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Originalausgabe
© 2016 Hirnkost KG, vormals Archiv der Jugendkulturen Verlag, Berlin
prverlag@jugendkulturen.de
www.jugendkulturen-verlag.de
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1. Auflage September 2016

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Der Autor

Klaus N. Frick, geboren 1963 in Freudenstadt im Schwarzwald, ist Redakteur in einem Zeitschriftenverlag und lebt in Karlsruhe. Bereits in den frühen achtziger Jahren produzierte er seine ersten Fanzines: zuerst Science Fiction, später Punkrock. Daneben entstanden zahlreiche Kurzgeschichten, die in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht wurden.

Seit den neunziger Jahren veröffentlichte er diverse Bücher, unter anderem die Romane »Vielen Dank Peter Pank« und »Chaos en France« (im Verlag des Archiv der Jugendkulturen) oder die Geschichtensammlung »Das Tier von Garoua – Abenteuer Alltag in Afrika«.

Inhalt

Mehr als dreißig Jahre Punkrock – und ein Haufen Kurzgeschichten

Mein erster Kuss hieß Monika

Ein Abend mit dem Mossad

Nazi Weißbart

Der alte SS-Mann

An der Croisette

Der King vom Ziegeltal

Die Revolution startet vor dem Hotel Post

Start ins Erwachsenenleben

Bei Bernhard zu Hause

Klare Statements

Chaos am Schlossplatz

Burschis

Direkte Aktion

Nachts am Euro

Auf Nazis warten

Das Putzfrauengeschwader

Eine Reise ins Mutschelland

Pizzicato Punkrock

Auf in die Bronx

Straßenwahlkampf

Das Antifa-Pony

Punks gegen Punks

Stuttgart bei Nacht

Einfach nicht dazugehören

Seitenblick in Durlach

Der Super-Diver

Der Punk vom Orange County

Der junge Leier

Die Klasse von 1994

Mehr als dreißig Jahre Punkrock – und ein Haufen Kurzgeschichten

Um es gleich klar zu sagen: Das vorliegende Buch ist weder ein Roman noch ein Sachbuch. Weder ist beabsichtigt, einen historischen Abriss über die Punk-Szene im Deutschland der achtziger und neunziger Jahre zu geben, noch soll das Buch eine romanhafte Handlung über eine erfundene Figur erzählen. Es ist ein Buch mit Kurzgeschichten, von denen jede für sich selbst steht – wer sie in einen inneren Zusammenhang stellen mag, kann das aber gern tun.

Die erste Geschichte spielt »vor« meiner persönlichen Punk-Geschichte, die letzte Geschichte spielt »danach«. Damit geht es um einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren ...

Die Texte dazwischen werfen unterschiedliche Schlaglichter auf eine Szene, in der ich mich jahre- und jahrzehntelang bewegt habe. Ich war dabei nie von irgendeiner Bedeutung: Weder habe ich in einer der wichtigen Bands gespielt, noch habe ich in einem der wichtigen politisch-kulturellen Zentren dafür gesorgt, dass die Szene florierte.

Ich war einer von denen, die eben dabei waren – ich ging auf Konzerte und Chaostage, ich lebte meinen eigenen Punk für mich und mit anderen zusammen. Und darum soll es in diesem Buch und seinen Kurzgeschichten gehen. Wie fühlte sich Punk in den frühen achtziger Jahren an, wie in den neunziger Jahren, und wie ist es für einen Mann von über fünfzig Jahren, der den »kleinen Punk im Kopf« bis heute nicht verloren hat?

»Für immer Punk?« enthält Kurzgeschichten und Erzählungen, die teilweise auf wahren Begebenheiten basieren, diese aber stark verändern und bewusst verzerren; als Autor habe ich mir die »schriftstellerische Freiheit« herausgenommen, das jeweils anzupassen, was ich als interessant und spannend genug empfunden habe. Das bitte ich zu beachten ... und dann wünsche ich einfach mal viel Spaß bei der Lektüre von »Für immer Punk?«.

Klaus N. Frick

Mein erster Kuss hieß Monika

Mitte der siebziger Jahre machte ich mir ernsthafte Sorgen, eine fiese Depression zu bekommen. Ich war noch nicht mal dreizehn Jahre alt, es war eine fürchterlich traurige Zeit für mich, und der Winter mit all seinem schönen Schnee, der alles zudeckte, wollte überhaupt nicht kommen. So hockte ich zu Hause in meinem kleinen Zimmer unter dem Dach, las dicke Bücher, die ich aus der Dorfbücherei ausgeliehen hatte, und stierte in den Pausen zwischen den Kapiteln aus dem Fenster hinaus in den andauernden Regen.

»Was soll nur aus dir werden, Bub?«, fragte meine Mutter nicht nur einmal, wenn sie mich mit einem dicken Buch erwischte. Ich verstand diese Frage und ihre ganze Reaktion nicht. Hatte ich mich mit zehn Jahren im Wald herumgetrieben und mit einer eigenen Bande einen Kleinkrieg gegen die Bande von der anderen Seite des Dorfes geführt, war ihr das ebenso wenig recht gewesen. Und was sollte ich in diesem Herbst tun – außer lesen und aus dem Fenster starren?

Es regnete den ganzen Herbst über, ich bekam Pickel im ganzen Gesicht, und ich spürte, wie sich mein Körper langsam veränderte. Ein weiterer Grund, sich so richtig mies zu fühlen. Der zweite Grund war die finanzielle Situation zu Hause. Meine Eltern hatten sich nämlich richtig gründlich übernommen.

Das Haus war alt, und seit mein Großvater es in den zwanziger Jahren gekauft hatte, musste ununterbrochen darin gearbeitet werden – so entstand ein komplettes Provisorium. Irgendwann war das meinem Vater zu viel geworden: Als Toilette diente ein uraltes Plumpsklo, und als Badezimmer-Ersatz besaßen wir einen hölzernen Waschzuber im Keller. Also rissen wir jene Hälfte des kleinen Hauses, die vor Jahrzehnten noch als Kuh- und Ziegenstall gedient hatte, mit Hilfe einiger Bekannter ab und ließen stattdessen einen angemessenen Anbau hinstellen.

Nur rutschte ausgerechnet in diesem Jahr die Fabrik, in der mein Vater arbeitete, in die Krise. Die einsetzende Kurzarbeit verringerte das Einkommen drastisch, und die Arbeitslosigkeit stand drohend am Horizont. Tagelang gab es nur Kartoffeln und anderen Billigfraß zu futtern; wie Schokolade schmeckte, wusste ich schon gar nicht mehr.

Zu allem Überfluss sah ich völlig bescheuert aus. Das wusste ich; ein Blick in den Spiegel oder in die Augen der Mitschüler genügte. Eine langweilige Durchschnittsfrisur, ein Durchschnittsgesicht, ein klapperdürrer Körper und dazu Klamotten, denen man ansah, dass sie Geschenke von Verwandten waren. Kein Mensch auf dem Gymnasium konnte mich so richtig ernst nehmen – und den Jungs vom Dorf kam ich mit meinem Bücherkonsum extrem merkwürdig vor.

