Über das Buch:
„Hildegard hätte sich heute am liebsten ganz still verhalten, doch ohne sich lange zu zieren, setzte sie sich ans Klavier und sang ein einfaches kleines Abendlied. Die ganze Gesellschaft verstummte und lauschte dem Gesang, der so einfach und doch so ergreifend war. Und in der offenen Tür des Studierzimmers lehnte Waldemar von Buchwald, die Augen fest gebannt auf das am Klavier sitzende Mädchen, bis die letzte Strophe verklungen war.“
Herzensunruhe treibt die jungen Menschen um, die im Haus des hochangesehenen Professor Rothe ein und aus gehen. Bis auch sie in der Hand ihres Schöpfers zur Ruhe kommen können, gilt es, so manchen Gemütssturm zu überstehen. Doch Gottes Wege können auch von althergebrachten Standesschranken nicht durchkreuzt werden ...

Über die Autorin:
Helene Hübener wurde 1843 in einem mecklenburgischen Pfarrhaus geboren. Sie verlor früh den Vater, besuchte eine höhere Töchterschule und widmete ihr Leben der Pflege kranker Verwandter – ob Tante, Mutter oder Schwester. Einen Ausgleich für die schwere Arbeit fand sie im Bücherschreiben. 1918 starb sie hochgeachtet in Gehlsdorf an der Ostsee.

Die Aufführung

Es war Freitag in der Michaeliswoche. Auf den Straßen rasselten mit Koffern bepackte Droschken. Vor Professors Hause bemerkte man keine. Die Abreise sämtlicher Pensionäre sollte erst Sonnabend stattfinden, da am Freitagabend das vielbesprochene Märchen in Szene gesetzt werden sollte. Die Aufregung und Verwirrung in der zweiten Etage war groß.

„Liebe Tante“, bat Emma, „drücke heute nicht ein, sondern alle beide Augen zu, es wird wohl etwas drunter und drüber gehen.“

Was halfs! Die Tante musste gute Miene zum bösen Spiel machen, musste es geduldig ertragen, dass schon tags zuvor der Salon vor ihrer Nase zugeschlossen wurde, worauf Emma den Schlüssel einsteckte. Wilhelm war schon am Mittwoch eingetroffen und mit Jubel von den Jungen begrüßt worden. „Herr Rothe, können Sie Ihre Rolle? Sie machen den König! Helfen Sie uns beim Aufstellen der Kulissen?“ So ging es bunt durcheinander. Alles, was Wilhelm anfasste, hatte Hand und Fuß. Die Jungen sahen ihm mit Staunen zu, in diesen Tagen wuchs ihre Anhänglichkeit und Verehrung für ihn bedeutend. Unter anderem stellte er eine Mechanik her, die eine Taube sowie eine Weinflasche im geeigneten Moment von der Decke herabfliegen ließ, um ein „Tischleindeckdich“ herzustellen. Das begründete seinen Ruhm für immer. Es ist so leicht, die Herzen der Jugend zu gewinnen, wenn man Herz und Verständnis für sie hat, sich in ihre Freuden und Vergnügungen hineindenkt.

Mariechen, die seit dem Pflaumenmusvesper bei den Pensionären doppelt hoch angeschrieben war, machte sich noch beliebter dadurch, dass sie ihrem Vater die Erlaubnis abschmeichelte, am Abend der Aufführung sein Zimmer als Durchgang für die Spielenden benutzen zu dürfen. Er wollte erst gar nicht ran und meinte, es sei nicht zu verlangen, dass die Verwüstung sich bis auf seine Räume erstrecke – erst Emmas und Mariechens Versicherung, dass sie für jedes Buch haften wollten, für jede Unordnung selber büßen, rang ihm die Einwilligung ab. Am Morgen der Aufführung, als Emma dem Onkel den Kaffee brachte, saß er, den Kopf auf beide Hände gestützt. Emma wusste, was es bedeutete. Es war die Stimmung, die sich seiner stets am Vorabend großer Ereignisse bemächtigte. Sie fühlte sich deshalb durchaus nicht durch die kummervolle Miene des Onkels bedrückt, sondern suchte ihn nach allen Seiten hin zu beruhigen.

Eine Stunde später hörte Frau Rothe in der Schlafstube an ihrem Kleiderschrank rascheln. Eine dunkle Vorahnung trieb sie hinaus. Sie sah Wilhelm soeben ihr buntseidenes Kleid herausnehmen, ihr schönstes und bestes, und es Mariechen aushändigen. „Kinder“, rief die Mutter erschrocken, „was macht ihr denn hier?“ – „Mamachen, du wolltest ja beide Augen zudrücken, so darfst du auch heute nichts sehen, nichts hören. Da du nun aber doch gesehen, so will ich dir anvertrauen, dass ich das Kleid ganz notwendig gebrauche, da ich im zweiten Akt eine Prinzessin gebe und durchaus in Seide erscheinen muss.“

„Ich will dir mein altes schwarzseidenes allenfalls zugestehen, dieses entschieden nicht“, sagte die Mama in so bestimmtem Ton, dass Wilhelm als gehorsamer Sohn das Kleid schon während der Rede wieder still an seinen Platz hängte. „Schwarz“, sagte Mariechen niedergeschlagen. „Nun, wenn es nicht anders geht, müssen ...“ „... wir das Unvermeidliche mit Würde tragen“, ergänzte Wilhelm. „Und nun komm, Kleine, dass wir uns vor der mütterlichen Ungnade retten!“

Im Arbeitszimmer der Pensionäre sah es bunt aus. Ludwig saß auf dem Tisch und fabrizierte einen Mond, der abends scheinen sollte, während Kurt ein Diadem für Wilhelm, den König, aus Goldpapier kleisterte. Ernst und Konrad hatten mit ihrer Kleidung zu tun, dabei wiederholten sie ihre Rollen und liefen alle zehn Minuten zu Emma in die Küche, um dieses und jenes zu requirieren. Die musste sich gewaltsam zusammennehmen, um ihre Gedanken im Kopf zu behalten. Sie musste Mittag besorgen, für die Abendbewirtung alles herrichten, hatte außerdem die oberste Leitung der Aufführung und sollte selbst im Stück „die Hexe“ geben.

Auf Mariechen war heute nicht viel zu rechnen.

Sie hatte das Köpfchen so voll, denn eben war ein Brief von Frau von Buchwald eingetroffen, der Rosa und Walter zum Nachmittag anmeldete. Sie ordnete deshalb ihre Anzüge, den Prinzessinnenstaat und das Feengewand vor, um Röschen ungestört genießen zu können. Frau Rothe und Emma überzählten die zu erwartenden Gäste. Es war eine ziemliche Menge. Verschiedene Tanten, ein alter Onkel, Nichten und Neffen hatten zugesagt, ebenso wollten sich die Norweger, Herr Werner und andere Sonntagsgäste einstellen. „Hast du Fräulein Schmidt und ihre Schwester noch einmal aufgefordert?“, fragte Frau Rothe.

