Aus dem Französischen von Birgit Leib

Die französische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Bilqiss bei Editions Stock in Paris.

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut français und des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der Französischen Botschaft in Berlin.

E-Book-Ausgabe 2016

© 2015 Editions Stock

© 2016 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Asma’a Musleh, girl reading quran

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

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ISBN: 9783803142054
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3281 9
http://www.wagenbach.de/​

Für Julien.

Für Karim.

Wer singt, betet doppelt.

Augustinus

Streben nach Wissen ist mehr wert

als ein ganzes Leben im Gebet.

Der Prophet Mohammed

EINS

»Im Gegensatz zu euch spreche ich nicht in Seinem Namen. Aber ich fühle es intuitiv. Ihr verehrt Gott, Er aber hasst euch.«

Tosender Protest erhob sich im Gerichtssaal und übertönte die tiefe Stimme des Richters, mit der er Ruhe forderte. Sofortige Ruhe. Eine radikale Ruhe, denn die war ihm die liebste. Eine Ruhe, die an jenem Tag nicht mehr einkehren wollte und ihn dazu zwang, die Verhandlung zu vertagen.

Ich würde diesen Prozess natürlich verlieren. Ich betrachtete ihn nicht als meinen Prozess, sondern eher als einen weiteren Mummenschanz in meinem Land, das schon gestorben war, nur dass keiner sich traute, es davon in Kenntnis zu setzen. Ich sah zu, wie diese weißgekleideten Schurken mit stolz tätowierter Stirn sich bis zur Erschöpfung in hölzernen Reden ereiferten, die sie mit der charakteristischen Energie des Hasses derer ausspien, die Frauen allein deshalb verachten, weil sie keine Männer sind. Ich bestritt alles, was mir zur Last gelegt wurde, denn ich betrachtete mich nicht als Akteurin meines Lebens. Es war mir bei der Geburt aberkannt worden.

Gleich nach der Niederkunft hätte man schon gewisse Scherereien vorhersagen können, mit denen meine Existenz gespickt sein würde. Mir schallten keine Hurrarufe der im Nebenzimmer ausharrenden Nachbarschaft entgegen. Stattdessen hatte mein Vater die Menge mit einem lakonischen »Das ist der Wille Allahs« weggeschickt und die Festlichkeiten beendet. Die mit Trauermiene auf der Türschwelle stehende Hebamme war mir auch böse, weil ich kein Sohn war; damit vermasselte ich ihr eine schöne Gelegenheit, sich feiern zu lassen. Gerade mal eine Stunde alt und schon meines Geschlechts wegen angeklagt. Ich hätte jedoch nicht gedacht, dass es die Wurzel so großen Übels sein würde. Nichts anderes hat mir jemals so viele Ärgernisse beschert. Und dieses Mal waren es keine Schläge, Schikanen oder Erniedrigungen, die mich erwarteten, weil ich nicht gehorcht hatte, sondern nichts weniger als die Todesstrafe durch Steinigung auf dem Dorfplatz, einer brachliegenden Fläche, in deren Mitte sich die Überreste eines versiegten Brunnens auftürmten. Ich war eine Frau in einem Land, in dem es besser war, irgendwas anderes zu sein, vorzugsweise geflügelt.