So saß ich an den Nachmittagen am Fenster, las oder blickte hinaus, stierte in den Regen und kam mir genauso grau und langweilig vor wie das Wetter, das mit monotonem Gepladder Einlass in meine Gedankenwelt gefunden hatte. Ich hatte keine Lust, etwas zu unternehmen. Meine Welt war grau und düster; ich merkte, dass ich ein neuer Mensch wurde, ahnte aber nicht, wohin das Ganze gehen sollte.

Mir war allerdings schon in diesem Alter klar, dass ich aus unerklärlichen Gründen keine Lust hatte, so zu werden wie meine Altersgenossen. »Der Bub ist einfach anders«, hieß es auf den Familienfeiern, die meine Eltern mit mir im Schlepptau besuchten.

Und wenn ich auf eines am allerwenigsten Lust hatte, waren das Familienfeiern. Der Geburtstag des einzig verbliebenen Großvaters, die Hochzeit einer grässlichen Tante oder Weihnachten bei Vettern und Cousinen – für mich waren solche Besuche eine Tortur aus Schokolade, Kaffee, geheucheltem Lächeln und merkwürdigen Gerüchen. Stets trug ich ein dickes Buch mit mir herum, gern eines, von dem ich wusste, dass es weder meine Verwandten noch ich verstanden, beispielsweise Döblins »Alexanderplatz«; damit setzte ich mich in eine Ecke und wollte von niemandem gestört werden.

Den Mut, einfach »Nein« zu sagen, besaß ich noch nicht. Also fuhr ich auch an Allerheiligen mit, um bei einer Cousine den 14. Geburtstag zu feiern. Allerheiligen – das war der 1. November; im christlich-katholischen Südwesten Deutschlands ein Feiertag, an dem auf jeden Fall frei war. Murrend setzte ich mich auf die Rückbank des roten VW-Käfers, mein Vater fuhr meine Mutter, meine Schwester und mich in die Kreisstadt und setzte uns dort ab.

Mein Vater verfolgte damit einen schlauen Plan: Zum Wohnhaus gehörte eine Tankstelle, dort konnte er mit den in der Nachbarschaft wohnenden Arbeitern sprechen und mit Freunden einen Schnaps oder zwei trinken. Meine Schwester durfte mit den jüngeren Kindern spielen, und meine Mutter setzte sich mit ihren Schwestern zu Kaffee und Kuchen in die Küche.

Und ich? Ich fand alles doof, wollte mich eigentlich mit meinem dicken Buch in eine Ecke verdrücken und die Welt ignorieren. Da stellte sich aber meine Cousine Patricia dagegen.

»Spinn nicht rum!«, schnauzte sie mich an. »Das ist kein Kindergeburtstag mehr, das ist jetzt eine Teenie-Fete.«

Teenie-Fete ... Das klang so erwachsen und geheimnisvoll. Meine Cousine las regelmäßig die »Bravo«, und sie besaß sogar zwei Schallplatten mit Pop-Musik, eine von den BAY CITY ROLLERS und eine von ABBA. Zudem ging sie schon ins Jugendzentrum, was ich mich bisher nicht getraut hatte.

Meine Eltern waren dagegen. Gegen das Jugendzentrum und erst recht gegen die Pop-Musik. Das war für sie »Negermusik«, gelegentlich sagte mein Vater auch »Urwald-Sinfonien« dazu, ein Ausdruck, den er in der Kirche gehört hatte.

Meine Cousine schleppte mich ins Kinderzimmer, in dem verschiedene »Bravo«-Poster an den Wänden hingen. Vier andere Mädchen im Alter von zwölf und dreizehn Jahren schauten mir erwartungsvoll entgegen. Zwei kicherten gleich los, als ich verunsichert in das Zimmer trat.

Ich ließ mich zwischen zwei blonden Mädchen – die eine hieß Monika, die andere Susanne – auf dem Sofa nieder. Dann bekam ich einen Kaffee, es gab Kekse zu essen, und es wurde weitergekichert. Die Mädchen redeten gar nicht so viel, sie lachten vor allem und machten Faxen. Fünf Gören an einem Tisch und dazwischen ich, ein schüchterner Junge vom Dorf, der nicht einmal wusste, was man mit Mädchen sprechen konnte.

Die Mädchen fragten mich nach meinem Alter, ich stammelte ein »zwölf Jahre«, verzichtete auf ein mutigeres »bald dreizehn« und blieb die nächsten Minuten ruhig. Während ich meinen Kaffee trank, hörte ich ihrem Gerede zu. Es ging um Pop-Musik, da hatte vor allem Monika unglaublich viel Ahnung. Namen populärer Bands und Sänger wie SMOKIE und HARPO gingen ihr leicht über die Lippen; ich kannte nicht einmal die Stücke, von denen sie sprach. Sie war sogar schon im Schallplattengeschäft an der Hauptstraße gewesen, wo sie einer Schallplatte über Kopfhörer gelauscht hatte. Ich war gebührend beeindruckt.

»Und was hörst du für Musik?«, fragte Susanne nach einiger Zeit.

»Na ja, was eben so im Radio läuft«, würgte ich hervor, und damit war das Thema erledigt. Ich hatte damit angefangen, den »Pop-Shop« zu hören, eine Musiksendung im dritten Programm des Südwestfunks, und mir gefielen schon einige Bands ganz gut – einen eigenen Geschmack hatte ich aber noch lange nicht entwickelt.

Das weitere Gespräch verlief größtenteils ohne mich. Die Mädchen wechselten ohnehin das Thema. Es ging um Kleidung und Frisuren, später sogar um Schminke. Sie alle hatten bereits mit Nagellack und Lippenstift experimentiert, sie alle wussten Bescheid, was Duftwässerchen und Gesichtscremes anging, aber sie benutzten diese Dinge noch nicht.

»Meine Mutter erlaubt es nicht.« Simone seufzte. »Dabei würde ich mir so gerne einen Lippenstift kaufen. Meine Mutter sagt, das dürfe man erst ab sechzehn.«

»Meine Mutter sagt dazu gar nichts«, behauptete Susanne. »Sie benutzt ja selbst keinen Lippenstift, warum soll ich dann einen benutzen?«

»Mein Gott! Eure Mütter sind ja spießig!«, rief Monika und warf die Hände in die Luft. »Wenn ich will, darf ich das Schminkzeug meiner Mutter benutzen. Die meint, man müsse halt früh anfangen.« Sie schaute mich direkt an. Ihr blonder Pferdeschwanz wippte keck. »Und deine Mutter?«

»Ähm, ja, äh«, stotterte ich, »die ... die ... sagt gar nichts dazu.« Es war eine glatte Lüge. Meine Mutter hatte sich nicht nur einmal über »angeschmierte Weiber« und »schamloses Aussehen« aufgeregt, wenn sie mit ihren Freundinnen beim Kaffeeklatsch zusammensaß. Aber ein solches Bekenntnis hätte hier nun gar nicht gepasst.

Für die Mädchen war das Gestotter Grund genug, in schallendes Gelächter auszubrechen. Wahrscheinlich lief ich in diesem Augenblick knallrot an; auf jeden Fall hätte ich mich am liebsten metertief in irgendwelchen Erdhöhlen versteckt. Ich fühlte mich wie der letzte Depp.

