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Über das Buch:

Wenn der Maskenmann kommt, sterben Liebespaare. Meist nachts, meist auf abgelegenen Parkplätzen. Das Ermittlerteam um Kommissarin Eva Lendt und dem Fallanalytiker Marco Brock steht vor einem Rätsel, bis es merkt, dass die Morde den Taten eines berüchtigten Killers gleichen, der Ende der sechziger Jahre in der San Francisco Bay Area gewütet hat.  "Eine atemberaubende Hetzjagd zwischen Fakten und Fiktion-der Thriller des Jahres!"

Folge IV

Linus Geschke

Die Akte Zodiac

FOLGE IV

Edel Elements

Über eine Stunde hatte Kai mit Julia geredet. Anfangs hatte sie auf seinen Besuch reserviert reagiert, fast so als würde sie seinen Absichten misstrauen. Dann jedoch war sie Stück für Stück immer weiter aufgetaut.

Im Laufe des Gesprächs war auch herausgekommen, dass Julia Kais sonderbares Gefühl teilte, welches er in letzter Zeit gegenüber Adam hegte. Mehr noch: Sie hatte ihm von der Nacht erzählt, als sie Adam im Mädchentrakt begegnet war, von seinen zweideutigen Bemerkungen und von dem, was er ihr angedroht hatte, wenn sie Philipp gegenüber auch nur ein einziges Wort darüber verlieren würde. Kai hatte ihr fassungslos zugehört: Ein Mädchen sexuell zu bedrängen war schon etwas, was in seinen Augen gar nicht ging, aber ihr dann auch noch zu drohen, man würde es bei ihrem Freund so aussehen lassen, als wenn die Initiative dazu von ihr ausgegangen wäre, setzte dem Ganzen die Krone auf. Der Moment, in dem er das verinnerlicht hatte, war auch der Moment, in dem ihm bewusst wurde, dass seine Freundschaft mit Adam endgültig vorbei war – mit einem solchen Menschen wollte Kai nichts mehr zu tun haben.

Parallel dazu wurde in ihm jedoch auch das schlechte Gewissen größer, weil er Philipp bei dem Streit mit Adam nicht zur Seite gestanden hatte. Insbesondere jetzt, wo er Julia besser kennengelernt hatte und verstehen konnte, warum Philipp seiner Freundin gegenüber so offen gewesen war – Julia war ein tolles Mädchen, und einen Moment lang wünschte er sich sogar, sie wäre seine Freundin.

„Weißt du denn, wo Philipp heute hinwollte?“, fragte sie und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

„Keine Ahnung, aber wenn du magst, lass uns mal in unserem Zimmer nachsehen – vielleicht ist er mittlerweile ja wieder zurückgekommen.“

Sie verließen Julias Zimmer und gingen den Gang entlang, der auf die andere Seite des Gebäudes führte. Auf halber Strecke erreichten sie die Treppe, die die beiden Abteilungen voneinander trennte, und sahen Adam, der in diesem Moment aus dem Erdgeschoss nach oben kam.

„Was haben wir denn da?“, fragte er und schnaubte verächtlich. „Hat die Schlampe etwa auch mit dir gefickt?“

Julias Gesicht wurde vor Zorn ganz weiß. „Was hast du gesagt?“

Adam grinste, dann stieg er die letzten beiden Stufen hoch, bis er direkt vor ihnen stand. „Welchen Teil von Schlampe hast du denn nicht verstanden?“

Normalerweise war Kai ein harmoniesüchtiger Mensch, der einem Streit lieber aus dem Wege ging, anstatt noch mehr Ärger zu provozieren. Er hätte später auch nicht mehr sagen können, was in diesem Moment mit ihm passierte. Er wusste nur, dass er zuschlug, zum ersten Mal in seinem Leben. Verwundert stellte er fest, dass ihm von dem Schlag die Hand wehtat – und wie gut es sich dennoch anfühlte, als seine Faust mitten in Adams dreckiges Grinsen traf.

Adam stolperte, fiel rückwärts und konnte sich erst im letzten Moment an den Streben des Geländers festhalten.

„Ab jetzt redest du nie wieder so mit Julia, hast du verstanden?“, schrie Kai ihn an. „Sie hat mir erzählt, was du in dieser Nacht zu ihr gesagt hast, und weißt du was: Du bist echt das Letzte! Wie konnte ich nur annehmen, dass du jemals ein Freund gewesen bist?“

Adam erhob sich und einen Moment lang befürchtete Kai, dass er sich jetzt auf ihn stürzen würde. Doch Adam stand einfach nur da und schaute ihn hasserfüllt an. Die aufgeschlagene Unterlippe, von der jetzt Blut tropfte, schien er gar nicht zu spüren.