In kurzer Zeit war ich zur Attraktion des Dorfes geworden. Angesichts der armseligen Zusammensetzung der Versammelten brauchte ich mir nichts darauf einzubilden: auf der Lauer liegende Nichtsnutze, heruntergekommenes Gesindel, sexuell Frustrierte, aber nicht ausschließlich, Glaubensmänner und Rechtsgelehrte von unglaublicher Dummheit und Brutalität sowie ein paar hier und da im Saal verstreute, zusammengekauerte Wiedergängerinnen, immer auf der Hut, bereit davonzulaufen. Die Hochstapler des Göttlichen hatten sich zur Stunde meines endgültigen Urteils in diesem alten Gebäude eingefunden, von dessen offizieller Funktion nur noch der Name übrig war. Die von barbarischen Bestrafungen überquellenden Ordner würden zwangsläufig bersten. Da war kein Platz mehr für eine weitere Akte. Ich war diese Akte, und es gefiel mir, dass sie dieses ganze Regal zum Einstürzen bringen würde. Das versuchte ich mir einzureden, wenn ich mir vorstellte, was mich bald erwarten würde, bis zum Hals eingegraben und unfähig, die kantigen Steine mit den Händen abzuwehren, die auf meine Schläfen einschlagen würden. Und dann, wenn ich mich wieder darauf besann, wo ich war, und meinen Blick über die Zuhörerschaft schweifen ließ, erschien mir meine Strafe milde, wenn sie der Preis sein sollte, den ich zu zahlen hatte, um dieser abscheulichen Fauna zu entkommen. Ich war in einen Käfig gesteckt worden, der verhindern sollte, dass ich noch vor Ende des Prozesses gelyncht würde.

Tag für Tag rannte man also zum Prozess der Frau. Man bemühte sich nicht einmal mehr, mich mit einem ergänzenden Adjektiv zu versehen. Hier zieht jede Frau eine Fülle von üblen Bezeichnungen hinter sich her, alle gleichermaßen lasterhaft, giftig oder manipulativ. Ich verkörperte all diese Frauen zugleich. Ich sollte für all diese Frauen zugleich büßen. Allein in meiner Zelle, verbot ich mir zu weinen. Ich bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, dass das Grauen durchaus zeitweise meine Seelenruhe beeinträchtigte. Zwei als Wächter kostümierte Männer musterten mein Gesicht und suchten nach Verzweiflung, um sich daran zu ergötzen. Zwei Banausen, denen ich diese Freude nicht gönnte und denen ich für den Rest des Tages den Rücken zukehrte. Die Zementwand vor mir hatte jedenfalls mehr Poesie als ihre drei kranken Augen. Der eine von ihnen war einäugig. Die Verhandlung war auf den nächsten Vormittag gegen zehn, elf Uhr, vielleicht auch auf halb zwölf verschoben worden, das hatte keinerlei Bedeutung, denn die Zukunft gehörte ihnen schon lange nicht mehr.

Auf meiner Pritsche liegend flehte ich Gott an, er möge wirklich existieren. Bevor ich es mit der Nacht aufnahm, versuchte ich wie jeden Abend, die Albträume hinauszuzögern, indem ich mir ohne jegliche Bescheidenheit meinen triumphalen Einzug ins Paradies vorstellte. Würdevoll schritt ich von einer Menge auserwählter Frauen umjubelt auf das Licht zu. Unter ihnen entdeckte ich bekannte Gesichter – einige waren aus meinem Dorf, andere kannte ich aus Zeitungen, manche sogar aus internationalen. In einer einzigen Bewegung streuten sie Lilienblüten und Vetiverhalme (meine Lieblingsdüfte) auf meinen Weg, eine bedeckte meine Schultern mit einer Abaya aus karminrotem Gazar (meine Lieblingsfarbe), eine andere krönte mein Haupt mit einer zierlichen Smaragdkrone, ein kleines Mädchen bückte sich, um mir bestickte Sandalen anzuziehen, und ein Mann von blendender Schönheit näherte seine Hand meinem Mund, um einen Schluck französischen Weins hineinzugießen. Bevor ich die Augen wieder auf die zwei Schurken richtete, die meine Zelle bewachten, gewährte ich mir einen flüchtigen Kuss auf die vollen Lippen des Mannes mit der Karaffe. So sah der Anfang meiner Nächte aus. Das Szenario war jeden Tag mehr oder weniger identisch. Aber der Geschmack der Lippen meines Geliebten war nie derselbe. Und da in meinem Kopf alles erlaubt war, verschönerte ich die Szene von Tag zu Tag.

