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BERNHARD HEINZLMAIER

ANPASSEN, MITMACHEN, ABKASSIEREN

Wie dekadente Eliten unsere

Gesellschaft ruinieren

Essay

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Originalausgabe

© 2016 Hirnkost KG, vormals Archiv der Jugendkulturen Verlag, Berlin;
prverlag@jugendkulturen.de;
www.jugendkulturen-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage September 2016

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)

Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)

E-Books, Privatkunden und Mailorder:
www.shop.jugendkulturen.de

Layout: Linda Kutzki

Lektorat: Klaus Farin

978-3-945398-50-0 (Druckausgabe)

978-3-945398-51-7 (PDF)

978-3-945398-52-4 (E-Book)

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INHALT

DIE HERRENSIGNIFIKANTEN

DAS ENDE HAT BEREITS BEGONNEN

DIE GEISTIGE VERGREISUNG DER POLITIK UND IHR PARANOIDES INNENLEBEN

DIE DOMINANZ DES POSTHEROISCHEN INDIVIDUUMS

Oder: der Nörgelbürger im Größenwahn

DAS WIEDERERSTARKEN DES RELIGIÖSEN TOTALITARISMUS

DIE VERLETZUNG DER ALLERENGSTEN INTERESSENSLAGEN

und der Egozentrismus der Bourgeoisie

DAS LEITMILIEU DER BUSINESS-DEPPEN

DIE ÖKONOMISIERUNG DER GESELLSCHAFT SCHREITET VORAN

WENN MENSCHEN AUS MACHTLOSIGKEIT ZU MISSGÜNSTIGEN MONSTERN WERDEN

Oder: Populismus in Zeiten von Ressentiment und Soft-Egozentrismus

DIE ELITEN UND DIE MASSE: EINE EINHEIT IN DER DIFFERENZ

DIE GEGENWARTSPOLITIK: ÜBERTRAINIERT UND KAPUTTBERATEN

DIE NEUE DIENSTLEISTUNGSELITE ALS MOTOR DER ENTSOLIDARISIERUNG

und der drohende Abgrund des Rechtspopulismus

ZUM ABSCHLUSS: KEINE TOLERANZ FÜR DIE INTOLERANZ

BERNHARD HEINZLMAIER

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Wie dekadente Eliten unsere Gesellschaft ruinieren

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Der Autor

Bernhard Heinzlmaier ist seit über zwei Jahrzehnten in der Jugendforschung tätig. Er ist Mitbegründer des Instituts für Jugendkulturforschung und seit 2003 ehrenamtlicher Vorsitzender. Hauptberuflich leitet er das Marktforschungsunternehmen tfactory in Hamburg. 2013 erschien im Archiv der Jugendkulturen Verlag von ihm: Performer, Styler, Egoisten. Über eine Jugend, der die Alten die Ideale abgewöhnt haben.

Kontakt: bheinzlmaier@jugendkultur.at

DIE HERRENSIGNIFIKANTEN

Die im Jahr 2015 erschienene Ausgabe der seit den 1950er Jahren unregelmäßig publizierten Shell Jugendstudie glaubt uns eine Jubelmeldung verkaufen zu können, indem sie die Rückkehr der Jugend zur Politik feiert. Seit dem Jahr 2002, so die veröffentlichte Publikation zur Studie, ist die Selbsteinschätzung des politischen Interesses unter den deutschen Jugendlichen deutlich gestiegen. Waren es im Jahr 2002 noch 34 Prozent der 15- bis 24-Jährigen, die sich an der Politik interessiert zeigten, so ist diese Gruppe im Jahr 2015 auf 46 Prozent angewachsen. Die StudienautorInnen konstatieren mit Bezug auf diese Daten eine „Trendwende beim politischen Interesse“. Die Jugend kehrt zur Politik zurück, wird suggeriert (vgl. Shell 2015: 157).

Österreichische Erhebungen scheinen ganz ähnlich eine Tendenz der „Repolitisierung“ der Jugend aufzuzeigen. Laut einer GfK-Jugendstudie, die den bizarren Titel Wie heutig ist „die heutige Jugend“? trägt und aus dem November 2014 stammt, zeigt sich im Zeitraum von 2007 bis 2014 gar ein dramatischer Anstieg des politischen Interesses. Waren 2007 lediglich 14 Prozent „sehr stark“ oder „eher stark“ an Politik interessiert, so ist diese Gruppe im Jahr 2014 auf 31 Prozent förmlich explosionsartig angeschwollen. Die Gruppe der politisch Desinteressierten hingegen ist von 37 Prozent (2007) auf 19 Prozent (2014) zusammengeschrumpft (vgl. GfK Austria 2014: 55f.).