Meine Cousine legte eine ABBA-Kassette in ihren Rekorder ein. Ich beneidete sie glühend um dieses Gerät, das Mitte der siebziger Jahre eine echte technische Neuerung war. Mit einem Kassettenrekorder wäre ich auch unabhängig gewesen und hätte nicht die ganze Zeit die Musik hören müssen, die meinen Eltern gefiel und vorzugsweise im ersten Programm des Süddeutschen Rundfunks oder des Südwestfunks gespielt wurde: volkstümliche Lieder und deutsche Schlager, bei denen mir regelmäßig der Mageninhalt hochkommen wollte.

Die Musik klang gut, der mehrstimmige Gesang gefiel mir ebenso wie den Mädchen, die sich jetzt über die Jungs in der Schule unterhielten. Sie sprachen vor allem über ältere Jungs aus der achten Klasse. Da mich das nicht sonderlich interessierte, trank ich lieber meine Tasse Kaffee aus und futterte einige Kekse.

»Wir könnten ja was spielen!«, rief Simone auf einmal und sprang von ihrem Sitz auf. »Irgendwas Spannendes ...«

»Au ja!« Monika stimmte sofort zu. »Am besten Flaschendrehen! Das spielen die Großen auch immer!«

Die Mädchen klatschten begeistert in die Hände. Sie lachten vor Vorfreude. Patricia und Monika hatten dieses Spiel schon betrieben, für die anderen war das ebenso neu wie für mich, aber sie alle kannten den Begriff.

»Aber wir haben nur einen Jungen«, fiel Susanne in diesem Augenblick ein. »Dann wird’s ein bisschen blöd.«

Wieder lachten die Mädchen; alle Blicke richteten sich auf mich. Verunsichert schluckte ich den Keks hinunter, den ich gerade kaute.

»Ich weiß zwar nicht, worum’s geht«, versicherte ich, »aber ich spiele ein lustiges Spiel immer gern mit.«

Patricia kicherte. »Das Spiel ist auf jeden Fall sehr lustig«, behauptete sie.

Eine Flasche konnte sie nicht besorgen, ohne dass ihre Eltern Fragen stellten, auf die sie umständliche Antworten suchen musste. Also nahm sie eine Haarspraydose, zog den Deckel ab und legte sie auf den kleinen runden Tisch, um den wir alle saßen. Wir packten Teller, Tassen und Keksdose zur Seite. Erwartungsfroh schauten wir alle auf Patricia.

»Dreh mal die Musik auf!«, sagte meine Cousine zu Susanne, die direkt neben dem Rekorder saß. »Waterloo« erklang jetzt deutlich lauter als wenige Minuten zuvor die anderen Stücke. »Dann merken die Alten nicht so schnell, was los ist«, meinte sie mit verschwörerischer Miene.

Sie beugte sich nach vorne und sah zuerst mich und dann die anderen an. »Es ist ganz einfach«, erläuterte sie. »Ich drehe die Flasche, also in diesem Fall die Dose. Und wenn sie anhält, zeigt sie mit der Spitze auf jemanden. Und der darf sich jemand anders aussuchen und ihn küssen. Ist doch alles ganz logisch.«

Zwar fühlte ich mich überrumpelt, aber die Spielregel leuchtete mir sofort ein. Allerdings: Ich war der einzige Junge am Tisch. Da ich mir nicht einmal ausmalen konnte, dass sich Mädchen untereinander küssten, blieb ich als derjenige übrig, der alle küssen musste. Mir lief es kalt und heiß zugleich über den Rücken. Ich und ein Mädchen küssen? Wie das? Wenn es etwas gab, das ich mir nicht vorstellen konnte ... Natürlich hatte ich in Filmen gesehen, wenn sich Männer und Frauen küssten. Selbstverständlich hatte ich schon in vielen Büchern darüber gelesen. Aber ich selbst – das war bisher undenkbar. Ich konnte mir darunter nicht viel vorstellen, obwohl in den Büchern immer alle möglichen Gefühle beschrieben wurden.

Patricia packte die Dose fester und gab ihr den entscheidenden Stoß: Die Dose drehte sich tatsächlich auf dem Tisch, eierte mehr herum, als dass sie sich richtig drehte, rollte aber immerhin nicht herunter und blieb nach zweieinhalb Umdrehungen liegen. Es war absolut eindeutig: Ihre Spitze zeigte auf Monika.

»Hey!«, rief sie, grinste übers ganze Gesicht, hob die Hände. »Ich bin dran.« Sie lachte laut und schaute sich auffällig um. »Jetzt stellt sich nur die Frage, wen ich mir aussuche.« Ihr Blick wanderte über die Mädchen und über mich, ging einmal komplett die Runde durch. »Es ist schwer«, seufzte sie.

Mach doch einfach! dachte ich, während jetzt im Rekorder ein Lied von den BAY CITY ROLLERS kam, das ich nicht kannte. Das kann doch nicht so schwer sein.

Monikas Blick fiel erneut auf mich. »Ich glaub, ich nehm dich«, sagte sie und grinste. Sie beugte sich nach vorne, über den Tisch herüber, während die anderen gespannt zuschauten.

Mir war klar, was ich zu tun hatte, und erst in diesem Augenblick nahm ich wahr, dass Monika schon »richtig entwickelt« war, wie es in der »Bravo« immer hieß: Ich sah in ihren Ausschnitt und bemerkte den Ansatz ihrer Brüste. Und dann war sie auch schon heran, drückte ihren Mund auf den meinen.

Ich war verblüfft und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Darüber gaben die Bücher keine Auskunft. Die informierten nur darüber, wie sich beispielsweise wackere Westernhelden nach erfolgreicher Abwehr des Indianerangriffs der schönen Jungfrau nähern konnten. Aber wie zum Teufel machte das ein durchschnittlicher deutscher Jugendlicher aus einem Schwarzwalddorf?

»Du musst deinen Mund ein wenig öffnen«, kam ein Ratschlag von der Seite. Patricia – meine liebe Cousine wusste wieder einmal alles besser.

Immer noch drückte Monika ihren Mund auf den meinen; sie hatte ihre Augen geschlossen, es war sicher noch nicht eine Sekunde vergangen, aber es kam mir vor wie eine halbe Stunde; ich hörte das Gekicher der Freundinnen, ich sah ihre angespannten Gesichtsausdrücke aus den Augenwinkeln, und ich öffnete meinen Mund ein bisschen, spürte Monikas weiche Lippen auf den meinen und ... es war ein seltsames Gefühl, das ich noch nie zuvor verspürt hatte.

»Was ist denn das für eine Sauerei?«, ertönte in diesem Augenblick die Stimme meiner Mutter.

»Und dann noch dieser Krach!«, fügte meine Tante in derselben Lautstärke hinzu.

Monika und ich fuhren auseinander. Dass die immer zur falschen Zeit erscheinen muss, dachte ich wütend, während ich knallrot anlief und in halbgebückter Haltung über dem Tisch stehen blieb. Monika war geistesgegenwärtig genug, sich in ihren Stuhl zurückfallen zu lassen und die Unschuld zu mimen.