Elf Uhr morgens. Der Richter bat mich aufzustehen. Er verhielt sich weiterhin so, als würde es sich um einen wirklichen Prozess handeln. Mit feierlichem Ton, wohldosierten Unterbrechungen und übertriebener Denkerpose brachte er das Publikum zum Schweigen, wenn ich das Wort ergriff. Als er mich fragte, ob ich einen Anwalt wolle, lautete meine Antwort wie folgt:

»Nein, Herr Richter, ich danke Ihnen, aber ich verzichte auf die Verteidigung, wer auch immer sie übernehmen würde. Ich habe nichts Böses getan, also brauche ich mich auch nicht zu verteidigen, sondern werde Ihnen lediglich antworten, und auch das nur, weil ich dazu gezwungen bin. Ich habe es nie für nötig gehalten, dass jemand sich an meiner Stelle äußert. In meiner Religion gilt das Prinzip absoluter Gleichheit im Angesicht Allahs. Keinem außer Ihm bin ich Rechenschaft schuldig, und nur Er hat die Macht, über mich zu richten. Sie können weiterhin vorgeben, Ihn zu vertreten, aber diese Verwegenheit betrifft mich nicht. Ich lasse mich von Ihrer Frömmigkeit nicht täuschen.«

Unter den erwarteten Buhrufen im Saal setzte ich mich wieder. Ich dachte, man würde mich ohne Aufschub von meinem Stuhl zerren, um mich zum Dorfplatz zu bringen, aber nichts Derartiges geschah. Der Richter verharrte in langem Schweigen, und zum ersten Mal erschien es mir nicht aufgesetzt. Während die Menge sich über meine Worte empörte, indem sie ihre dreckigen und im Lauf der Zeit krumm gewordenen Zeigefinger himmelwärts streckte, erhaschte ich im Blick des Richters eine Art Unbehagen. Ein ungewöhnliches Gefühl schien ihn in dem Augenblick zu beschleichen, als ich mich nach ihm umdrehte. Das Durcheinander hielt noch ein paar Sekunden an, bis es ihm gelang, wieder das Wort zu ergreifen und Ruhe zu erzwingen. Immer dieselbe. Die radikale. Die einzige, die man ihn eben gelehrt hatte. Zu der langen Liste der auf mir lastenden Anschuldigungen kamen gotteslästerliche Worte hinzu. Ich stritt sie nicht ab. So brauchte ich nicht mehr aufzustehen.

Nach mehreren Prozesstagen begannen die Aasgeier ungeduldig zu werden. Am Ende jeder Verhandlung wartete man auf den Schuldspruch des Richters, der zweifelsfrei die von meinen Anklägern geforderte Steinigung legitimieren würde. Binnen einer Woche und nach der Plünderung meines Hauses hatten sie mehr Anschuldigungen gegen mich aufgehäuft, als Steine für meine Bestrafung vorhanden waren. Ein Experte in islamischem Recht hatte ungefähr zwanzig Sittenwidrigkeiten aufgelistet. Das war sein großer Augenblick. Blasiert verlas er alle Verstöße, die er mir anlasten konnte: Make-up, Stöckelschuhe, Damenunterwäsche, darunter ein Bustier aus Spitze, das Porträt eines Mannes, Zeitungen, eine Sammlung persischer Gedichte, Ingwer, eine parfümierte Kerze, mit Liedern bespielte Kassetten, ein Plüschtier, Seidenstrümpfe, Parfüm, eine Pinzette und noch eine ganze Reihe anderer unangemessener Dinge. Ich wusste, dass alles, was Männer in Versuchung führen könnte, verpönt war, daher nahm ich an der Länge der Liste keinen Anstoß. Ich wusste, dass Augenbrauenzupfen verboten war, denn es verfälschte die Schöpfung Gottes. Nichts durfte verändert werden, und wir sollten zu Ihm heimgehen, wie Er uns geschaffen hatte. Selbstverständlich galt diese Regel nicht für die Frauen, die nach einer Steinigung mit zerfetztem Gesicht vor Seine Pforte traten. Die durften nach Belieben entstellt werden, Hauptsache, der Bogen unserer Augenbrauen war nicht nachgezogen.