„Eingeladen habe ich sie beide; Fräulein Hildegard hat für sich zugesagt, die Schwester dagegen schlug es ab.“

„Aber wir wollen nicht die Zeit verplaudern. Es gibt bis zum Abend noch viel Arbeit, und heute müssen wir alle unser Möglichstes tun.“

Und Professors taten ihr Möglichstes. Abends war alles hell erleuchtet, und Dore stand mit weißer Schürze bereit, den Gästen die Tür zu öffnen. Emma war vom Schauplatz verschwunden, Wilhelm und Mariechen desgleichen. Auch die Pensionäre waren unsichtbar, desto mehr hörte man von ihnen. Flüstern, Plappern, Kichern und Lachen tönte hinter den Kulissen.

Ein scheußliches altes Weib huschte über den Korridor in die Studierstube hinein, wo die Schauspieler alle in fertigen Kostümen bereitstanden. Es war Emma. Ein donnerndes Jubelgeschrei empfing sie. „Wenn ihr nicht ruhig seid, zieh’ ich mich augenblicklich wieder aus, und der ganze Spaß ist vorbei.“ Das wirkte. Die Jungen wagten nur noch ganz leise begeisterte Ausrufe: „Fräulein Emma, Sie sehen wie eine natürliche Hexe aus.“

Und so war es. Niemand hätte unter der struppigen Wergperücke das glattgescheitelte Köpfchen des kleinen Fräuleins vermutet. Das Gesicht war durch eine lange Pappnase sowie durch große, hervorstehende Zähne arg verunstaltet, und der Anzug, der nicht passender erdacht sein konnte, unterstrich die Wirkung. Doch die Zeit des Anfangs nahte. Emma, die Hexe, begab sich mit einem brennenden Öllämpchen in die kleine, für sie bestimmte Hütte, und lautes Klingeln verkündete den Beginn. Die Flügeltüren öffneten sich, und aus dem Munde der Zuschauer ließ sich ein einstimmiges „Ah“ vernehmen.

Der Salon war zu einem Wald umgeschaffen. Eine Tanne stand neben der andern, dazwischen andere grüne Gewächse, als Palmen, Kallas, Gummibäume, die einen hübschen Eindruck machten. Es war Nacht. Oben vom gestickten Eckbrett ergoss der Mond sein mildes Licht und beleuchtete die Szene. Im Hintergrund, in der andern Ecke des Salons, stand eine kleine Hütte, in der ein trübes Licht zu brennen schien.

„Mutter“, sagte der Professor zu seiner Frau, „die Kinder haben es aber einzig nett gemacht!“ – „Ganz allerliebst“, antwortete sie, „doch still, jetzt kommen sie!“

Die drei Rolandsknappen traten auf. Sie kamen aus dem Tal Roncesvalies, erzählten, wie ihr treuer Führer Roland von Mauren überfallen und samt seinen Begleitern nach tapferer Gegenwehr erlegen sei. Nur sie drei wären mit dem Leben davongekommen und suchten für die Nacht ein Unterkommen. Nach langem Umherirren gewahrten sie ein kleines Licht in der Ferne. Sie kamen näher, entdeckten eine Hütte und versuchten sie vergeblich zu öffnen. Nach langem Klopfen begannen sie mit Steinen zu werfen, und nun endlich regte sich’s drinnen. Eine Hexe steckte den Kopf zum Fenster heraus und fauchte keifend, wer draußen sei und ihre Ruhe störe. Und endlich nach langem Hin- und Herreden kam sie zum Vorschein mit ihrem Lämpchen und ließ die Knappen eintreten.

Beim Erscheinen der Hexe entstand allgemeiner Jubel unter den Zuschauern, es war schwer für die Spielenden, die Fassung zu behalten. Als der erste Akt schloss, war großer Beifallssturm. Der zweite Akt stellte das Innere des Hexenhauses dar. In der Mitte eines wunderlich ausgestatteten Raumes stand ein großer Kessel auf dem Feuer. Davor kniete die Hexe, mit einem großen Holzlöffel ihre Delikatessen rührend und sich gleichzeitig mit den drei abseits an einem Tisch sitzenden Knappen unterhaltend. Die Alte stellte ihnen Bedingungen, unter denen sie die drei behalten wolle. Als die Knappen sich weigerten, diese zu erfüllen, berührte sie sie mit dem Zauberstäbchen. Die Knappen waren versteinert! Wie Bildsäulen standen sie da. Sie machten ihre Sache vortrefflich. Bei der zweiten Berührung bekamen sie wieder Leben, und als sie nun einsahen, dass sie vollständig in der Gewalt der Hexe waren, willigten sie in alles, was von ihnen verlangt wurde.

Im dritten Akt kam die Belohnung. Die Bedingungen waren erfüllt, die Hexe wurde dadurch erlöst und in eine liebliche Fee verwandelt, die den Knappen zum Abschied Gaben reichte als Dank für ihre Hilfe. Sie erschien unter den Bäumen des Waldes, als die Knappen sich davonmachen wollten. Von weißem, duftigem Gewand umflossen, mit herabwallendem, goldigem Haar, auf dem Haupt einen Efeukranz, stand sie da, die liebliche Fee, mit ihrer Hand den erstaunten Knappen winkend. Eben als sie den dreien ihre Gaben aushändigte, entstand ein kleines Geräusch an der Wohnstubentür. Die Flügeltüren, die in den Korridor führten, waren weit geöffnet. Dore stand in ihm, von ferne lauschend und schauend. Da trat ein junger Offizier herein, Dore mit der Hand Stillschweigen gebietend. Er näherte sich leise dem Zuschauerraum und stellte sich in die letzte Reihe, wo die Norweger, Herr Werner und einige andere Herren standen. In den vorderen Reihen hatte man sein Kommen nicht bemerkt. Auch Waldemar war durch das liebliche Bild, das sich ihm bot, ganz gefesselt. Doch jetzt verschwand die Fee. Die Knappen packten ihre Geschenke aus, entrüstet über die wertlosen Gaben. Der eine hatte einen Däumling bekommen, der andere ein grobes Tuch, der dritte einen Pfennig. Wie sie allmählich aber dahinterkamen, dass mit diesen unscheinbaren Gaben wunderbare Kräfte verbunden waren, mit dem Däumling die Gabe, sich unsichtbar zu machen, mit dem Pfennig, durch sein Umdrehen so viel Gold, wie sie wollten, herbeizuzaubern, und das grobe Tuch sich als ein „Tischleindeckdich“ erwies – da jubelten die Knappen und priesen sich als die glücklichsten Menschen der Erde.

Während alle andern Zuschauer gespannt dieser Szene lauschten, ja die Tanten ganz überwältigt die Hände ineinander schlugen, als beim „Tischleindeckdich“ im entscheidenden Moment eine Semmeltaube und eine Weinflasche von der Decke herunterschnellte, sah und hörte Waldemar nichts mehr. Ihn fesselte etwas Unerwartetes.