„Das war ein Fehler“, stieß er dann hervor. „Und es wird gar nicht mehr lange dauern, bis ihr das bedauern werdet. Du, die Schlampe und Philipp.“

Dann ging er an ihnen vorbei und ließ sie sprachlos zurück.

Kai wollte es nicht laut sagen, aber in diesem Moment machte er sich große Sorgen um Julia. Adam würde diese Geschichte nicht einfach so auf sich beruhen lassen.

Seine Sorgen wuchsen noch, als er kurz darauf feststellte, dass Philipp immer noch nicht ins Internat zurückgekehrt war.

*

Derjenige, um den Kais Gedanken kreisten, stand zur selben Zeit auf dem Parkplatz des Heider Bergsees und schaute sich um. Vor ein, zwei Stunden noch hatte hier reger Betrieb geherrscht, mittlerweile lag der Platz in der hereinbrechenden Dunkelheit wie ausgestorben da. Umgeben von hohen Bäumen, die die Sicht bereits nach wenigen Metern versperrten.

Philipp ließ den Tatort auf sich wirken, so wie Brock es wenige Tage zuvor getan hatte. Er stand dort eine geschlagene Stunde lang, ohne zu wissen, was er sich von dem Besuch erhoffte – warum er mit Bahnen und Bussen die Stadtgrenze hinter sich gelassen hatte, um an den Schauplatz des Mordes zu gelangen. Vielleicht war es einfach nur die Neugierde gewesen, die ihn dazu getrieben hatte.

Vielleicht auch etwas ganz anderes.

Auf eine sonderbare Art und Weise glaubte Philipp, dass Orte etwas davon in sich aufnahmen, wenn an ihnen etwas wirklich Schlimmes passiert war, und der Parkplatz schien sein Gefühl zu bestätigen. Die Bäume hier sahen düsterer aus, der Boden roch modriger und die Vögel piepsten kläglich, anstatt zu singen. Seine Nerven waren angespannt, dehnten sich stärker und stärker, ähnlich einem straff gespannten Gummiband, das kurz vorm Zerreißen stand.

Wenn dieser Ort reden könnte …

Aber er konnte es nicht. Nichts hier würde ihm verraten, was in der Tatnacht wirklich passiert war. Wie sich die Minuten abgespielt hatten, in denen der Zodiac auf seine Opfer gestoßen war.

Dennoch schloss Philipp jetzt die Augen und spielte mehrere Szenarien durch. Durch die Taten aus der Vergangenheit hatte er eine ungefähre Ahnung davon, wie der Killer vorgegangen war, dazu kamen die Informationen aus dem Polizeicomputer, die Adam unerlaubterweise an sich gebracht hatte. Für ihn stand fest, dass Anna Thiele und Marcel Fehmann nichts von der Gefahr geahnt hatten, in der sie schwebten – dafür sprach schon die Auffindesituation der Leichen, die beide nur noch teilweise bekleidet waren.

Philipp warf einen Blick auf seine Armbanduhr und stellte mit Schrecken fest, dass er nun seit fast anderthalb Stunden hier war und sich fruchtlosen Gedankenspielen hingab. Er wusste nicht, wie oft der Bus, der ihn nach Köln bringen würde, um diese Uhrzeit noch oben an der Landstraße hielt. Er wusste nur, dass er sich jetzt bald auf den Weg machen musste, wenn er es heute noch zurück ins Bergische Land schaffen wollte.

Philipp war gerade losgegangen, als ein Auto von der Luxemburger Straße ab- und auf den Parkplatz einbog. Die Lichtkegel der Scheinwerfer fraßen sich in die heraufziehende Dunkelheit, und als sie ihn erreichten, stoppte der Wagen. Blieb mit laufendem Motor auf halben Weg stehen, während Philipp erstarrt in seine Richtung blickte wie das Kaninchen auf die Schlange.

Dann rollte der Wagen weiter.

Kam langsam den abschüssigen Weg herunter.

Immer noch konnte Philipp nicht erkennen, um was für einen Fahrzeugtyp es sich handelte. Er stand einfach nur da und hoffte, dass der Wagen einem Pärchen gehörte, das zu dieser späten Stunde den mittlerweile im Mondlicht liegenden See für sich allein haben wollte.