Der Rest des Nachmittags verlief ziemlich angespannt. Wir mussten uns gemeinsam eine Strafpredigt der beiden Mütter anhören, die von der »Unzucht der heutigen Zeit« sprachen und uns an den lieben Gott erinnerten. Damit »so etwas« nicht wieder vorfiel, wurde ich aus dem Mädchenzimmer verbannt und musste mich zu den Erwachsenen in die Stube setzen. Immerhin konnte ich da mein Buch lesen und musste mich nicht am Gespräch beteiligen.

Auf der Heimfahrt ins Dorf hielt mir mein Vater eine zusätzliche Standpauke. »Dass du mir ja nicht gleich so ein Weib ins Haus schleppst!«, tobte er. »Das hat noch Zeit. Werd du erst mal ein paar Jahre älter und klüger!«

Ich nickte zu allem und sagte nichts. Es war in solchen Fällen die beste Taktik, wie ich seit Jahren wusste. Aber ich vergaß nie jenen Augenblick, in dem mich Monika geküsst hatte, vor allem nicht jene winzig kleine Sekunde, in der ihre Zunge in meinen Mund gehuscht war. Nie.

Ein Abend mit dem Mossad

Der Lärm hatte sich in einen Sound verwandelt, der wie Blei auf meinen Gehörgängen lag: viel zu viele junge Leute in einer überfüllten Wohnung, in der die Heizung auf Hochtouren bollerte, laute Musik aus unterschiedlichen Richtungen, das Klirren von Flaschen und Gläsern. Ich war seit gut drei Stunden auf dieser Party, ich wollte mich ordentlich besaufen und vielleicht mit einem Mädchen herummachen, und bisher hatte ich erst das Gefühl, mit dem Konsumieren von Chips und Alkohol weit genug gekommen zu sein. Es roch nach billigem Wein und viel Bier, nach Zigaretten und nach jenem charakteristischen Rauch, den ich erst seit wenigen Monaten kannte: dem nach Marihuana und Haschisch.

Mit einigen anderen saß ich im Flur auf dem Fußboden, keiner in der Runde war älter als achtzehn. Wir ließen eine Flasche mit billigem Apfelkorn kreisen, aus der wir abwechselnd tranken. Der Fusel war süß, aber er schmeckte erstaunlich süffig, und ich hatte nach jedem Schluck sofort Lust auf einen weiteren. Bisher hatten wir erst die Hälfte der Flasche vernichtet; danach wollte ich auf Wein umsteigen. Von Wein hatte ich zwar keine Ahnung, aber nach der süßen Plörre brauchte ich sicher etwas mit »mehr Kante«, wie es die Weintrinker in der Verwandtschaft nannten.

Matze kam durch den Flur auf unsere Gruppe zu, groß und breit und schon reichlich besoffen; auf dem Weg zum Klo blieb er vor mir stehen und schaute auf mich herab. »Deine Haare wachsen ja schnell«, sagte er. »Du siehst bald wieder richtig brav aus.«

»Ich bin brav«, sagte ich und lachte übertrieben laut. Damit wollte ich klar machen, dass ich selbstverständlich nicht »brav« war und mich nur als anständiger Jugendlicher tarnte. »Und die Haare wachsen, weil Winter ist.«

»Na gut.« Er winkte großspurig ab und ging weiter. Ruckartig öffnete er die Klotür, ebenso ruckartig zog er sie hinter sich zu. Bei Matze ging alles mit viel Kraft und viel Ruck; jede raumgreifende Geste bei ihm war eine Spur zu mächtig und zu groß. Aber es funktionierte offensichtlich, die Mädchen liefen ihm scharenweise nach.

»Was meint er denn mit deinen Haaren?«, fragte Simmi, die neben mir saß: ein dünnes Hippie-Mädchen mit ebenfalls dünnen blonden Haaren, die strähnig bis auf den Rücken fielen. Eine verbeulte Jeans und ein handgestrickter Pullover in allen möglichen Farben schienen ihr angewachsen zu sein; ich sah sie seit einem halben Jahr in diesen Klamotten, egal welche Tages- oder Nachtzeit war oder welche Temperatur herrschte. Sie hörte DOORS und LED ZEPPELIN und malte Herzchen in ihre Schulhefte, in die sie »Jimmy« schrieb.

Ich winkte ab und versuchte, möglichst lässig zu wirken. »Ich hab mir im Sommer die Haare abgeschnitten«, erzählte ich. »Mit der Schere meiner Mutter. Ganz allein, mit allen Löchern, die es dann gibt. Sie hat immer gemault, weil ich so lange Haare hatte. Als sie dann runter waren, mochte sie’s auch nicht. Und jetzt lasse ich sie wieder wachsen.«

»Wieso das denn?« Sie schaute mich mit großen Augen an. »Wieso machst du so was? Die Haare so blöd abschneiden, meine ich.«

»Das ist Punk«, antwortete ich. »Da müssen die Haare runter. Und dann ist es egal, wie man sie trägt.« Ich gestand ihr nicht, dass ich seit einem halben Jahr in die Lehre ging, in eine Firma, in der ich die Chefs hasste und die Kollegen entweder bemitleidete oder verabscheute. Mit zerlöcherten Haaren hätte ich dort noch mehr Probleme gehabt, als ich sowieso schon hatte.

»Punk.« Simmi musterte mich abschätzig. »So was aber auch.« Es schien ihr weder sonderlich zu imponieren noch sie in Panik zu versetzen. »Deine Haare stehen aber gar nicht ab.«

»Nein, das tun sie nicht.« Ich kannte wie sie die Bilder von Punks aus allerlei Medien: bunte Haare, abstehende Stacheln und Hahnenkämme, allerlei schräge Frisuren eben, idealerweise zerzaust. »Aber das ist egal. Punk ist man vom Herzen her.« Ich hatte so gut wie keine Ahnung von Punk, aber in meinem Dorf und in der Kleinstadt war ich der Einzige, der überhaupt in die Richtung tendierte. Also konnte ich entsprechende Sprüche klopfen.

Überzeugt wirkte Simmi nicht, aber sie gab zumindest Ruhe. Ohne ein weiteres Wort reichte sie mir die Flasche Apfelkorn, die sie in der Hand hatte. Ich nahm sie und trank einen Schluck, genoss zum wiederholten Mal, wie die Brühe in Richtung Magen rutschte.

»Schmeckt dir das?«, fragte sie.

»Geht so. Aber es macht besoffen, das ist am wichtigsten.«

»Hat das auch was mit Punk zu tun?«

Nein, hätte ich am liebsten gesagt, ich saufe, weil es alle machen und weil ich damit erwachsener und toller wirke. Die älteren Jugendlichen durften in den Kneipen schon Schnäpse trinken, und zwar völlig legal, unsereins musste schauen, dass er ein Bier bekam. Da war ein Apfelkorn auf einer Party eine echte Bereicherung. Ich schaute Simmi an, die Flasche in der Hand, und mir fiel nichts Schlaues ein.