Er hatte beiläufig seine Blicke prüfend über die Gesellschaft hingleiten lassen. Da saß in vorderster Reihe der Professor, seine Frau, ein alter Herr, eine ältere Dame und neben ihr das muntere Fräulein Walter. In der zweiten Reihe befanden sich zwei ihm unbekannte ältere Damen, dann ein Knabe, das war Walter! Neben ihm Rosa! „Das ist ja prächtig“, dachte er. Doch neben Röschen saß eine schlanke, feine Gestalt! Dasselbe schöne Gesicht, das er schon zweimal zu bewundern Gelegenheit gehabt, lächelte anmutig, aus den schönen Augen leuchtete eine kindliche Fröhlichkeit und eine herzliche Freude über alles, was sie sah und hörte. Das Beste war, sie ahnte nichts von seiner Gegenwart, und er hatte reichlich Gelegenheit, sie zu beobachten. Die Vorstellung war für ihn vorbei. Er sah und hörte nur Hildegard, fand das dunkelblaue Kleid, das ihre Gestalt umschloss, reizend, lauschte auf ihr silberhelles Lachen, auf die Bemerkungen, die sie vertraulich in das Ohr seiner Schwester flüsterte. Wie gern sah er die beiden beisammen. Würden sie sich einmal näher kommen? Da auf einmal erinnerte er sich des Standesunterschiedes, seine Stirn verdüsterte sich, er sah in ernsten Gedanken vor sich hin.

„Warum lachen Sie nicht wie alle?“, sagte einer der Norweger zu ihm. „Sie sehen immer auf den verkehrten Punkt und freuen sich nicht über famose Schauspieler.“

„Freilich freue ich mich“, sagte Waldemar zerstreut. „Die Leute machen ja ihre Sache wunderschön.“

Der Akt war zu Ende. Es folgte eine längere Pause, die von den Zuschauern in lebhafter Unterhaltung zugebracht wurde.

„Nein, köstlich!“, hörte man Käthes Stimme. „Die Kinder übertreffen sich selbst“, rief der Professor und sah so behaglich lächelnd drein, dass seine Frau ihre Hand auf seine Schulter legte und freundlich sagte: „Nun, Papachen, es gefällt dir doch auch ganz gut?“

„Freilich gefällt mir’s. Und dir auch, Onkel?“, sich an seinen alten Vetter wendend.

„Nun, ich sage gar nichts mehr! Werde fortan, wenn ich Gelüste nach dem Theater spüre, zu Professors gehen. Das ist erstens billiger, und zweitens hat man mehr Spaß davon.“

Im vierten Akt trat ein König auf mit seiner Tochter, einer boshaften Prinzess. Wilhelm, im roten Königsmantel, spielte seine Rolle meisterhaft, nicht minder Prinzess Marie, die sich im schwarzen Seidenkleid der Mama sowie in einer weißen, von Käthe geborgten Kaschmirmantilla sehr vornehm und würdevoll ausnahm. Sie unterhielten sich über die drei Knappen, die sich für Grafen ausgaben und am Hof des Königs erschienen waren, um um die Prinzessin zu werben. Die jedoch wusste bald herauszufinden, dass es Emporkömmlinge waren, die durch irgendwelche geheime Mittel sich immer neue Reichtümer verschafften. Bei einem Hoffest bestach sie einen Kammerdiener. Sie verabredete mit ihm, den Knappen einen Schlaftrunk beizubringen, wodurch sie Gelegenheit bekäme, ihnen die Zaubermittel, die sie, wie die Prinzess in Erfahrung gebracht, an goldener Halskette trugen, zu rauben. Der Knappe, der sich vermöge seines Däumlings allezeit unsichtbar machen konnte, hatte die Bosheit der Prinzess erkannt, er war bei der Unterredung der Prinzess mit dem Kammerdiener unsichtbar zugegen gewesen und vereitelte die bösen Pläne.

Alles wurde graziös gespielt. Der Unsichtbare führte seine Rolle meisterhaft zu Ende. Als alle nach wunderlichen Fahrten und Abenteuern glücklich gerettet, ihre geraubten Zaubermittel wieder in Händen hatten, verließen sie den Königshof und lebten fortan glücklich und zufrieden im Besitz ihrer Schätze. Den Schluss bildete ein Gefängnis, aus dem Ludwig seine beiden Genossen durch große Kühnheit erlöste. Die Szene hatte für die Zuschauer etwas Beängstigendes, und für die Jungen war gerade dieser Schluss, wo es zu klettern gab und sie ihre Turnkünste anwenden konnten, das Schönste von allem. Nun war es zu Ende! Man rief: „Famos, ihr Jungen! Alle Knappen heraus! König und Prinzess heraus, Fee heraus, Hexe heraus!“ Und so erschienen sie denn: die Knappen siegesbewusst, König und Prinzess sich an der Hand haltend. Doch als noch einmal: „Hexe heraus!“, gerufen ward, hieß es: „Hexe ist nicht mehr vorhanden, und Fee ist auf den Wolken entschwebt!“

Nun folgte ein buntes Durcheinander. Die Knaben hatten versprechen müssen, den Salon möglichst wieder herzurichten, und suchten dies, unterstützt von Dore und Emma, in kürzester Frist auszuführen. Wilhelm und Marie wechselten ihre Kostüme und begaben sich zur Gesellschaft. Die Gäste waren aufgestanden, sie unterhielten sich miteinander in Gruppen, und die sich noch nicht gesehen hatten, begrüßten sich. Rosa hatte sich eben mit den Worten erhoben: „Das war aber schön, Fräulein!“, und Hildegard wollte zustimmend antworten – da versagte ihr die Stimme. Ein Offizier kam auf Rosa zugeeilt, die flog in seine Arme mit dem Ruf: „Waldemar, du auch hier, das ist ja köstlich!“

Hildegard prallte zurück. Sie ergriff einen Stuhl, sich daran festzuhalten. Wie gut, dass niemand sie beachtete. Rosa nahm ihren Bruder vollständig in Beschlag, so dass er ihre Erregung nicht bemerkte. Vielleicht hatte er sie gar nicht gesehen. Wie sollte er auch das Mädchen, das Wäsche bei ihm abgeliefert, in dieser Gesellschaft vermuten! Sie zog sich möglichst weit in den Hintergrund zurück. Musste ihr der schöne Abend so verleidet werden! Jetzt kam ein Knabe auf den Leutnant zu, er ging mit beiden eifrig sprechend auf und ab, um damit, was Hildegard nicht ahnte, die eigene Verlegenheit zu decken. Er konnte Hildegard nicht begrüßen, sondern musste warten, bis er ihr vorgestellt war.