Aber die Shell Jugendstudie hat noch mehr zu bieten. Sie gibt uns auch Auskunft darüber, dass die Zufriedenheit mit Demokratie und Gesellschaft deutlich gestiegen ist. So sind im Jahr 2015 73 Prozent der Jugendlichen in Deutschland mit der Demokratie zufrieden, während es im Jahr 2006 nur 56 Prozent waren (vgl. Shell 2015: 173f.).

Einmal abgesehen davon, dass sich die hier besprochenen Studien lange vor der Eskalation des Flüchtlingszustroms aus dem arabischen Raum im Feld befanden, ein Umstand, der wohl zumindest auf die Zufriedenheit der jungen Zielgruppe mit der Demokratie negativ eingewirkt haben müsste, gilt es auch zu hinterfragen, wie es um die Aussagekraft von Begriffen wie „Politik“ oder „Demokratie“ bestellt ist.

Immanuel Kant schreibt in seiner Logik, dass Inhalt und Umfang eines Begriffs im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen. Und weiter: „Je mehr nämlich ein Begriff unter sich enthält, desto weniger enthält er in sich und umgekehrt“ (Kant: Logik, § 7). In die Sprache der Gegenwart übersetzt meint Kant hier, dass je mehr ein Begriff zu umfassen versucht, desto weniger von dem, was er bezeichnen will, kann er enthalten. Oder mit Umberto Eco: Ein Begriff, der eine unbegrenzte Extension hat, dessen Intention ist gleich Null.

Mit Begriffen, die nichts bedeuten, hat sich auch der französische Psychoanalytiker Lacan auseinandergesetzt. Er nannte sie „Herrensignifikanten“ oder „leere Signifikanten“. Ein „leerer Signifikant“ zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht mehr ist als ein Behälter, der sich immer wieder verschiebende Bedeutungen enthält. Zwei solche leeren Signifikanten sind die Begriffe „Politik“ und „Demokratie“. Die meisten der jungen Menschen, die man befragt, halten sie irgendwie für wichtig, obwohl deren Inhalt sich nicht nur aufgrund hegemonialer Kämpfe (vgl. Žižek 2013: 278) ändert, sondern denen aufgrund ihrer ausgedehnten Allgemeinheit jeder Einzelne die unterschiedlichsten Bedeutungen unterschieben kann.

Es ist deshalb eine sinnlose Technik der Sozialforschung, Begriffe mit einem dermaßen hohen Abstraktionsgrad einer Untersuchungsgruppe zur Bewertung vorzulegen, zumindest für den Fall, dass man der Wahrheit nahekommen will. Will man hingegen Ideologie produzieren, d. h., geht es um Manipulation und Stimmungsmache, so ist das Jonglieren mit „leeren Signifikanten“ natürlich ein hochgradig zielführendes Mittel.

Studien, die das politische Interesse einer Gesellschaft oder ihrer Teilgruppen auf dermaßen direkte und banale Art abfragen, sind entweder dumm oder, was wahrscheinlicher ist, produzieren ganz bewusst Ideologie zur Legitimation der herrschenden Politik. Hier wird Meinung gebildet, um die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre politischen Repräsentationen zu stabilisieren.

Die Realität sieht anders aus.

DAS ENDE HAT BEREITS BEGONNEN

Es ist ganz offensichtlich, die Politik, so wie wir sie bisher gekannt haben, ist dabei, zu verschwinden. Was von ihr noch übrig ist, ist eine Ansammlung von handlungsunfähigen hohlen Gefäßen, genannt Parteien, deren Äußeres zwar artig und adrett aussieht, deren Innenleben aber heruntergekommen und verrottet ist.

Aber auch die Ästhetik der Parteien ist, sieht man genauer hin, nichts als wertloser Flitter, von empathie- und geistlosen PR- und Werbeagenturen geschaffener billiger Kommunikationskitsch, bestehend aus trivialer, einfallsloser und redundanter Bildästhetik und platter, schaler und banaler Rhetorik. Der kommunikative Auftritt der Politik ist genauso abgeschmackt und unkreativ, wie es ihre Strategie- und KommunikationsberaterInnen sind, die allesamt von der Meinung des Mainstreams geleitet vor sich hin arbeiten, ohne jemals auch nur auf die Idee zu kommen, die Grenzen der von den Massenmedien vorgegebenen, streng normierten Diskurs- und Designräume minimal zu überschreiten. Die Politik ist von einem lähmenden Konformismus beherrscht, der bewirkt, dass für die politischen AkteurInnen nicht die eigene autonome Entscheidung handlungsleitend ist, sondern das, was als Gewohntes und Gebräuchliches allgemein anerkannt und vorgegeben ist.