Assi half mir aus der Verlegenheit. Er kam aus der Küche, schwankend und betrunken, klapperdürr und mit einem viel zu weiten Hemd bekleidet, das ihm fast bis auf die Knie herunterhing. »Klaus, wir brauchen dich«, sagte er und stach mit seinem Zeigefinger in meine Richtung. »Jetzt!«

Eigentlich hieß er Oliver Assendorf, aber Assi klang einfach viel aufrührerischer, und so hatte sich der Spitzname schnell eingebürgert. Seine Eltern waren ohne ihn weggefahren, weil sie irgendwo im Rheinland bei Kollegen seines Vaters feierten – also hatte Assi uns »sein« Haus für die Silvesterparty zur Verfügung gestellt. Eine nette Geste von ihm, und deshalb hatte sich eine Bande orientierungsloser Jugendlicher bei ihm eingefunden, alle darauf aus, Spaß zu haben, mit dem anderen Geschlecht anzubandeln und Drogen zu nehmen.

Ich schaute ihn an und wusste im ersten Augenblick nicht, was er von mir wollte. »Für was braucht ihr mich denn?«

»Für die Band natürlich!«

Ich erhob mich langsam aus meiner sitzenden Position. Die Flasche ließ ich nicht los, und ich merkte bei jeder Bewegung, dass ich schon angesoffen war. Kein Wunder, ich vertrug nicht viel, und Apfelkorn hatte ich bislang so gut wie nie zu mir genommen. »Welche Band denn?«

»Komm schon!«, forderte Assi. »Darüber haben wir doch schon geredet. Wir spielen jetzt mal, in der Küche ist alles aufgebaut.«

Ich nickte nur. Jetzt fiel mir alles wieder ein. »Ach so. Die Band.«

In einer Bierlaune hatten wir eine Woche vor Weihnachten jedem im Jugendzentrum erzählt, dass wir eine Punk-Band gründen wollten. Wir hatten schon einen Namen dafür gefunden: MOSSAD, benannt nach dem israelischen Geheimdienst. Das fanden wir unglaublich rebellisch. Aber mehr als das Getue bei einer Disco im Jugendzentrum und bei irgendwelchen Treffen in der großen Pause hatten wir seitdem nicht auf die Reihe bekommen, und ich hatte das Thema schon völlig verdrängt.

»Ja!« Assi sah mich stur an, er wirkte angespannt, als müsste er unbedingt etwas tun. »Lass uns loslegen. Jetzt!«

»Jetzt schon? Wir wollten doch warten, bis das neue Jahr da ist.«

»Kann sich nur noch um Stunden handeln.« Er lachte laut und schaute dabei Simmi an. »Aber wer weiß, was die Zukunft bringt? No Future, du weißt schon.«

Ich wusste, was er meinte. Wir kannten die Stücke der SEX PISTOLS und der RAMONES, fanden die rotzigen Texte ebenso gut wie die knallige Musik; und dass es in »No Future« vor allem um unsere Zukunft angesichts eines drohenden Atomkrieges ging, war jedem klar. Lange konnte das schließlich nicht mehr gutgehen mit dieser Welt; da konnten die Science-Fiction-Autoren, deren Bücher ich so gern las, noch so viele Ideen für eine spannende Zukunft liefern.

»Okay, ich komme mit.« Ich nickte Simmi zu, drehte mich um und folgte Assi. Unterwegs nahm ich erneut einen kräftigen Schluck Apfelkorn. Wenn ich so weitermachte, war die Flasche bald leer.

In der Küche hatte Assi ein Mini-Schlagzeug in die Ecke gepackt, hinter dem er sich niederließ. Zwei Boxen standen auf dem Kühlschrank und dem Herd, einen kleinen Verstärker hatte er auf der Eckbank deponiert. Überall lagen Kabel. Für mich gab es einen Hocker, neben dem der Bass lehnte, der bereits eingestöpselt war – Assi wies darauf und gab mir einen Stoß. Ede hielt eine Gitarre in den Händen, als warte er nur darauf, dass es losgehen sollte; im Mundwinkel klebte eine glimmende Zigarette, genau die Pose, die Belmondo immer in seinen Filmen draufhatte.

»Ich hab keine Ahnung, wie man so ein Ding spielt«, sagte ich, während ich zu dem Bass trat.

»Scheißegal«, sagte Assi. »Das ist Punk, da kommt es nicht darauf an, dass man gut spielt, sondern dass das Bewusstsein stimmt.« Er hatte gut reden. Sein Vater bezahlte ihm seit zwei Jahren den Unterricht bei einem stockseriösen Schlagzeuglehrer; er hatte auch die hochwertigen Teile gekauft, aus denen das Schlagzeug normalerweise bestand. An diesem Abend hatte Assi nur Becken und kleine Trommeln hingestellt, für die Basstrommel hatte der Platz wohl nicht gereicht.

Ich sah mich suchend um. Einige andere Jugendliche drückten sich an die Wände der Küche oder saßen auf der Eckbank. »Und wer singt?«

»Du vielleicht?« Assi grinste, als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah. »Nein, schon klar, du sicher nicht. Wir probieren’s ohne Sänger, wir machen jetzt Punk, und da ist es eh egal, ob es gut klingt oder gut ist, Hauptsache ist ja, dass wir überhaupt was machen.«

Ich nickte, stellte die Flasche zur Seite und setzte mich auf den Hocker. Nachdenklich nahm ich den Bass zur Hand. Wie man sich so ein Ding vor den Bauch packte, hatte ich oft genug gesehen: auf Bildern, im Fernsehen und bei den wenigen Rock-Konzerten, die man bei uns in der Kleinstadt besuchen konnte. Nachdem ich die Hände an den richtigen Stellen hatte, fühlte ich mich richtig professionell. Probeweise zupfte ich über die Saiten. Es schepperte und wummerte.

»Gar nicht mal schlecht.« Assi grinste und kletterte auf den Hocker hinter dem improvisierten Schlagzeug. »Dann können wir’s ja mal probieren. Ich zähle auf vier, dann fangen wir an.«

»Einfach so?«, fragte ich.

»Einfach so.« Er nickte Ede zu, den ich bislang nur vom Sehen her kannte. Ede war zwei Jahre älter als ich und konnte angeblich schon richtig Gitarre spielen; seine Haare fielen über die Ohren und bis in den Nacken hinunter. Sein gestrickter Pullover sah nicht gerade so aus, wie ich mir die Klamotten eines Punk-Gitarristen vorstellte, aber das machte jetzt nichts.

Assi hob seine Stöcke an. »One two three four«, zählte er, wobei er das »th« wie ein gedehntes »s« aussprach, dann trommelte er los. Es schepperte zwar reichlich, kein Wunder bei dem improvisierten Schlagzeug, klang aber nicht mal schlecht. Er hielt ein gleichmäßiges Tempo bei, schlug die Becken immer wieder an, bewegte dabei den Kopf auf und ab, als sei dieser ein Taktgeber.

Ede fiel ein, seine Finger glitten über das Griffbrett der Gitarre und die ersten verzerrten Laute wurden hörbar. Er hielt den Rhythmus des Schlagzeugs problemlos mit, wenngleich das, was er zustande brachte, mit einer Melodie nichts zu tun hatte.