Diese Idioten hatten außerdem meine Musikkassetten von Abdelhalim Hafez sowie die Gedichte von Hafez konfisziert, die ich in der Hoffnung, sie würden zusammen Kinder kriegen, in meinem Gemüsegarten vergraben hatte. Das könnte mich ungefähr zwanzig Peitschenhiebe kosten. Musik und Poesie lenkten nämlich die Herzen der Gläubigen von Gott ab, deshalb hatten die Machthaber die Stadtbibliothek und die einzige Bude, in der noch Oum Kalsoum lief, niedergebrannt. Die in meinem Schlafzimmer zur Zierde aufgestellten und von ihnen bereits amputierten Plüschtiere würden meiner Strafe weitere zehn Hiebe hinzufügen. Zwar hatte ich versucht, ihnen zu erklären, dass es keine Nachbildungen von Bärenjungen seien, doch sie hatten sie nicht verschont. Denn genauso wie bei den Buddha-Statuen von Bamiyan bestand der Grund für die Opferung der Teddybären darin, dass alles, was eine Seele besaß, in der Religion nicht bildlich dargestellt werden durfte. Und weil eine Frau kein Gemüse, das die Form eines Phallus hatte, am Stück kaufen durfte (der Gemüsehändler musste es auf dem Markt in Stücke schneiden), kamen schließlich noch Auberginen und Zucchini auf die Liste meiner Sünden. Tausend weitere, einem fehlgeleiteten und kranken Geist entsprungene Absurditäten machten meinen Fall noch schlimmer, doch nach einer Weile zählte sie niemand mehr. Niemand schenkte der Perversion Beachtung, in der sich unsere Gesetzesgeber suhlten. Der allerneueste Humbug war geradezu der Inbegriff ihrer moralischen Dekadenz: Seit einiger Zeit hatten die Ordnungshüter nun tatsächlich auch noch das Recht, uns Frauen auf offener Straße anzuhalten, um zu verlangen, vor ihnen auf- und abzuhopsen, damit sie sich versichern konnten, dass wir keinen Büstenhalter und somit das Symbol des Sexuellen schlechthin trugen. Sie mussten also unsere Brüste unter der Tunika hüpfen sehen, bevor sie uns beruhigt einen Hieb mit dem Stock geben konnten, damit wir schleunigst davonliefen. Die meisten Männer trugen inzwischen einen Stock bei sich, oder ein Stöckchen für die einfühlsameren. Ganz so, als seien diese eine Verlängerung ihres Geschlechts, erhoben sie sie oder fummelten daran herum, je nachdem ob gerade eine Frau vorbeikam oder ob sie unter sich im Dorf umherschlenderten.

»Ich frage mich, Herr Richter, wer von uns hier eigentlich der Giftigere ist, um in einer Aubergine einen Phallus zu sehen? Ich schließe daraus, dass es Herrn Karzi an Bescheidenheit mangelt, einen derartigen Vergleich mit seiner eigenen Person anzustellen. Überheblichkeit ist Sünde, Herr Karzi.«

Herr Karzi, der Hauptkläger, stürzte sich auf meinen Käfig und versuchte wutentbrannt, mich mit seinen Krallen zu verletzen. Am liebsten hätte er sich eine Schulter ausgerenkt, um sie zwischen zwei Stäben durchschieben zu können. Der Richter erteilte ihm eine Rüge und erinnerte ihn daran, dass es sich um einen gerechten Prozess handele, bei dem das Wort eines jeden respektiert werden müsse. Er erinnerte ihn auch daran, dass ich »wahrscheinlich« verurteilt werden und er das Privileg haben würde, den ersten Stein nach mir zu werfen, da ich in der Tat eine große Frechheit an den Tag legte. Zu mir gewandt fügte er hinzu, dass ich noch die Gelegenheit hätte, mich zu entschuldigen. Ich lehnte das Angebot mit einem Lächeln ab.

