franzosen und Italienern, den Österreichern und den Dänen, den Polen und Spaniern, den Tschechen und den Ungarn, den Flamen und Wallonen, den Niederländern und Griechen, den Schotten, den Basken, den Balten und Bayern in ihrer langen Geschichte passiert ist. Dieses Europa wurde gebaut aus überwundenen Erbfeindschaften, es ist die späte Verwirklichung so vieler alter Friedensschlüsse, die den Frieden dann doch nicht gebracht haben. Die Europäischen Verträge sind die Ehe- und Erbverträge ehemaliger Feinde. Dieses Europa ist ein welthistorisches Friedensprojekt. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Zweiten Weltkrieg gilt es allerdings immer mehr Europäern nicht als Errungenschaft, sondern als Selbstverständlichkeit. Aber das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich; ein Blick vor die Tore Europas, ein Blick in den Nahen und Mittleren Osten, zeigt, wie wenig selbstverständlich ein unkriegerischer Kontinent ist. Millionen von Menschen in kriegsverwüsteten Staaten haben Sehnsucht nach dieser Selbstverständlichkeit. Europa als Friedensstabilisator ist keine Reminiszenz, sondern eine Zukunftsnotwendigkeit. Dieses Europa ist die Vollendung der Französischen Revolution. Es ist der glänzendste Stern der Aufklärung, es ist ein Jahrtausendprojekt. Doch es wird nur dann funktionieren, wenn aus einem Binnenmarkt ein wirkliches Gemeinwesen wird; ein Gemeinwesen also, in dem die Interessen der Bürger nicht Abschreibungsmasse sind. Wenn die Bürger so behandelt werden, schreiben sie Europa ab.

Die Politik der Europäischen Union war und ist Experimentalpolitik, so wie die französische Revolutionspolitik einst Experimentalpolitik war. Die neue europäische Experimentalpolitik ist aber keine revolutionäre Experimentalpolitik, wie es die französische vor 225 Jahren gewesen ist. Sie ist eine wirtschaftsbürokratische Experimentalpolitik, die sich unpolitisch gab und gibt; das beschreibt ihren Fluch und ihren Segen. Der Segen trug bei zum Wohlstand und damit zum Zuspruch für dieses Euro