Jetzt war ich an der Reihe. Eigentlich sollte das alles kein Problem sein, schließlich wusste ich, wie Gitarristen und Basser spielten. Mit zwei Fingern der linken Hand drückte ich irgendwelche Saiten, was mir erstaunlich schwerfiel, mit der rechten Hand haute ich auf die Saiten ein, die über den Klangkörper gespannt waren. Fast hätte ich aufgeschrien, weil die Saiten verdammt hart waren, sich wie Drähte anfühlten und die schnelle Berührung mir einen stechenden Schmerz durch die Finger jagte.

Aber ich gab nicht auf, schlug weiter auf die Drähte, wechselte die Finger der linken Hand, benutzte den Daumen und versuchte wenigstens einigermaßen, dem Rhythmus des Schlagzeugs zu folgen. Ich kam kaum mit und holperte buchstäblich hinterher. Und mit jeder Berührung schmerzte mir die rechte Hand mehr.

»Okay«, rief Assi, »wir brechen ab!« Er hielt die Stöcke in die Luft. »Bevor sich Klaus die Finger blutig spielt.« Er lachte trocken, während Ede und ich in der Bewegung innehielten. »Du brauchst nachher ein Plektrum, sonst geht das nicht weiter.«

Einige der Umstehenden lachten, andere applaudierten kurz. »Ihr spielt aber nachher noch einmal?«, fragte ein Junge mit dünnem Flaum auf den Oberlippen, dem die Haare bis auf die Schultern fielen.

»Na klar«, sagte Assi mit einem großspurigen Unterton. »Das ist heute das erste Konzert von MOSSAD, klar gibt es eine Fortsetzung.« Er lachte laut. »Vielleicht kriegen wir sogar ›Sheena Is A Punkrocker‹ hin.«

Ich winkte ab. »Schauen wir mal.« Vorsichtig stellte ich den Bass in die Ecke, wo ich ihn so zwischen einem Schrank und der Wand einkeilte, dass er garantiert nicht umfallen konnte. Ich schaute auf meine Finger, die tatsächlich gerötet waren. »Wenn ich das noch mal mache, hab ich hinterher keine Haut mehr drauf.«

»Aber das war doch geil?« Assi strahlte mich an.

»Hm. Ja.« Ich hob die Schultern. »So eine Punk-Band wäre schon klasse. Aber ob ich das lernen kann?«

Er lachte dröhnend. »Deshalb spielst du ja den Bass. Bass spielt immer der, der am wenigsten kann. Dann fällt es nicht auf, wenn er nur gleichmäßig wummert.«

»Haha«, machte ich und stand auf. Mit einem Griff schnappte ich mir die Flasche. Als ich einen erneuten Schluck nahm, kam ich mir vor wie ein routinierter Säufer.

In den Geschichten des amerikanischen Underground-Schriftstellers Charles Bukowski, die ich seit einiger Zeit für mich entdeckt hatte, wurde das Saufen immer recht cool beschrieben: Einerseits waren die dauernd besoffenen »Helden« der Bukowski-Geschichten durch die Bank von einer kaputten Art, die ich eigentlich widerwärtig fand, aber sie wurden andererseits so beschrieben, dass ein solches Leben reizvoll klang: immer besoffen, immer auf der Suche nach Abenteuern, vor allem ohne eine feste Arbeit und ohne ein klares Lebensziel. So kam ich mir ständig vor, und das Gefühl kannte ich schon in nüchternem Zustand.

Von der Küche aus begab ich mich ins Badezimmer, wo ich mich vor die Kloschüssel stellte, einigermaßen ordentlich traf und dabei meinen Blick über die Parfüm- und Rasierwasserflaschen wandern ließ, die auf dem Regal über dem Waschbecken aufgereiht waren. Wieso brauchten Erwachsene so viel Zeug, was sollte diese Ansammlung von Schönheitstinkturen und Cremes? Danach steuerte ich das Wohnzimmer an, das nach dem bürgerlichen Geschmack eingerichtet war, den sich meine Unterschicht-Eltern wahrscheinlich immer dann wünschten, wenn wir am Samstag durch ein Möbelhaus streunten: Polstergarnitur, Couchtisch, Schrankwand und dicke Teppiche mit exotisch wirkenden Mustern.

Im Hintergrund lief ein Fernseher, in dem sich zwei Menschen in flimmernder Farbe unterhielten; jemand hatte den Ton abgestellt und niemand schaute hin. Auf der Couch und den Sofas saßen Leute, auf dem Fußboden lungerten einige herum, an der Schrankwand standen einige Jungs und probierten unter viel Geschrei die Getränke in der Hausbar von Assis Eltern durch, und über alledem schwebte eine Wolke, die würzig und intensiv roch. Man musste nicht selbst kiffen, um genügend Marihuana einzuatmen.

Ich ließ mich zu der Gruppe auf dem Fußboden treiben, trank wieder aus der Flasche und setzte mich zwischen Simmi und ein anderes Hippie-Mädchen, das ich nur vom Sehen her kannte. Das Mädchen war ganz schön rundlich und roch intensiv nach Patchouli, jenem Duft, den viele Mädchen zwischen der neunten und elften Klasse bevorzugten, den ich nicht mochte, der aber im Jugendzentrum aus manchen Sofas zu quellen schien, als würde er dort literweise vergossen.

»Hey«, sagte ich höflich. »Ich bin Klaus.«

»Weiß ich schon«, gab das Mädchen mürrisch zurück. »Klaus, der Dorfpunk. Ich bin Betty.« Betty drehte sich so zur Seite, dass sie mich nicht anzusehen brauchte.

»Na gut.« Ich tat locker und nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Ich merkte, dass Simmi mich anschaute, und reichte ihr die Flasche. »Willst du auch?«

»Du bist ja immer noch am Apfelkorn.« Sie schüttelte den Kopf. »Darauf hab ich keine Lust. Ich halte mich an Bier, und ich rauche was.«

Jetzt erst bemerkte ich, dass ich direkt bei den Kiffern gelandet war. Ein großer Joint machte die Runde, ein Tabakbeutel mit Marihuana-Krümeln lag in der Mitte. Viel geredet wurde nicht, alle starrten vor sich hin, rauchten oder hingen ihren Gedanken nach. Ich fand das sofort langweilig: junge Leute mit toten Augen.

So stell ich mir nicht eine krachige Party zum Jahreswechsel vor, dachte ich, aber da ich schon auf meinem Hintern saß, blieb ich. Als der Joint bei Simmi ankam, war er so gut wie erledigt. Sie nahm einen letzten Zug, kicherte dann albern und zeigte mir den kärglichen Rest. Ohne ein weiteres Wort drückte sie ihn in den Aschenbecher. Da ich keine Zigaretten drehen konnte und keine Lust darauf hatte, mir das Hirn mit Rauchwaren zuzunebeln, tat ich nichts, um einen neuen Joint zu bauen. Stattdessen nahm ich einen weiteren Schluck aus der Apfelkornflasche.