Nun kam der Professor auf Waldemar zu, begrüßte ihn und übernahm die Vorstellung der ihm unbekannten Gäste. „Herr Leutnant von Buchwald – Herr Dr. Rothe, ein Vetter von mir – Fräulein Lesenberg und Schwester – hier meine Schwester, Frau Gerichtsrat Schmalz.“ Man verbeugte sich gegenseitig. „Die Herren werden Ihnen bekannt sein“, fuhr der Professor fort, sich im Kreise umsehend. Dann gewahrte er Hildegard, winkte sie mit den Worten herbei: „Und hier unsere Nachbarin, oder vielmehr unser Gegenüber, Fräulein Schmidt.“ Er verbeugte sich; Hildegard, die im Hintergrund stehen blieb, erwiderte die Verbeugung mit einem Nicken.

Hildegard hatte sich schnell gefasst. Sie wusste, wie sie ihm begegnen wollte und musste. Die Fröhlichkeit, die ihr so gut gestanden, hatte einem ernsten Selbstgefühl Platz gemacht. Sie war sich ihrer Stellung ihm gegenüber bewusst. Er war ein vornehmer Herr von Adel, sie ein armes Mädchen, eine tiefe Kluft lag zwischen ihnen, daran wollte sie stets denken. Er hatte kein Recht, sich ihr zu nähern, ihre Wege mussten getrennt bleiben. Aber ein klein wenig Befriedigung spürte sie in dem Gedanken, ihn merken zu lassen, dass „seine Waschfrau“ sich zu benehmen wisse. Doch mied sie geflissentlich seine weitere Annäherung. Mit sicherem Takt schritt sie an ihm vorüber auf Käthe zu, deren Bekanntschaft sie heute Abend gemacht und deren Wesen sie anzog.

Waldemar, der so gern mit Hildegard gesprochen hätte, ärgerte sich, dass das Mädchen so unnahbar war. Er fragte Rosa unbefangen: „Wer ist das Fräulein?“

„Sie ist die Tochter einer armen Witwe und ist das erste Mal hier. Professors wollen sich ihrer etwas annehmen. Sie ist hübsch, nicht wahr?“

„O ja, ganz leidlich“, sagte Waldemar, nicht sonderlich erfreut über die Aufklärung. Er begab sich zu der Herrengruppe, um sich am Gespräch mit den Norwegern aufzufrischen.

Nun erschien Emma mit einer Punschbowle, Dore folgte mit Tellern und Weingläsern, Mariechen brachte Kuchen und belegte Butterbrote. Die Herren zogen sich in die Stube des Professors zurück, doch waren alle Türen geöffnet, es tat den Gästen wohl, sich nun in mehrere Zimmer verteilen zu können.

„Werden wir denn nicht auch einen musikalischen Genuss haben?“, fragte Tante Minchen.

„Gewiss“, sagte Käthe, „wenn es gewünscht wird.“

„Fräulein Hildegard, singen Sie?“

„Ein wenig“, war die Antwort.

„So geben Sie uns etwas zum Besten!“

„Es sind so viele hier“, sagte Hildegard, „die mir weit überlegen sind, dass ich bitten möchte, mich zu dispensieren.“

„O nein“, sagte Tante Jettchen, „von Ihnen möchten wir gerade ein Lied hören. Fangen Sie nur an, die andern folgen dann.“

Hildegard hätte sich heute am liebsten ganz still verhalten, doch ohne sich lange zu zieren, setzte sie sich ans Klavier und sang ein einfaches kleines Abendlied. Lag es nun an der lieblichen Melodie oder an dem eigentümlichen Schmelz der Stimme, kurz, die ganze Gesellschaft verstummte und lauschte dem Gesang, der so einfach und doch so ergreifend war. Und in der offenen Tür des Studierzimmers lehnte Waldemar, die Augen fest gebannt auf das am Klavier sitzende Mädchen. Bald standen auch die übrigen Herren lauschend an der Tür, und als die letzte Strophe verklungen war:

So in deinem Streben bist, mein Herz, auch du, Gott allein kann geben Frieden dir und Ruh!

Da rief einer der Norweger ganz begeistert aus, indem er sich dem Klavier näherte: „Lass mir das noch einmal hören!“

Alle mussten lachen, und der junge Mann sah etwas verblüfft drein, sagte aber trotzdem noch einmal, indem er sich zutraulich hinter Hildegards Stuhl stellte: „Bitte noch einmal.“ Bald war Hildegard von der jungen Welt umringt, alle baten sie um mehr. Sie erhob sich jedoch und sagte, Käthe anblickend: „Jetzt ist die Reihe an Fräulein Walter.“

Während Käthe sich bereit zeigte und in ihren Noten suchte und die andern jungen Leute auch in den Noten blätterten oder ins andere Zimmer zurückgingen, hatte Hildegard sich vom Klavier zurückgezogen und in die entfernte Fensternische gesetzt. Hier wollte sie ungestört dem Gesang lauschen, doch es sollte nicht sein. Waldemar war leise zu ihr getreten. „Fräulein Hild – Fräulein Schmidt, Sie haben Ihre Sache meisterhaft gemacht, ich bin ganz überrascht, solche Talente in Ihnen zu entdecken.“

„Die nur in die Gesellschaft gehören“, ergänzte Hildegard kühl, „und sich nicht, wie Sie vielleicht denken, für arme Wesen eignen, die zu niederer Arbeit geboren ...“

„Sie missverstehen mich, Fräulein Schmidt“, versetzte Waldemar vorwurfsvoll, „so meinte ich es nicht ...“ Unbeirrt fuhr Hildegard fort: „Ich habe singen gelernt und fremde Sprachen, nicht um damit in Gesellschaften zu glänzen, denn in solche komme ich nicht, sondern um mir damit mein Brot zu verdienen und meine Mutter, die eine arme Witwe ist, zu unterstützen.“

„Es ist auch vornehmer, nicht mit seinen Gaben zu glänzen, sondern sie zum Nutzen seines Nächsten zu gebrauchen, wie Sie schon oft getan“, sagte er mit bedeutungsvollem Blick. „Und“, fuhr er plötzlich abbrechend fort, „ist es nicht ein wunderbares Zusammentreffen heute Abend?“

„Ich kann wirklich nichts Wunderbares darin finden. Wir kennen uns ja gar nicht und gehen uns nichts an!“

„Sie haben Recht“, sagte er kurz, wandte sich schnell um und trat zu den andern Herren, während Hildegard durch die Tür ging und sich zu den älteren Damen begab.

Tante Minchen, die eben ausgerufen: „Sie ist entzückend!“, deutete auf einen leeren Stuhl und sagte mit Wärme: „Das ist recht, Fräulein Hildegard, kommen Sie zu uns alten Leuten, wir freuen uns an der Jugend. Die böse Emma, die eben bei uns saß, ist auf und davon, um sich unter die jungen Leute zu mischen!“

Hildegard setzte sich. Sie fühlte sich hier geborgen, hatte bald im Gespräch mit den liebenswürdigen Damen alles Beklemmende abgeschüttelt und gewann ihre alte Fröhlichkeit wieder.

Im Salon herrschte unterdes munteres Leben. Käthe sang: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?“ Mariechen und Röschen saßen Hand in Hand auf dem Sofa und lauschten, während einer der Norweger auf Emma zukam mit den Worten: „Oh, Fräulein Hex’, Sie waren heute nicht ganz reizend!“

„Sind die Hexen bei Ihnen schöner?“, fragte Emma lachend.