Aber so war es nicht.

Vielleicht würde der Wagen ja auch an ihm vorbeifahren, um den dichter am See liegenden Hauptparkplatz anzusteuern. Vielleicht war das Ganze ja komplett harmlos und seine Angst nur dem Umstand geschuldet, dass er wusste, was sich genau an dieser Stelle vor wenigen Wochen abgespielt hatte. Vielleicht war seine aufkommende Panik ja auch nur seinen zum Zerreißen angespannten Nerven geschuldet.

Aber auch so war es nicht.

Das Auto hielt genau auf ihn zu und blieb dann sechs, sieben Meter entfernt erneut stehen. In der Stille der Nacht glaubte Philipp, Musik aus dem Fahrzeuginneren zu hören, eine Melodie, die ihm alt und dennoch seltsam vertraut erschien.

Then when the Hurdy Gurdy Man came singing Songs of Love …

Und dann wusste er Bescheid. Er wusste, woher er das Lied kannte und warum es die Angst in seinem Inneren sprunghaft ansteigen ließ. Kam sich augenblicklich vor, als wenn ihn eine Zeitmaschine weit in die Vergangenheit geschleudert hätte, mitten in einen lange vergangenen Albtraum hinein.

Als sich die Fahrzeugtür dann öffnete, wurde auch die Musik lauter. Gleichzeitig erkannte Philipp einen dunklen Schemen, der das Innere des Autos verließ.

Dann hob der Unbekannte die Hand und riss Philipp damit aus seiner Starre.

Er drehte sich um und rannte los.

Tiefer in den Wald hinein.

*

Brock griff nach der Fernbedienung und schaltete seine sündhaft teure Musikanlage ein. Aus unsichtbar angebrachten Lautsprechern drang Nancy Sinatras und Lee Hazelwoods Summer Wine, so leise, dass man es kaum hören konnte.

„Übertreiben Sie es jetzt nicht ein wenig?“, fragte Eva und warf ihrem Kollegen einen spöttischen Blick zu.

„Das größte Problem, dass sich einem stellt, wenn man sich mit lange zurückliegenden Verbrechen beschäftigt, ist, dass man dabei häufig den zeitlichen Rahmen vergisst, in dem sie geschehen sind“, dozierte Brock. „Um sich in die Situation des Täters und die der damaligen Ermittler hineinversetzen zu können, ist man auf Hilfsmittel angewiesen. Ich könnte Ihnen jetzt viele Studien nennen, die die Wirkungskraft von Musik beweisen, aber glauben Sie mir einfach, wenn ich Ihnen sage: So wird es uns leichter fallen, uns wie im Juli 1969 zu fühlen.“

Oliver zuckte die Schultern. „Wenn es der Sache hilft, höre ich mir sogar die alte Sinatra an.“

Brock lächelte, lehnte sich zurück und schloss die Augen, um sich stärker auf das konzentrieren zu können, was er den Beamten nun vermitteln wollte. Es war wichtig, dass er die Vorkommnisse in der Tatnacht so sachlich wie möglich schilderte und sich dabei jede Beurteilung verkniff. Die Schlussfolgerungen sollten Eva und Oliver allein ziehen.

Dann begann er.

Vallejo, Kalifornien
04. Juli 1969
Gegen 17.00 Uhr

Dean Ferrin hatte seinen Dienst im Caesar’s Palace erst vor einer Stunde angetreten, als Darlene vorbeikam, um ihrem Mann zu sagen, dass sie mit ihrer 15-jährigen Schwester Christina nach Mare Island wollte, um dort den amerikanischen Unabhängigkeitstag zu feiern. Außerdem war sie für 19.30 Uhr mit Mike Mageau verabredet, um mit ihm ins Kino zu gehen, was sie Dean jedoch verschwieg.

Ihr Mann, der bis Mitternacht würde arbeiten müssen und für die Zeit danach Gäste zu ihnen nach Hause eingeladen hatte, fragte Darlene, wann sie wieder zurück sein würde.

„Spätestens gegen zehn“, sagte sie und versprach, anschließend noch ein paar Raketen zu kaufen, die man gemeinsam abfeuern wollte, wenn Dean und die Gäste gegen Mitternacht eintreffen würden.