»Herr Richter, ich möchte Sie an die Sure 88, Vers 21 erinnern. Gott hat gesagt: ›Du bist nur ein Bote. Und du hast keine Macht über sie. Es ist an Uns, sie zu richten und zu entlohnen, ohne auch nur eine ihrer Handlungen zu übergehen.‹ Deshalb frage ich Sie, halten Sie sich für Gott? Sie teilen sich eine göttliche Aufgabe zu. Hat Gott Ihnen die Vollmacht erteilt, über mich zu richten? Kann ich sie sehen?«

Das war zu viel. Von allen Seiten forderte man meine sofortige Verurteilung. Doch zur allgemeinen Verwunderung gab der Richter den Befehl, mich in meine Zelle zurückzubringen, sobald der Saal geräumt sein würde.

Ich konnte das Gebrüll hören, das außerhalb des Gebäudes anhielt. In meiner Lage konnte es meine Not ein wenig aufwiegen. Ich brachte sie gerne aus der Fassung. Wobei das nicht sehr schwierig war.

Ich wusste noch nicht, was es war, aber zwischen dem Richter und mir ging etwas Seltsames vor. Ich kannte ihn vom Hörensagen. Als Zimmermann hatte er nun, wo unsere Häuser keine Dächer mehr hatten und die Zeiten des Debattierens vorüber waren, auf islamisches Recht umgesattelt. Zuerst hatte er als kleine Hilfskraft in einer konspirativen Koranschule angefangen. Er hatte lediglich mit einem langen Hemd bekleidet zerstückelte Suren auswendig aufgesagt, Verse gelernt, wie man die Straßenverkehrsordnung lernt, am Abend für widerliche Notabeln getanzt und Schläge bekommen, wenn er wollte, dass es aufhört. Im jugendlichen Alter hatte er gelernt, Dachstühle zu bauen, um seinem Unglück zu entkommen und weil es bei religiösen Berufen eine gewisse Sättigung gegeben hatte. Abends kam er müde nach Hause, während die Mullahs zufrieden heimkehrten. Danach war die Situation in meinem Land aus dem Ruder gelaufen. Der Krieg hatte sich in unsere Leben eingenistet wie ein Besatzer im Wohnzimmer. Das Chaos hatte der Verzweiflung ein Kind gemacht, und wir waren bei der Geburt verendet. Nur die Hartgesottensten hatten überlebt und waren zu dieser dreckigen Brut geworden, die heute über mich richtete. Der Richter war das, was man einen angesehenen Mann nannte. Manchmal sah ich ihn von meinem Versteck hinter dem Gitter des Maschrabbiyyas aus, wo ich die Zeit so gut es ging totschlug, an unserem Haus vorübergehen. Eine nach der anderen ließ er die an seiner Gebetskette aufgefädelten Perlen durch die Finger gleiten, bis er, bei der siebten angelangt, die ganze Kette von links nach rechts schwingen ließ, sodass sie sich schließlich um seinen Zeigefinger wickelte.