„Ich sah noch keine.“

Herr Werner näherte sich den Freundinnen. „Nun, Fräulein Mariechen, gibt’s bald wieder ein Pflaumenmusvesper?“

„Nie, Herr Kandidat. Emma hat mir solche Vorwürfe gemacht, erstens, weil ich mit dem Mus so gewüstet, und zweitens, dass ich Ihnen das Brot so dick geschnitten habe.“

„Wie einem Diener“, neckte Herr Werner.

„Aber Herr Werner“, sagte Mariechen vorwurfsvoll. „Verzeihen Sie! Ich vergaß unsere Verabredung. Jetzt wird mir’s schlecht gehen!“ Und eiligst verschwand er hinter der Tür des Studierzimmers, wo der Professor und der Onkel in behaglicher Ruhe saßen, um dem Gesang zu lauschen.

Waldemar machte mit Emma nähere Bekanntschaft, setzte sich jedoch so, dass er eine Aussicht auf die im Wohnzimmer versammelte Gesellschaft hatte. Emma, der die Aufführung natürlich als das Hauptereignis des Abends galt, fand zu ihrer Verwunderung, dass Waldemar gar nicht davon sprach, und dachte für sich: „Er hätte gar nicht zu kommen brauchen, für junge blasierte Leutnants ist das nichts.“ – Zugestehen musste sie aber später, als Waldemar mit Käthe im Duett das Lied „O sah ich auf der Heide dort im Sturme dich“ sang, dass er eine sehr schöne Stimme hatte. Sie wurden sehr gelobt.

Auch Hildegard lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, während Tante Jettchen zu Frau Rothe bemerkte: „Ein netter junger Mann! Es ist wahr, euer Haus ist ein Sammelpunkt für die Jugend, jedermann fühlt sich behaglich, sogar die Leutnants!“

„Sie müssen aber danach sein“, erwiderte die Professorin. „Der junge Herr von Buchwald zeigt seit einiger Zeit ein so ernstes Streben, unterhält sich mit meinem Mann gern über theologische Fragen und ist auf der andern Seite ein so liebenswürdiger Mann, dass wir ihn gern kommen sehen. Es ist ja auch natürlich, dass er öfter erscheint, da sein Bruder unser Pflegesohn ist, und ich bemuttere junge Leute gern.“

Das war das erste Urteil, das Hildegard über den jungen Mann hörte, dem sie so unnahbar begegnet war. Es tat ihr fast leid, dass sie sich so abstoßend verhalten! Wie fröhlich und harmlos verkehrte Käthe mit den jungen Leuten! Aber die war das gesellschaftliche Leben mehr gewohnt, sie dagegen fühlte sich noch schüchtern und fremd.

Der Gesang war beendet, und nun trat Werner zu Mariechen mit den Worten: „Fräulein Mariechen, wie war’s mit einer Sonate zur Versöhnung?“ Mariechen hatte nichts dagegen, und bald saßen die beiden in schönster Harmonie am Klavier. Die Jungen liefen mit Schachbrettern umher, um unter den Herren gütige Herzen zu erwecken, die mitspielten. Wilhelm hatte sich bisher mit ihnen amüsiert, doch jetzt wollte er auch die übrige Gesellschaft genießen und trat zu seinen Freunden, den Norwegern.

Da meldete Dore den Diener der Frau von N., der gekommen, Fräulein von Buchwald abzuholen. Waldemar, der eben eine Partie Schach mit Kurt beendet, sprang auf: „Ich werde dich begleiten, Rosa, ich wollte doch aufbrechen.“ Sie gingen mit der Versicherung, dass sie sehr viel Vergnügen vom heutigen Abend gehabt. Waldemar verabschiedete sich von den älteren Damen, verbeugte sich vor Fräulein Hildegard und verließ mit seiner Schwester die Gesellschaft. Ihm folgten bald die übrigen Gäste. Ein Stündchen später waren Emma und Frau Rothe allein. Sie waren noch zu aufgeregt, um schlafen zu können, und unterhielten sich über die Erlebnisse des Tages, von der wohlgelungenen Aufführung, von den verschiedenen Gästen, von Hildegards Anmut und taktvollem Benehmen.

„Käthe“, meinte Frau Rothe, „hat sich wie immer prächtig gemacht. Wie hat sie mir alles an den Augen abgesehen, wie die Gesellschaft unterhalten helfen! Sie war stets da, wo es fehlte.“

Hier trat der Professor ein. „Papachen, wir waren eben dabei, deine Goldtochter zu loben.“

„Kinder, wisst ihr, dass Mitternacht längst vorbei ist“, sagte er, sich vergnügt die Hände reibend. „Ja, die Käthe ist gut, habe nur heute nicht viel von ihr gehabt! Mutter, es ist aber wahr, es sind alles prächtige, junge Leute, die zu uns kommen. Wie ich Werner schätze, weißt du; ich muss aber sagen, dass ich den jungen Buchwald auch immer mehr lieb gewinne. Wir hatten heute sehr ernste Gespräche miteinander, er ist tiefer angelegt, als ich dachte.“

„Er gefällt mir auch recht gut, wie alle Buchwalds. Aber denke dir, Papachen, deine Damen hätten heute beinahe schon Ehen gestiftet, wir möchten Käthe und Werner gern zusammenbringen.“

„Ei, ei, macht mir nicht so etwas!“, drohte der Professor.

„Habe keine Sorge! Du weißt selbst am besten, dass ich nichts sehnlicher wünsche, als einen harmlosen, fröhlichen Verkehr der jungen Leute untereinander. Käthe selbst denkt natürlich nicht an so etwas!“

„Nun, so wollen wir uns auch nicht darum sorgen, sondern es machen wie unsere Kinder und uns zur Ruhe begeben. Emma, du wirst nach dem tatenreichen Abend müde sein!“

Professors zogen sich zurück, während Emma in die Küche eilte, um Dore beim Abtrocknen und Wegräumen des Geschirrs zu helfen.

Nachdem Waldemar Röschen abgeliefert hatte, war er rasch nach Hause geeilt. Dort warf er sich auf das Sofa und rief ärgerlich: „Ein stolzes, unnahbares Mädchen! und doch wieder so unbeschreiblich lieblich, wenn sie sich unbeachtet glaubt. Wie fröhlich plauderte sie mit Röschen während der Aufführung, wie liebenswürdig war sie gegen die alten Damen, wie freundlich hob sie der alten Tante die heruntergefallenen Maschen auf. Nur gegen mich ist sie von einem Stolz, einer Kälte! Ich habe ihr doch nichts zuleide getan! Ich will aber auch gar nicht mehr an sie denken.“ Je mehr er sich das vornahm, desto weniger konnte er seine Gedanken im Zaume halten. War es ein Wunder, dass er sie auch im Traume erblickte, und zwar so, wie er sie gern sehen wollte, holdselig und freundlich auf ihn zukommend? Hildegard selbst war nach Hause gekommen und hatte die fleißige Mutter im stillen Stübchen noch bei der Arbeit gefunden. „Mutter, du bist noch auf und nähst, und ich bin den ganzen Abend meinem Vergnügen nachgegangen!“ Sie setzte sich zu ihr aufs Sofa und fing bitterlich zu weinen an.