Matze drängte ins Wohnzimmer. Wie er es schaffte, immer eine Bugwelle an Aufmerksamkeit vor sich herzuschieben, fand ich stets unfassbar. Während sich um mich kein Mensch geschert hatte, blickten alle auf, als er an den Rand der Runde trat und seinen Blick schweifen ließ. Dann ließ er sich mit einem ächzenden Laut zu uns heruntersinken, quetschte sich zwischen Simmis Rücken und einen Polstersessel.

»Bequem ist anders«, sagte er mit aufgesetztem Seufzen und legte seine große Hand auf Simmis Rücken. »Aber wenn nette Leute da sind, freut’s mich auch an einem engen Platz.«

Ich verdrehte die Augen, sagte aber kein Wort. Verwundert stellte ich fest, dass Simmi nichts gegen seine Hand einzuwenden hatte. Sie ließ sie auf ihrem Rücken, wehrte sich nicht im Geringsten. Nicht dass ich Simmi sonderlich toll fand, aber sie war das einzige Mädchen, das auf der Party mit mir redete. Bei Simmi sah ich zumindest die Chance, mit ihr ins neue Jahr zu knutschen – und da kam Matze daher und räumte wieder alles ab.

Matze bewegte seine Hand auf Simmis Rücken auf und ab, beugte sein Gesicht zu ihrem Ohr hinüber und laberte irgendwas. Ich verstand kein Wort, aber es schien witzig zu sein, denn sie lachte leise.

Frustriert wollte ich einen erneuten Zug aus der Flasche nehmen. Erstaunt stellte ich fest, dass sie leer war. Es war noch nicht einmal zehn Uhr abends, und ich war schon besoffen. Ich brauchte Nachschub, und ich wollte Matzes Balzspiel neben mir nicht länger zusehen. Zudem wurde bereits ein neuer Joint gedreht, in den ordentlich »Ladung« gepackt wurde, und darauf hatte ich noch weniger Lust.

Ich stellte die Flasche so hinter den Sessel, an dem Matze lehnte, dass sie nicht gleich umfallen würde, und zog mich an der Lehne hoch. Während der Bewegung spürte ich bereits, dass ich nicht nur ein bisschen besoffen war. Wenn ich nicht aufpasste, fiel ich um; also entfernte ich mich vorsichtig aus der Kifferrunde, hielt an einem Tisch an, auf dem eine geöffnete Flasche Rotwein stand, und nahm diese an mich.

Nach dem Apfelkorn schmeckte der erste Schluck Rotwein eher bitter, aber ich bekam ihn hinunter. In meinem Mund machte sich ein pelziges Gefühl breit. Trotzdem schmeckte das Getränk ganz gut. Vielleicht sollte ich öfter mal andere Weine probieren als die, die sich im Keller meiner Eltern fanden; die standen eher auf süße Weine aus der württembergischen Provinz.

Langsam ging ich in den Flur hinaus und nahm einen zweiten Schluck aus der Flasche. Ich merkte, dass ich nicht mehr gerade gehen konnte. Die Wände wirkten verschwommen, die Jacken an der vollgepackten Garderobe kamen mir vor wie eine wabernde Masse aus Stoff und Wolle. Aus dem Wohnzimmer drang jetzt LED ZEPPELIN; die Band mochte ich nicht, aber nach wie vor standen viele Leute auf sie. Wie konnte man Ende 1980 eine Band hören, deren große Zeit schon zehn Jahre vorüber war? Das verstand ich nicht. Punk war neu, die Neue Deutsche Welle war neu, New Wave war neu, meinetwegen sogar Reggae und Ska – und deshalb hörte ich lieber aktuelle Musik, nicht den Kram, der junge Leute vor zehn Jahren begeistert hatte.

Auf einmal stand Assi vor mir, er hielt etwas vor meine Augen und sagte einige Worte, die ich nicht verstand. Er lachte, dann sprach er akzentuierter. »Hey, Klaus«, sagte er, »wir wollen mit MOSSAD noch mal spielen. Und hier hab ich dir sogar ein Plektrum, damit du dir die Finger nicht komplett blutig spielst.«

Ich nickte und nahm ihm das Stück Kunststoff ab. »Super.« Vorsichtig, damit ich nicht gegen die Wand fiel, folgte ich ihm in die Küche.

Ede wartete schon auf uns, die Gitarre in der Hand. Wieder drückten sich einige Zuschauer an die Wände. Assi plumpste hinter das Schlagzeug auf den Stuhl, während ich mich an der Spüle abstützte und mich dann vorsichtig auf den Stuhl niederließ. Die Weinflasche stellte ich auf dem Fußboden ab. Alles schwamm vor meinen Augen, jemand reichte mir den Bass. Fast wäre ich nach vorne gefallen, aber ich hielt mich mühsam auf dem Stuhl.

»Der ist fertig«, hörte ich jemanden sagen. Es war nicht Assi, vielleicht Ede, aber ich konnte die Stimme nicht exakt zuordnen.

»Egal.« Das war jetzt eindeutig Assi. Als ich meinen Blick in die Richtung der Stimme konzentrierte, sah ich sein grinsendes Gesicht vor mir wie einen Ballon, viel zu groß und aufgequollen. »Wir spielen.« Er zählte los, dann begannen er und Ede. Ich saß da, schaute die beiden an, hielt den Bass in der Hand und konnte meine Hände nicht bewegen. Nichts ging. Weder schaffte ich es, meine Finger an die Saiten zu packen, noch hielt ich den Griff so, dass ich irgendwie greifen konnte. Kraftlos ließ ich das Plektrum auf den Boden fallen.

Assi brach ab. »Scheiße. So wird das gar nichts. Hey, Klaus, lass das mal, so kriegen wir MOSSAD nicht zum Laufen.«

»Hast ja recht.« Mit beiden Händen legte ich den Bass auf die Spüle, dann stemmte ich mich hoch. »Später vielleicht noch mal.«

»Sicher nicht«, sagte Ede. Einige lachten beifällig.

Mühsam bückte ich mich, um die Flasche hochzuziehen. Es fiel mir schwer, aber ich schaffte es, die Küche aufrecht zu verlassen. Hinter mir hörte ich, wie Assi ein wenig trommelte, während andere laut lachten. Galt das mir? Es war mir gleichgültig.

Im Flur nahm ich erneut einen kräftigen Schluck. Den Rotwein hatte ich schon zur Hälfte in mich hineingekippt. Ob es eine schlaue Entscheidung war, den trockenen Wein auf den pappsüßen Apfelkorn zu schütten? Ich lehnte mich gegen die Wand und versuchte nachzudenken. In meinem Magen rumorte es, als ob die zwei Getränke miteinander Krieg führten. Das ging eifrig hin und her, alles wurde gründlich umgewälzt, und erste Spritzer hüpften nach oben, gerieten in meine Speiseröhre. Kurzerhand schluckte ich eine Ladung saurer Flüssigkeit hinunter, die sich auf einmal in meine Kehle verirrt hatte – aber dann war es zu spät.