Ein gutes Beispiel für den Opportunismus, für die alles dominierende Rückgratlosigkeit und die perverse Lust an der Subordination unter die Macht des Mainstreams in der Politik ist das Agieren der politischen Umfrageforschung, in der es zum Usus geworden ist, darauf zu achten, dass die eigenen Erhebungsdaten, bevor man sie veröffentlicht, nicht zu deutlich von den Ergebnissen anderer Umfrageinstitute abweichen. So werden die Wahlprognosen immer homogener, was zur Konsequenz hat, dass entweder alle ein passendes Ergebnis haben oder keiner. Wer Teil eines solchen Kartells der Risikovermeidung ist, muss keine Angst davor haben, mit seinen Prognosen allein falschzuliegen, hat aber auch keine Chance, aus der Masse der Mutlosen als der hervorzutreten, der der Wahrheit als Einziger am nächsten gekommen ist.

Wie in der Wirtschaft wird auch in der Politik nur von den Segnungen und der Notwendigkeit des freien und unbegrenzten Wettbewerbs geschwätzt. Wirklich haben will ihn niemand. Das zeigt sich in der Praxis daran, dass die großen und kleinen Player der kapitalistischen Ökonomie, wo immer sie können, geheime Absprachen treffen, die die Marktgesetze außer Kraft setzen, oder durch Lobbying anstelle von ehrlicher Leistung an begehrte Aufträge zu kommen versuchen.

Die europäische Wirtschaft ist auch in Zeiten der neoliberalen Marktverherrlichung nach wie vor stärker auf den Staat bezogen als auf den Markt. Und unter dem Einfluss der staatsfixierten Wirtschaft verkommt das Gemeinwesen immer mehr zur Melkkuh für Unternehmen, die sich von diesem nicht nur jede Innovation finanziell fördern lassen, sondern auch jeden Schaden, der durch riskante strategische Manöver entsteht, abgegolten haben wollen. Heute gilt es als selbstverständlich, dass der deutsche Staat Milliarden in die Hand nehmen muss, wenn die Autoindustrie Fahrzeuge mit Elektroantrieb auf den Markt bringen will, genauso wie es selbstverständlich geworden ist, den Banken die Verluste aus risikoreichen Veranlagungen mit Steuergeldern auszugleichen. Die Wirtschaft verhält sich wie das missratene Kind einer wohlstandsverwahrlosten Erziehung. Wenn es ihm gut geht, dann will es von den Eltern nichts wissen, keine Verantwortung für die Familie übernehmen und sich auf gar keinen Fall an irgendwelche Vereinbarungen und Regeln halten, aber wenn es Probleme gibt, dann kommt es heulend angelaufen und erwartet selbstverständlich Hilfe und Unterstützung.

Ebenso machen es die politischen Parteien, denn das, was die Wirtschaft tut, ist in Zeiten der totalen Ökonomisierung, der Erhebung der Marktlogik zur allgemeinen Handlungsnorm des menschlichen Daseins, für alle verbindlich, die Anerkennung bekommen und auf der Seite der GewinnerInnen stehen wollen. Auch dort denkt man gar nicht daran, mit einer soliden Interessenspolitik und guten Programmen in einen ehrlichen Wettbewerb um die Stimmen der BürgerInnen zu treten. Viel einfacher ist es doch, sich mit großen Inseratenvolumen eine günstige Berichterstattung zu erkaufen. Während das gelungene Management von großen Wirtschaftsbetrieben primär im erfolgreichen Abgreifen von staatlichen Subventionen und der Akquisition von Aufträgen durch kriecherisches Lobbying zu bestehen scheint, ist die Kunst der postmodernen Politik die Manipulation der öffentlichen Meinung mit Hilfe von Medienkooperationen und der geschickten Personalpolitik in den öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen.

Die Politik unserer Tage hängt wie die Wirtschaft am Tropf von geschäftstüchtigen, aber geistlosen KommunikationsberaterInnen. Deren vorrangige Aufgabe ist es, attraktive Zeichenwerte zu schaffen. Auf den Konsumgütermärkten soll das gleißende Licht des Zeichenwertes verschleiern, dass der Gebrauchswert der meisten Produkte eine reine Chimäre ist. Die Hauptaufgabe von PR und Werbung ist es, die Leere so zu verpacken, dass sie den KonsumentInnen als Fülle erscheint, oder dem unnützen Inhalt eines Produkts den Schein der Brauchbarkeit zu geben.