„Aber, liebes Kind, was hast du? Es hat dir doch niemand etwas zuleide getan?“

„Nein, es war wunderschön“, sagte Hildegard und trocknete ihre Tränen. „Aber weißt du, Mutter, von solchen Gesellschaften bleibe ich doch lieber fern. Ich passe nicht hinein, ich fühle mich fremd, verlegen.“

„Nicht doch“, sagte die Mutter. „Im Gegenteil, wenn du angestrengt gearbeitet hast, ist es für dich eine notwendige Erholung, unter gebildete Menschen zu gehen. Bei uns hast du nicht viel, ich kann dir nichts bieten.“

„Du weißt, wie es mich betrübt, wenn du das sagst, Mutter. Wem verdanke ich denn alles, was ich habe und bin? Ich will, soviel in meinen Kräften steht, dir das zu vergelten suchen, was du an mir getan hast. Es war doch ein glücklicher Tag heute, dass die Frau Geheimrat da unten mir die Nachhilfestunden für ihre kleinen Mädchen übertragen hat, da verdiene ich mehr, als ich mit dem Nähen erzwingen kann. Vielleicht soll ich mit den Kindern täglich eine Stunde spazieren gehen, das wird auch noch etwas eintragen, und siehst du, das kommt dir dann zugut, dass du keine Opfer gescheut und mich so viel hast lernen lassen. Vielleicht bekomme ich auch noch einige Klavierschülerinnen.“

Die Mutter streichelte sanft ihre Tochter. „Du gutes Kind, denkst nur an mich, Gott segne es dir! Doch nun lege dich schlafen, es ist schon so spät, ich folge dir gleich.“

Hildegard gehorchte gern, denn sie sehnte sich danach, mit ihren Gedanken allein zu sein. Die stürmten nun mit aller Gewalt auf sie ein. Was hatte sie in wenigen Stunden alles erlebt. Ja, wirklich, ein wunderbares Zusammentreffen! Jetzt, in der Einsamkeit, gestand sie sich, was sie ihm gegenüber so stolz abgewehrt. Ihr Herz pochte, wenn sie an den eigenen Blick dachte, mit dem er sie angesehen, als er sagte: „Ist das nicht ein wunderbares Zusammentreffen?“ Wie schnell hatte er sich gewendet und sie verlassen, als sie ihn so kühl abfertigte. Es tat ihr fast leid, und doch – musste sie nicht zufrieden sein, dass es so gekommen war? Es war doch unmöglich, ihm etwas sein zu können! Sie bat Gott, ihr alles zu vergeben, was sie Unrechtes getan, wo sie geirrt; und mit dem Psalmenwort auf ihren Lippen „Schaff in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist“ schlief sie sanft und friedlich ein. Die Mutter dachte noch lange über Hildegards Zukunft nach. Würde sie sich klären, oder war es Gottes Wille, dass sie in abhängigen, ärmlichen Verhältnissen bliebe, in die sie von Rechts wegen nicht hineingehörte? „Ich muss in Treue und Geduld ausharren und schweigen, wie ich es ihrer Mutter versprochen – bis – nun, wenn dies nicht eintrifft, bis ans Ende meines Lebens. Und es ist auch besser, sie erfährt es nie, die Armut würde ihr drückender, die abhängige Lage unerträglicher sein.“ Mit diesen Worten nahm sie ihr Licht und begab sich in die Schlafkammer zu ihren Töchtern.

Einzug in Nienhagen

Ein schwerfälliger Postwagen rumpelte eben durch das Tor einer kleinen norddeutschen Landstadt. Der Postillion setzte sein Horn an den Mund und blies lustig hinein, worauf die Pferde kräftiger anzogen und mit sicherem Instinkt, dass das Ende der Reise gekommen, so lustig trabten, dass die alte Postkutsche bedenklich hin- und herschwankte und die Insassen wider ihren Willen in die Höhe schnellten wie Gummibälle. Doch jetzt rasselte die Post auf den Marktplatz und hielt in wenigen Sekunden vor dem Postgebäude. Der Postillion stieg gemächlich vom Bock, öffnete die Wagentür und sagte: „Na, nu sind wir da!“

„Gott sei Dank“, rief eine kleine rundliche ältere Dame. „Lange hätte ich das auch nicht mehr ausgehalten.“

Ein junger Mann, vielleicht hoher Zwanziger, von kräftigem gedrungenen Bau, mit stillem ernstem Gesicht, war vor ihr hinausgesprungen und reichte ihr die Hand zum Aussteigen. „Nur sachte, Mutter, dass du nicht fällst. So – du wärest nun in Sicherheit, nun will ich deine vielen Schachteln, Tücher und Pakete noch herausholen. Wir können von Glück sagen, dass wir die einzigen Passagiere waren, sonst hätte ich nicht gewusst, wo die Sachen unterbringen.“

Er verschwand wieder im Postwagen und kam so schwer beladen heraus, dass er einigen Jungen, die die Hände in den Hosentaschen hatten und neugierig um die Post herumstanden, zurief: „Jungs, fasst einmal an und legt die Sachen dort auf die Bank.“

Sie griffen schnell zu, während die alte Dame rief: „Nur nicht meine Hutschachtel, die trage ich selbst.“

„Aber Mutter, was hast du auch alles mit! Hier dein Plaid, dein Regenmantel, etliche wollene Tücher, hier zwei Taschen, ein Deckelkorb und hier eine Kiste, die ist ja grausam schwer ...“

„Ja, Hermann, wir müssen, wenn wir aufs Land gehen, Vorräte mitnehmen. Du kennst das Leben dort noch nicht. Ist nun alles heraus?“

„Ich glaube ja. Die ganze Bank ist voll. Der Postmeister, der dort zum Fenster hinaussieht, will sich krank lachen.“

„Was ist dabei“, sagte die Mutter, „lass ihn lachen. Ich sehe aber keinen Wagen. Wie soll das werden!“

„Da kommt er, Mutter.“

Ein hübscher Stuhlwagen, mit zwei Braunen bespannt, rasselte über das holprige Pflaster. Der Kutscher, ein schlanker junger Bursche, stieg ab, sobald der Wagen hielt, und kam auf die beiden zu. Er zog höflich den Hut und sagte in plattdeutschem Dialekt: „Guten Tag, Herr Pastor, na, ich wollt’ Sie holen, ich kann wohl die Sachen gleich aufladen?“