Mein ehemaliger Ehemann war sein Chauffeur gewesen. Dadurch hatte ich ihn kennengelernt. Seine Frau – die ich schon vorher kannte – war depressiv, weil er deprimierend war. Selbstverständlich formulierte es keiner so. Im Gegensatz zu dieser westlichen Frauen vorbehaltenen Pathologie sprach man hier lieber von Schwachsinn. Er wurde bemitleidet, weil seine Frau verrückt war, aber ihr gegenüber ließ man es an Mitgefühl fehlen. Niemand fragte sich, wie es möglich war, ganz konkret Nacht und Tag ohne Unterlass zu weinen. Die Männer sagten: »Eine vom Teufel besessene Verrückte.« Die Frauen: »Ein von unendlicher Traurigkeit gequälter Mensch.« Wenn ich sie besuchte, um ihr ihre Einkäufe oder fertige Stickereien zu bringen, unterbrach sie das Weinen für kurze Zeit, um mir heimlich ein paar Verse ihres Lieblingsdichters Dschalal ad-Din Rumi vorzutragen. Sie war eine sehr gebildete Frau und kannte Dinge von anderswo. Bevor es ihr so schlecht ging, hatte sie in der Schule unterrichtet, in die ich als Kind gegangen war. Sie hatte uns Englisch, Dichtkunst und Geschichte beigebracht. Manchmal schoss sie über ihre Rolle als Grundschullehrerin hinaus, um sich in eine wunderbare Geschichtenerzählerin zu verwandeln. Sie hatte eine Vorliebe für außergewöhnliche Liebesgeschichten, wie die von Romeo und Julia, Kleopatra und Marcus Antonius, Madschnun und Leila. Trotz ihrer Begeisterung warnte sie uns jeweils am Ende vor uns selbst, damit es keine Missverständnisse gab. Für sie verkörperten diese Figuren das Romantische schlechthin, aber was sie an ihnen vor allem liebte, war ihre Hartnäckigkeit. Wie sie sich der Regel widersetzten, nach der das Aufgeben wie ein Sieg aussah und dem Sieg der Geschmack des Verzichts innewohnte. Sie hieß Nafisa, und wenn ich zu einer entschlossenen Frau geworden war, hatte ich es auch ihr zu verdanken. Vieles von dem, was ich wusste, schuldete ich ihr, obwohl sie viel zu früh aus meinem Leben verschwunden war. Mit dreizehn hatte man mir verboten, weiter die Schule zu besuchen. Im Jahr darauf war sie wegen Anstiftung zur Unzucht niedergebrannt worden. Ich hatte also nur ein Jahr Unterricht versäumt. Das war ein schwacher Trost. Ich hätte meine Lehrerin gerne länger gesehen, doch eines Tages hatte sie sich die Pulsadern aufgebissen, weil man ihr alle Messer weggenommen hatte. Um nicht erwischt zu werden und um ihre Stimme zu übertönen, tat ich bei meinen Besuchen so, als ob ich ihr meine Aufgaben erklären würde, aber eigentlich hörte ich ihre Gedichte an:

Mein Herz wird jeden Tag durch deinen Kummer leidender,

Deine Unbarmherzigkeit verabscheut mich sehr,

Du ließest mich – dein Kummer hielt zu mir.

Ehrlich gesagt: »Dein Kummer ist treuer als du.« I

Sobald ich fort war, versank sie wieder in Hoffnungslosigkeit, aus der sie erst am Tag darauf wieder auftauchte, um die Mittagszeit, wenn ich ihr Schafmilch oder golchis brachte. Manchmal bemerkte ich den Richter, der von einem Zimmer ins andere ging, ohne das Wort an seine Frau zu richten, nicht, weil er sie hasste, sondern eher, weil sich so etwas nicht gehörte. Ein liebevolles Wort, ein Lächeln, ein ermunternder Blick, eine belanglose Frage, bei einem verheirateten Paar blieb nichts davon übrig, lediglich der Beischlaf und die Vorwürfe. Der Richter schien nicht böse zu sein, er machte eher einen anständigen Eindruck auf mich. Anständig und ordentlich. Ordentlich und gebändigt. Gebändigt von den aufeinanderfolgenden Herren, die, in einer Hand die Peitsche, in der anderen den Koran, mit der Anmut eines Dickhäuters Verse weitergaben, die viel zu erlesen für ihre verstopften Ohren waren. Erbärmliche Theologen, die den armen Kindern ihre Unschuld entrissen, so wie man einen schlechten Zahn mit der Zange und einer Ohrfeige zur Ablenkung ausreißt. Einer davon war der Richter. Aus einer armen Familie stammend, hatte man ihn zu einer achtbaren Persönlichkeit des Dorfes gegeben (das sind die Schlimmsten von allen), die sich um seine Erziehung kümmern und ihn anhalten sollte, mit anzupacken … Da alles bei uns immer eine Frage der Auslegung war, ließ dieses »Anpacken« einigen Deutungsspielraum. Ich dachte daran, dass dieser Richter früher einmal ein niedliches Kind gewesen war. Doch heute würde er meine Steinigung anordnen.