Ich hatte noch genügend Geistesgegenwart, die Weinflasche auf den Boden zu stellen, ins Badezimmer zu eilen und hinter mir die Tür zu schließen, als ich auch schon über dem Waschbecken hing und loskotzte. Der Ekel schüttelte mich, während ich immer mehr aus mir herauswürgte: die Reste von schnell gegessenen Chips und Süßigkeiten, vermischt mit Apfelkorn und Rotwein, eine widerlich riechende Brühe in rot und weiß, die innerhalb kürzester Zeit das Waschbecken zur Hälfte füllte.

Genügend Hirn war mir geblieben, um zu erkennen, dass ich daran etwas ändern musste. Kurzerhand beugte ich mich zur Seite, hielt den Kopf über die Badewanne und kotzte direkt auf den Abfluss, ging langsam in die Knie und legte meinen Oberkörper auf den Rand der Wanne. Das Prasseln der Kotze klang in meinen Ohren überlaut, und als ich das Gefühl hatte, es komme nichts mehr nach, blieb ich in meiner kauernden Position. Ich fühlte mich elend und würdelos; es war nicht das erste Mal, dass ich mich erbrechen musste, aber ich hatte noch nie zuvor nach Bier oder dem einen oder anderen Schnaps so gereihert.

Es klopfte an der Tür. »Hey, ich muss auch mal!«, schrie eine barsche Stimme, die ich nicht erkannte.

Ich ruckte hoch. Geistesgegenwärtig wischte ich mit dem Handrücken über meinen Mund, bevor die schmierigen Reste auf meine Kleidung tropften. »’tschuldigung«, gab ich undeutlich zurück, »ich brauch noch ’ne Weile.«

Es kam keine Antwort. Wenn ich Glück hatte, ging der Typ vor der Tür einfach in den Garten und erleichterte sich an einer Hecke. So schnell kam ich nämlich nicht aus dem Bad heraus. Mühsam erhob ich mich und betrachtete zuerst das Waschbecken, das immer noch zur Hälfte gefüllt war, dann das Bad, und noch während ich schaute, kam mir erneut die Kotze hoch.

Diesmal knallte ich direkt mit dem Oberkörper auf den Rand der Badewanne. Was jetzt noch kam, war widerwärtig und kratzte an meiner Speiseröhre, jeder Schluck und jeder Brocken, den ich hervorpresste. Röchelnd blieb ich danach auf dem Wannenrand. Wie sollte ich da jemals wieder herauskommen? Alles verschwamm, mir wurde buchstäblich schwach, und ich wäre am liebsten an Ort und Stelle eingeschlafen.

Einige Sekunden war ich wohl weg, denn als ich die Augen wieder aufriss, war die Kotze um meine Mundwinkel schon fast trocken. Ich beugte mich über die Badewanne, ließ Wasser laufen, wusch mir notdürftig das Gesicht und sah zu, wie sich das Wasser mit der Kotze vermischte und sie so gleichmäßig über den Wannenboden verteilte, ein Meer aus rötlichen und weißen Schlieren, die wie Algen auf dem Wasser trieben.

Später stand ich am Waschbecken, ließ Wasser laufen und rührte in der Kotze, um sie so in den Abfluss zu drücken. Es ging nicht, die schmierige Flüssigkeit trieb auf dem Wasser und verschwand nicht. Wieder klopfte jemand gegen die Tür, wieder gab ich eine Antwort, diesmal völlig unartikuliert, dann wusch ich mir die Hände und drehte mich kopfschüttelnd zur Seite. Irgendwann stand ich vor der Haustür, meine Jacke in der Hand. Es war schneidend kalt, der Schnee lag watteweich auf dem Dorf. Als ich langsam ausatmete, tanzte der weiße Dunst in kleinen Wolken vor meiner Nase.

»Das wird wohl nichts mit dir und dem neuen Jahrzehnt«, sagte jemand zu mir. Ich brauchte einige Zeit, bis ich erkannte, wer zu mir sprach; vor meinen Augen verschwammen erneut die Konturen. Dann sah ich, dass es Matze war, der den Arm um Simmi gelegt hatte und mich breit angrinste. »Der Start ist schon mal echt mies.«

»Scheiß drauf«, gab ich zurück. Ob er überhaupt ein Wort verstand, war mir egal. »Das Ende der achtziger Jahre erleben wir sowieso nicht mehr.«

»No Future oder was«, sagte Simmi und lachte hell.

Ich schüttelte den Kopf. »Scheiß drauf. Sagte ich doch schon.«

Während ich die beiden anschaute, versuchte ich meine Jacke anzuziehen. Ich merkte, dass ich taumelte und fast hingefallen wäre, aber den Gefallen wollte ich Matze nicht tun. Ich brauchte eine Ewigkeit, bis ich die verdammte Jacke anhatte, aber ich schaffte es allein. Dann drehte ich mich ohne einen Gruß um und ging los; jeder Schritt war mühsam, der Schnee und das Eis auf der Straße machten es nicht einfacher.

Als ich über die Dorfstraße wankte, schoss einer eine Rakete ab. Kein Auto war zu sehen, auch kein Spaziergänger traute sich in die Kälte. Hinter den erleuchteten Fenstern sah ich Menschen, die sich im Licht der Deckenlampen bewegten; überall sah es feierlich und festlich zugleich aus. Nicht mehr lange und das Jahr 1981 würde beginnen.

Ich hatte einen Kilometer zu Fuß, bis ich daheim war. Wenn ich es geschickt anstellte, bekamen meine Eltern nicht mit, dass ich mich durch die Haustür schlich und in meinem Zimmer ins Bett legte. Der nächste Tag war mir egal, das ganze Jahr 1981 war mir egal, und was in den achtziger Jahren passieren würde, interessierte mich keinen Millimeter weit.

Prosit Neujahr!, dachte ich.

Nazi Weißbart

Es sah noch nicht nach Weihnachten aus, nicht nach Schnee und dem kühlen Knistern, das man in der Dunkelheit machte, wenn man durch die Straßen ging, nur nach einer weiteren Verlängerung des Herbstes. Regen peitschte über den Platz vor der Hauptpost, schleuderte die letzten Blätter von den Bäumen und über die Straße.

»Schläfst du?« Iwan schlug mir gegen den Oberarm. »Spiel deine Karten aus! In den Regen kannst du stieren, wenn du im Bus sitzt.«

»Ich weiß«, sagte ich halblaut. »Aber es könnte sein, dass wir bald Ärger bekommen.« Angestrengt spähte ich durch die Scheibe nach draußen. Hatte ich gerade einen langen hellen Mantel und einen weißen Bart unter den Arkaden gesehen, oder bildete ich mir das nur ein?

»Egal.« Iwan blieb immer stur, ich kannte ihn jetzt seit zwei Jahren. »Wir spielen hier um Geld, da ist mir Ärger völlig egal.«

Ich drehte den Kopf. Wieder kam ein Schwall von Menschen in das Postamt, sie brachten feuchte Luft, Dreck und Lärm mit sich. Der gesamte Vorraum stand voll. Dutzende von Menschen warteten auf die Busse, die sie zu den umliegenden Ortschaften bringen sollten; im Freien gab es derzeit keinen Schutz gegen den Wind und den Regen, der auch unter das Vordach des Postamtes pfiff.