Um 20 Uhr rief Darlene dann Mike Mageau an, um ihm zu sagen, dass der Ausflug mit ihrer Schwester noch länger dauern würde, sie aber dennoch später bei ihm vorbeischauen wollte – der gemeinsame Kinobesuch war damit gestorben. Mageau ärgerte sich zwar, aber er verkniff sich jede schnippische Bemerkung, um seine Chancen auf ein späteres Treffen nicht zu reduzieren.

Mageau war drei Jahre jünger als Darlene, erst 19, groß gewachsen und auffallend dünn. Er hatte dunkle Haare und grüne Augen, und Bekannte von Darlene fanden ihn sonderbar, was nicht nur an seinem Verhalten ihr gegenüber lag. Mike erzählte gerne abenteuerliche Geschichten – einmal beispielsweise, dass man ihn in Chicago wegen einer Schießerei suchen würde, ein anderes Mal, dass er vor der Polizei auf der Flucht sei.

Die Wahrheit war wesentlich unspektakulärer: Mike Mageau und sein Zwillingsbruder David waren die Söhne eines Kammerjägers, und beide standen in einem erbitterten Wettstreit, was Darlenes Gunst betraf. Sie stritten sich darum, wer ihr beim Abwasch helfen durfte, und sie stritten darum, wer sie zur Arbeit fuhr, wenn ihr Mann keine Zeit hatte. „Es war ziemlich absurd“, sollte sich Darlenes Schwester Linda später erinnern. „Mir kam das Ganze manchmal fast schon krankhaft vor.“

Es war bereits kurz vor elf, als Darlene von dem Ausflug mit ihrer Schwester endlich nach Hause kam. Janet Lynne, ihre Babysitterin, erzählte ihr, dass ein älter klingender Mann angerufen habe, dieser jedoch weder seinen Namen noch eine Nachricht habe hinterlassen wollen, was Darlene mit einer Handbewegung abtat, ohne weiter darauf einzugehen. Stattdessen bot sie Janet und deren ebenfalls anwesender Freundin Pamela an, die beiden jetzt nach Hause zu fahren.

Das Trio war gerade durch die Tür getreten, als das Telefon im Haus erneut klingelte. Darlene rannte zurück, blieb zwei Minuten lang weg und fragte die beiden Mädchen dann, ob sie vielleicht noch bis kurz nach zwölf auf ihr Baby aufpassen könnten, da sie noch einmal weg müsse, um die Raketen für die anstehende Party zu kaufen. Über die Identität des Anrufers sagte sie nichts.

Nachdem die Mädchen zugestimmt hatten, machte Darlene sich sofort auf den Weg. Allerdings fuhr sie keine Raketen kaufen, sondern nahm die Georgia Street in östlicher Richtung, bis sie an der Beechwood Avenue ankam, wo sie vor Mike Mageaus Haus anhielt, der sofort heraus gestürmt kam.

Später sollte Mageau aussagen, dass Darlene bereits jetzt extrem nervös gewesen war und ihn hektisch aufgefordert habe, schnell einzusteigen. Als sie dann losfuhren, folgte ihnen ein helles Auto, welches ein Stück die Straße herunter geparkt hatte.

In einem für sie ungewohnt hohen Tempo raste Darlene die Springs Road entlang, um dann auf den Columbus Parkway zuzuhalten. Mittlerweile war es kurz vor zwölf, zu Hause musste ihr Mann mit den Gästen bald eintreffen, aber scheinbar scherte sie das nicht. Stattdessen blickte sie immer wieder in den Rückspiegel und sah, dass der helle Wagen ihr weiterhin folgte, obwohl sie sich alle Mühe gab, ihn abzuschütteln. Dabei ließen sie, ohne es zu merken, das Stadtgebiet immer weiter hinter sich und näherten sich einem Golfplatz, der am Rande des Blue Rock Spring-Parks lag – keine drei Kilometer von der Stelle entfernt, an der vor knapp sieben Monaten Betty Lou Jensen und David Faraday ermordet worden waren.

Darlene steuerte den Parkplatz des Golfclubs an und blieb zwanzig Meter von der Einfahrt entfernt stehen. Außer ihrem bronzefarbenen Chevrolet Corvair stand zu dieser späten Stunde kein anderes Auto dort. Der Platz lag wie ausgestorben in der Dunkelheit. Hektisch drehte Darlene sich um und blickte über ihre Schulter, um zu sehen, ob der zweite Wagen ihnen gefolgt war.

Er war es.