Ich hörte die Tür aufgehen, sah, wie die Wächter sich unterwürfig erhoben und wie die Tür wieder zufiel. Im Halbdunkel erkannte ich nicht sofort, wer mein Besucher war, aber an der Reaktion der beiden Mistfinken konnte ich ablesen, dass es ein gefürchteter Mensch sein musste. Er fing an, den Ort zu segnen, zog dann einen Schemel zu sich, auf dem er Platz nahm, und sah mich verstohlen an. Der Richter höchstpersönlich stattete mir einen Besuch ab. Warum war er da? Was diesen einen Punkt anging, hatte ich zumindest recht. Zwischen ihm und mir ging in der Tat etwas Seltsames vor. Er begann mit einem kurzen Gebet, einer Einleitung, die jeder x-beliebige Feigling nutzte, und flehte dann Gott an, ihm zu verzeihen, dass er sich ganz allein einer Fremden gegenübersah. Dadurch, dass ständig Fatwas in alle möglichen Richtungen ausgesprochen und in seinem Fall auch noch legitimiert wurden, wagte niemand mehr, einen Schritt zu tun, ohne das Risiko eines Peitschenhiebs oder Tod durch Erhängen einzugehen. Die einzige Lösung für einen Mann und eine Frau, die einander fremd waren, sich gemeinsam in einem Zimmer aufzuhalten, war folgende: Der Mann musste an der Brust der Frau saugen, damit diese die Rolle seiner Amme bekam und beide somit in einem angemessenen Verwandtschaftsverhältnis standen. Die Perversion dieser Männer kannte keine Grenzen. Unsere Fähigkeit, all dies zu erdulden, ebensowenig. Um den Teufel nicht in Versuchung zu führen, hütete ich mich jedoch davor, dies dem Richter in Erinnerung zu rufen.

»Sie brauchen nur um Verzeihung zu bitten, Bilqiss, und ich werde alles tun, um Ihnen den Tod zu ersparen. – Warum sollten Sie das tun?«

Selbstverständlich ließ er sich mit der Antwort ein bisschen Zeit. Wahrscheinlich dachte er, ich gehörte zu der Art von Frauen, die jede Gelegenheit beim Schopf ergreifen, um am Leben zu bleiben, koste es, was es wolle. Ohne große Überraschung wies er die Idee von sich, dadurch persönliche Genugtuung zu erlangen.

»Für Allah natürlich.

– Ist alles, was Sie tun, immer für Ihn?

– Selbstverständlich!

– Gibt es keine einzige Sache, die Sie für sich selbst tun?

– Keine einzige! Alle unsere Taten sollen Ihm zum Dank sein.

– Finden Sie das nicht anmaßend von Ihm? Glauben Sie wirklich, dass ein gerechter, weiser und intelligenter Gott das Menschengeschlecht nur deshalb erschaffen würde, damit es Ihm den ganzen Tag über Danksagung erweist?«