„Guten Tag, Jochen“, sagte der junge Pastor herzlich und reichte ihm die Hand. „Lade nur die Kisten und Kästen auf, die Koffer müssen wir holen lassen. Wir kommen gleich.“ Damit zog er seine Mutter in den nahen Gasthof, um mit ihr eine Tasse Kaffee zu trinken, denn wenn auch das Wetter für die Jahreszeit verhältnismäßig mild war, so war eine Erwärmung Ende November nach langer Fahrt doch gut. Der Wirt lief eilfertig hin und her, während sich die Wirtin neugierig dem Tisch näherte und zu der alten ihr Vertrauen erweckenden Dame sagte: „Gewiss der neue Herr Pastor von Nienhagen.“

„Ja, mein Sohn; ich bin auch eine verwitwete Pastorin, habe viele Kinder allein aufgezogen, der Vater ist schon früh gestorben ...“

„Sieh, so“, sagte die Wirtin, „na, da werden Sie sich freuen, einen nun versorgt zu haben.“

„Dies ist der jüngste, die andern sind alle schon angestellt.“ Und nun folgte ein treuherziger Bericht von allem, was sie durchgemacht, von ihren eigenen sowie den Erlebnissen der Kinder, so dass die gute Wirtin bei sich dachte: „Das ist mal eine nette Frau, solche trifft man nicht alle Tage, die einem alles so ohne Fragen erzählt.“ Sie war so gerührt, dass sie ihr freiwillig noch eine Tasse Kaffee holte und sie später bis in den Wagen geleitete.

Jetzt saßen sie oben, die Sachen waren alle glücklich untergebracht. Jochen ließ die Peitsche knallen, und in raschem Trab ging es zur entgegengesetzten Seite der Stadt hinaus. Noch eine halbe Stunde Chaussee, dann bogen sie links in einen Landweg ein, auf dem es allerdings langsam vorwärts ging. Weiches, regnerisches Wetter hatte die lehmigen Wege dermaßen eingeweicht, dass sie schwer zu passieren waren. Doch heute regnete es nicht, die Sonne schien freundlich, als wollte sie den jungen Pfarrer zum Einzug in die neue Heimat begrüßen. Er saß still und in sich versunken da, während das Mütterchen ihn immer wieder durch diesen oder jenen Ausruf aus seinen Träumen riss. „Dort ein Kirchturm“, rief sie plötzlich, „das ist wohl Nienhagen, Jochen?“

„Ja, dat ’s uns Dörp!“

Jetzt ging es in schneller Fahrt dem Pfarrhause zu. Das letzte Stück des Weges war besser, nun war das Dorf erreicht. Hie und da guckte verstohlen ein Kopf zu den kleinen Fenstern der Häuser heraus; Kinder sah man nicht auf der Straße, aber als der Wagen sich dem Pfarrhof näherte, konnte man die ganze Jugend des Kirchspiels in Festkleidern versammelt finden. Sie stob schnell auseinander und stellte sich vor dem Pfarrhause auf; der Küster gab das Zeichen, und sobald der Wagen hielt, begann ein feierlicher Gesang. Dann hieß der Küster den Pastor im Namen der Gemeinde willkommen, und der Pastor dankte mit herzlichen Worten. Der Mutter waren beim Gesang die Tränen gekommen; sie dachte an die alten Zeiten, in denen ihr seliger Mann mit ihr Einzug in die Pfarrei gehalten. Nun zog sie mit dem Sohn ein! Wie viele Jahre des Kummers und der Sorge lagen dazwischen!

Doch immer praktisch, trocknete sie bald die Tränen, reichte den Kindern freundlich die Hand und verhieß ihnen, wenn sie eingerichtet, einen guten Kaffee mit Kuchen.

Als sie das Haus betraten, wurden sie von einer sauber gekleideten Frau freundlich und herzlich willkommen geheißen. Es war die Inspektorsfrau des Gutes, die den Pastor und seine Mutter unter vielem Komplimentieren in die wohldurchwärmte Wohnstube führte, wo ein gedeckter Tisch mit allem versehen war, was die müden Reisenden erquicken konnte. Am liebsten wäre die Mutter mit ihrem Sohn allein gewesen, die Inspektorsfrau redete so unaufhörlich von Personen und Sachen, die sie nicht kannten. Doch mussten sie auch ihr wiederum dankbar sein, dass sie sich ihrer in der noch fremden Heimat annahm. Die gute Frau hatte die vorausgeschickten Möbel des Pastors in Empfang genommen und sie nach dessen Angabe aufstellen lassen. So machten seine Stube und die gegenüberliegende Wohnstube schon einen ganz behaglichen Eindruck, obgleich die Mutter meinte, bevor Gardinen aufgesteckt seien, gefiele es ihr nicht, das müsste zum Sonnabend alles fertig werden, sie lägen schon sauber geplättet im Koffer.

Als die Inspektorsfrau sie gegen Abend verlassen, durchwanderten die beiden das Haus. „Ein schönes großes Haus, es ist jammerschade, dass du so allein drin wohnst, Hermann!“

„Zieh doch zu mir, liebe Mutter, da ist mir gleich geholfen!“

„Das geht nicht, dann würdest du nie ans Heiraten denken. Und eine Frau musst du haben. Ein Pastor auf dem Lande ohne Frau ist nur ein halbes Ding, das musst du einsehen!“

„Ja, du hast schon Recht. Aber mich mag ja keine“, antwortete Hermann.

„Was nützt das Reden darüber!“, eiferte seine Mutter. „Komm, wir wollen uns das Haus weiter ansehen. Hier dein Studierzimmer! Es ist luftig und groß. Und daneben deine Schlafstube. Die ist nur klein.“ Und indem das Gesicht immer bedenklicher wurde, sagte sie plötzlich: „Ja, die ist für Frau und Kinder entschieden zu klein!“

„Aber Mutter, die sind ja bis jetzt noch gar nicht vorhanden; sorge dich doch nicht immer um unnötige Dinge, du hast Sorgen genug im Leben gehabt. Es ist ja recht gut, dass ich noch allein bin, ich habe Platz genug. Vorhin sorgtest du, das Haus sei zu groß, nun wieder zu klein – ich denke, es wird gerade so recht sein.“

Seine Mutter seufzte. Sie kannte das Leben und seine Sorgen. Zwar hatte sie eine glückliche Kindheit verlebt, aber in den Ehejahren war’s immer knapp hergegangen, und als ihr seliger Mann die Augen zugetan, da musste sie von früh bis spät schaffen und arbeiten, und wenn sie sich auch immer das Gotteswort „Sorget nicht“ vorhielt, so kamen die Sorgen doch ungeheißen, so dass sie sich jetzt gar nicht in ein Leben ohne Sorgen hineindenken konnte.