Im Zuge der Ökonomisierung und Vermarktlichung der gesamten Lebenswelt der Menschen hat das Spiel mit den Zeichenwerten am Ende auch die Politik ergriffen. Wie die kommerzielle Kommunikation wird die politische Kommunikation nun weitgehend zur reinen Kommunikation, zum freien Spiel flottierender Zeichen ohne Realitätsbezug. Kommerzielle wie politische Kommunikation sind heute in der Regel reiner Betrug. Ihre Aufgabe ist es, die Welt anders erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich ist. Man strebt nicht mehr danach, mit seinen Darstellungen und Botschaften der Wirklichkeit nahezukommen. Die handlungsleitende Grundintention ist der Wille zur Wirklichkeitsverzerrung.

Viele BürgerInnen haben in der Zwischenzeit gelernt, den Schwindel der politischen Kommunikation zu durchschauen, und reagieren, je nachdem, welchem Milieu sie angehören, unterschiedlich.

Die Milieus der Ober- und Mittelschichten passen sich der Kultur der Unaufrichtigkeit opportunistisch an, integrieren sie in ihr persönliches Verhalten und lügen in ihrem Berufs- und Privatleben zum eigenen Vorteil, dass sich die Balken biegen. Sie haben jede Verbindung zu den klassischen bürgerlichen Tugenden wie Ehrlichkeit, Treue und Anständigkeit gekappt. Da sie eine ausgezeichnete Begabung zur Verdrängung haben, leiden sie vordergründig nicht unter dem Kummer und dem Unglück, die ihr amoralisches, nur am persönlichen Erfolg ausgerichtetes Handeln bei ihren Mitmenschen verursacht.

Sie entkommen ihrer Schuld aber nicht. Aus dem Unbewussten werden sie von ihr immer wieder bedrängt. Schweißgebadet erwachen sie des Nachts, nachdem ihnen die Opfer ihres Egozentrismus im Traum erschienen sind. Viele SpitzenrepräsentantInnen aus Wirtschaft und Politik leiden unter Depressionen. Wer von ihnen nicht zum Neurologen geht und sich Antidepressiva oder Stimmungsaufheller verschreiben lässt, versucht sein mahnendes Gewissen durch ein zügelloses und enthemmtes Leben nach Feierabend zu betäuben. Auch dabei nehmen sie keine Rücksicht auf die Menschen, die sie für ihre Spannungsabfuhr „vernutzen“. So vergewaltigen sie ihre Umwelt zum zweiten Mal, vergrößern damit aber gleichzeitig ihre Schuld und leiden in der Folge noch mehr. Wir normalen BürgerInnen, die in der Regel zu den Opfern dieser überheblichen und gewissenlosen Eliten gehören, gönnen ihnen jede einzelne ihrer psychischen Qualen von ganzem Herzen. Wir freuen uns diebisch, wenn wir in der Zeitung lesen, dass einer von ihnen mit Burn-out-Symptomen in die Klinik eingeliefert wurde, eine Alkohol- oder Drogenentziehungskur antreten musste oder gar wegen eines Betrugsdelikts ins Gefängnis gewandert ist. Die Zusammenbrüche und Niederlagen der dekadenten Wirtschaftseliten sind unsere kleinen Freuden des Alltags, die uns gleichzeitig das Gefühl geben, dass es doch eine höhere Gerechtigkeit gibt.

Ob Mensch oder Natur, alles wird den Ego-Eliten unserer Tage zum Mittel für den persönlichen Zweck. Rücksicht nehmen sie nur auf sich selbst und auf die wenigen Menschen, die ihnen nahestehen – ihre FreundInnen, ihre LebenspartnerInnen, ihre Familienangehörigen. Doch selbst diese werden, wenn mit der Zeit ihre Anziehungskraft schwindet, ganz pragmatisch gegen neue, attraktivere Alternativen ausgetauscht. Ihren Egozentrismus leben Ober- und Mittelschicht aber mit Stil aus, sie behübschen ihre rücksichtslosen Egotrips mit guten Manieren, den hohlen Ritualen der Höflichkeit. Die Ego-Eliten sind eine ästhetische Gemeinschaft. Den Wert des Lebens finden sie primär in Äußerlichkeiten.

Ein gutes Beispiel dafür, dass das postmoderne Performertum, die Wirtschaftseliten, das ethische Leben, das sich an Tugenden wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit oder Treue ausrichtet, längst verabschiedet und es gegen ein ästhetisches Leben abseits der Moral getauscht haben, in dem es nur mehr um den egozentrischen Lustgewinn, den wirtschaftlichen Erfolg und den schönen Schein geht, ist der deutsche Unternehmer Henning Zoz.