Der Form halber regte er sich auf, drohte mir und forderte, dass ich mich entschuldigte, andernfalls würde man mich auspeitschen. Doch er stand nicht auf, ging nicht fort. Er blieb auf diesem Schemel sitzen, als wäre er scharf darauf, in die Mangel genommen zu werden. Indirekt verlangte er meine direkten, unvorsichtigen, ohne spirituelle Verpackung ausgesprochenen Worte, die sich im Gegensatz zu seinen nicht hinter tausend Interpretationen versteckten, um verstanden zu werden. Im Laufe unseres Gesprächs unter vier Augen beruhigte er sich, hörte auf, alles auf Gott zurückzuführen, und stellte mir Fragen, um verstehen zu können, was mich dazu getrieben hatte, es zu tun. Diese Tat. Diesen Irrsinn. Diesen Suizid. Meine Antworten und das daraus hervorgehende Fehlen eines Motivs verblüfften ihn. Durch mich fand er eine Welt wieder, die die Mullahs uns weggenommen hatten: eine Welt, in der man etwas einfach so machte. »Es gibt also noch Leute, die etwas einfach so machen«, schien er sich verdutzt zu sagen. Trotz allem blieb er wachsam und nahm immer wieder neu seine strenge Haltung ein, um mir zu zeigen, dass er sich nicht von meiner Originalität blenden lassen würde. Doch gerade die hätte er gebraucht. Er genauso wie alle anderen. Originalität. Ein bisschen Frivolität, die ihre Automatismen aus dem Ruder laufen lassen, eine Prise Verrücktheit, die ihrer vermeintlichen Weisheit Kontur geben, und einen Schuss Inkonsequenz, der ihren Handlungen Großzügigkeit verleihen würde. Ich hatte also etwas einfach nur so gemacht, und aus diesem Grund sollte ich gesteinigt werden. Mit Abstand betrachtet war es unsinnig. Aber in dem Moment, in dem ich es getan hatte, war es mir vollkommen natürlich vorgekommen.

Eines Morgens, der Muezzin schlummerte noch und ich schlief nicht, denn ich schlief schon lange nicht mehr, hatte ich mit meiner allseits gepriesenen Stimme die Gläubigen meines Viertels zum Gebet gerufen. Darin bestand mein Vergehen. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, ein solches zu begehen, hätte nicht das Schicksal an meine Tür gepocht. Aber das tat es, und ich bereue nichts. Mein Haus stand abgeschieden am Fuße eines Hügels und weit entfernt von dem des Muezzin. Dennoch wählte seine Frau meines aus, um Hilfe zu holen. Um die Zeit des Morgengebets stürzte sie herein und flehte mich an, etwas zu unternehmen. Sie schleppte mich bis zu ihr nach Hause, wo ich den Muezzin entdeckte, der wie leblos zu Füßen ihres Bettes lag. Zu zweit versuchten wir, ihn aufzuwecken, doch die Hektoliter Arrak, die er am Abend zuvor geschluckt hatte, hinderten ihn daran, sich zu bewegen. »Sonst schaffe ich es, ihn aufzuwecken, aber heute früh regt er sich nicht«, rief sie aus. Sie wusste, dass niemand es wagen würde, einen Glaubensmann anzuprangern. Ihren ehrenwerten Gatten. Den unvergleichlichen Muezzin des Viertels. Sie hingegen würde sofort von allen geächtet werden. Das wusste ich. Bevor wir ihn verließen, drehten wir ihn auf den Rücken in der Hoffnung, er würde in seinem eigenen Erbrochenen ersticken. Als wir uns gerade aufmachten, um den Imam der benachbarten Moschee zu verständigen, kam mir eine verrückte Idee. Dann verselbständigte sie sich, und prompt war alles sonnenklar. Ich lief zum Minarett, öffnete die Tür und stieg die ausgetretenen Stufen der Wendeltreppe hoch bis zur Turmspitze. Ich war nicht wenig erstaunt, dass diese den kropfigen und dickbäuchigen Muezzin in seinen ganzen zehn Jahren Dienstzeit nicht abgeschreckt hatte, sie fünfmal am Tag zu erklimmen. Mit seiner näselnden Stimme krächzte er den Gebetsruf heraus, der uns gnadenlos aus unserem einzigen friedlichen Moment riss, und um fünf Uhr morgens krochen die verdienstvollen Gläubigen schweren Herzens zu ihren Teppichen, um ihr tägliches Gebet zu verrichten. Ich fing so an:

Allah ist groß,

Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah

Und dass Mohammed Sein Gesandter ist,

Eilt zum Gebet, eilt zur Seligkeit,

Das Gebet ist besser als Schlaf,