Es gab bis zum Sonntag viel zu tun. Als aber Samstagabend alles sauber und geordnet war und der letzte Vorhang aufgesteckt, da legte sie feiernd die Hände in den Schoß und lauschte andächtig den Glocken, die den ersten Advent einläuteten. Der junge Pastor saß am Pult in seiner Studierstube und memorierte seine Predigt. Auch er faltete jetzt die Hände und bewegte leise die Lippen: „Herr, lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen, dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn! Herr, hilf, dass ich als ein treuer Knecht in deinem Dienst erfunden werde!“

Und am andern Morgen ertönte es freudig von seinen Lippen vor versammelter Gemeinde: „Hosianna in der Höh’! Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Er sprach von dem Heil, das gekommen. Das wollte er seiner Gemeinde jetzt und immerdar verkünden. Diese war sichtlich ergriffen.

Während seine Mutter sich nun in den kommenden Wochen des Hauswesens annahm, war der junge Pastor viel außer Hause. Er besuchte jedes Gemeindeglied, nicht nur im Kirchdorf, sondern auch in den eingepfarrten Orten. Den Kranken sprach er Trost und Frieden ins Herz, die Alten wies er hin auf das Ende ihrer Pilgrimschaft, die Gesunden ermahnte er, bei ihrer täglichen Berufsarbeit auch den himmlischen, ewigen Beruf nicht zu vergessen, gegen die Kinder war er freundlich und liebreich, so dass er bald alle Herzen gewann.

So rückte Weihnachten heran, und Mutter und Sohn freuten sich auf die Ankunft Klaras, die, mit Stundengeben in der Stadt beschäftigt, nur in den Ferien abkommen konnte.

„Das sage ich dir aber, Hermann“, meinte die Mutter, „nach Weihnachten kehre ich mit Klara in die Stadt zurück, ich kann doch das Kind nicht immer allein lassen. Und dann, offen gestanden, die Landwirtschaft, die mit der Pfarre verbunden ist, wird mir auch etwas sauer. Ich alte Frau tauge nicht mehr dazu, die Knechte und Mägde zu beaufsichtigen, mit dem Milchwesen weiß ich auch nicht mehr Bescheid, hier muss eine tüchtige Wirtschafterin her oder eine Frau, die die Wirtschaft versteht.“

Hermann fühlte es ja selbst, dass es auf die Dauer nicht so weitergehen könne, doch graute ihm vor einer Wirtschafterin und vor dem Heiraten erst recht. Er sagte also kurz: „Mutter, wenn du dich um eine ältere Frau bemühen willst, die der Wirtschaft vorstehen kann, werde ich dir dankbar sein. Und nun wollen wir uns die schönen Festtage nicht mit Wirtschaftssorgen beschweren, sondern uns auf Weihnachten und auf Klara freuen.“

Als sie am folgenden Tage in den Pfarrhof einfuhr und Mutter und Bruder sie fröhlich an der Haustür begrüßten, da war die Freude groß, und des Erzählens gab es kein Ende. „Ich habe von allen Geschwistern Briefe“, berichtete Klara, „auch verschiedene Päckchen sind eingetroffen. Die gute Emma schickt das größte, sie hat wieder für alle gearbeitet, aber der Brief ist kurz und flüchtig. Einer der Pensionäre ist an Scharlach erkrankt, und da gibt es natürlich viel zu tun.“

„Die armen Verwandten“, sagte Hermann. „Die Ferienzeit ist die einzige Ruhe- und Erholungszeit für sie, und nun haben sie statt dessen Krankenpflege!“

„Ob denn Mariechen schon Scharlach gehabt“, meinte die Mutter, „und Wilhelm, sonst könnte sie ja gar nicht zu Besuch kommen! Nun, Emma wird wohl bald darüber berichten, sie ist ja immer eine treue Briefschreiberin.“

„Gleich nach dem Fest, schreibt sie, will sie uns ausführlichere Nachricht zukommen lassen, sie ist jetzt natürlich durch vielerlei in Anspruch genommen. Aber nun zeigt mir Haus und Garten und alles, was dazugehört, ich bin schon durch Jochens Erzählungen neugierig geworden.“

Das schöne Weihnachtsfest war vorüber. Unsere drei Pfarrersleute hatten es still und friedlich gefeiert. Hermann und Klara hatten den Christbaum geschmückt und den Tisch für die Kinder gedeckt, während ihre Mutter einen Tisch für die Armen ordnete. Kaum dunkelte es, da kamen die kleinen Füßchen getrippelt und warteten leise und mit Spannung, bis die Tür sich ihnen auftat. Als dieser Augenblick kam und heller Lichterglanz ihnen entgegenstrahlte – da waren sie erst ganz still, aber bald tönte das „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“ so hell und freudig von ihren Lippen, dass auch unsere Pfarrersleute einstimmten und sogar Jochen, der sich besann, dass er das Lied als Junge auch gesungen, leise mitbrummte. Darauf hatte der Pastor das Weihnachtsevangelium gelesen und noch einige herzliche Worte an die Kinder gesprochen, worauf sie, von Mutter und Tochter an ihre Plätze geführt, strahlend ihre Gaben in Empfang genommen hatten.

Die Schule, die beim Empfang des Pastors gesungen, war an einem der folgenden Tage mit Kaffee und Kuchen bewirtet worden; eben war die kleine Schar abgewandert, und Mutter und Tochter waren noch fröhlich belebt von dem vergnüglichen Nachmittag, als Hermann hereintrat mit den Worten:

„Ratet, was ich habe! Einen dicken Brief von Emma, natürlich doppelt! Ohne das tut sie’s nicht!“

„O wie schön“, rief die Mutter erfreut. „Nun hören wir doch endlich Genaues. Klara, lies doch vor!“

Klara entfaltete den langen Brief und las, wie acht Tage vor Weihnachten beim Pensionär Konrad Scharlach ausgebrochen war, welche Aufregung durch die dadurch beschleunigte Abreise der übrigen Pensionäre entstanden, wie Emma und die Verwandten dann aber doch, abgesperrt von der Außenwelt, ein stilles und gesegnetes Fest mit dem Kranken gefeiert, dessen Bett am Heiligen Abend in die Weihnachtsstube getragen worden war.

„Es ist nur gut“, sagte Klara und faltete den Brief zusammen, „dass Emma trotz aller Widerwärtigkeiten den Kopf immer oben behält ...“

„Und“ – fiel Hermann ein – „immer schreibselig ist. Denn sonst würden wir von den Dresdner Verwandten wenig oder gar nichts hören.“

„Es ist zu schade, dass der einzige Bruder eures seligen Vaters so entfernt von uns wohnt. Wir würden uns ganz fremd werden, wenn nicht Emma als Bindeglied dazwischen wäre. Ich kann sagen, ich möchte wohl das sechzehnjährige Mariechen einmal sehen. Sie muss nach Emmas Beschreibung reizend sein!“, sagte seine Mutter.

„Und ich“, meinte Hermann, „möchte Wilhelm einmal wiedersehen. Damals, als ich als Student viel in Onkels Hause verkehrte, war Wilhelm noch ein kleiner Junge, aber Schach spielen konnte er wie ein Alter, wir haben manche Partie zusammen gemacht. Ich werde ihn einladen, mich hier zu besuchen, damit es mir nicht zu einsam wird, wenn ihr mich verlassen habt.“