michael sommer

Syria

Geschichte einer
zerstörten Welt

Impressum

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Klett-Cotta

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© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung des Gemäldes »Campement« von Felix Ziem

Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94977-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10061-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALT

VORWORT

PROLOG

I. DIE MACHT DER LANGEN DAUER

IMPERIUM

Nation und Imperium

Imperiale Zyklen

Die erste Globalisierung

Die zwei Seiten der Macht

STAMM

Mobile Gesellschaften

Der Nahe Osten als Nomadenland

Integrierte Stammesgesellschaften

TRADITION

Mythos

Religion

Polytheismus – Monotheismus

II. SYRIEN ALS HISTORISCHE LANDSCHAFT – SCHAUPLÄTZE EINER GROSSEN GESCHICHTE

ISSOS DER HELD, DER AUS DEM WESTEN KAM

Tor nach Osten

Neuland

Bildung für alle?

JERUSALEM DIE JUDEN UND DAS RÖMISCHE IMPERIUM

Stein

Stahl

Feuer

HATRA PILGERSTÄTTE DES SONNENGOTTS

Haus des Gottes

Erbfeinde

»Wer immer in Hatra wohnt«

EMESA KAISER ELAGABAL UND DIE MACHT DES STEINS

Gott ohne Antlitz

Schön wie Dionysos

Kulturkampf

PALMYRA KARAWANENSTADT UND TOR ZUM ORIENT

Nemesis

Stadt und Stamm

Vexierbilder

ANTIOCHEIA METROPOLE ZWISCHEN POLYTHEISMUS UND CHRISTENTUM

Julian

Libanios

Megalopsychia

EPILOG:DER ISLAMISCHE STAAT UND DAS ENDE EINER KULTUR

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Die Abkürzungen der griechischen und lateinischen Autoren und Werktitel sowie der Bücher des Alten und Neuen Testaments folgen den in der Altertumswissenschaft gängigen Regeln. Referenzwerk ist Der Neue Pauly. Übersetzungen stammen, wo nicht anders angegeben, vom Verfasser.

1. Griechische und byzantinische Autoren und Werktitel

2. Lateinische Autoren und Werktitel

3. Altes und Neues Testament (Einheitsübersetzung)

4. Sonstige Werke

ANMERKUNGEN

ZEITTAFEL

KARTEN- UND ABBILDUNGSNACHWEISE

VORWORT

Täglich erreichen uns verstörende Nachrichten aus dem Nahen Osten. Im Zentrum der Krise: Syrien, das in den Sog rivalisierender Großmachtinteressen geraten und zum Schlachtfeld so fanatischer wie brutaler Milizen geworden ist. Mit im Fadenkreuz die Zeugen einer großen Vergangenheit: die Ruinenstädte Palmyra, Apameia und Dura-Europos, der historische Stadtkern von Aleppo, die Umayyaden-Moschee in Damaskus und die Kreuzfahrerburg Krak des Chevaliers.

Syrien: Der moderne Nationalstaat ist ein Kunstgebilde, Spaltprodukt des im Ersten Weltkrieg untergegangenen Osmanischen Reiches und Schöpfung der Siegermächte Frankreich und Großbritannien. Deren Vertreter hatten sich 1916 im Sykes-Picot-Abkommen auf die Abgrenzung ihrer Interessensphären zwischen Mittelmeer und Tigris geeinigt. Der Süden und Osten, mit Jordanien und dem Irak, wurde britisches Mandatsgebiet, im religiös und ethnisch zerklüfteten Norden hatte künftig Paris das Sagen. Dort war nach der Vertreibung der Osmanen 1918 der antike Name Syria aus der Versenkung aufgetaucht: als arabisches Königreich Groß-Syrien mit dem Haschemiten Faisal als Monarch. Faisal wurde 1920 von den Franzosen vertrieben, das Königreich in fünf Staaten geteilt. 1924 fusionierten die Staaten Aleppo und Damaskus zum »Staat Syrien«, der 1930, erweitert um den Alawitenstaat im Westen und den Drusenstaat im Süden, aber ohne den mehrheitlich christlichen Groß-Libanon, zur neuen »Republik Syrien« avancierte. Dieses Syrien entließ Frankreich am 17. April 1946 in die Unabhängigkeit.

Syrien – Syria: Der Name ist viel älter als das Sykes-Picot-Abkommen und selbst das Osmanische Reich. Er bezeichnete stets ein Gebiet, dessen uneindeutige Grenzen nichts gemein hatten mit den geraden Linien, welche die Mandatsmächte in den Wüstensand zeichneten, um Einflusssphären zu markieren. Vor allem war die alte historische Landschaft Syrien viel größer als der moderne Nationalstaat: Sie war identisch mit der Westhälfte des Fruchtbaren Halbmonds, jenes sichelförmigen Gebiets, das zwischen Mittelmeer und Persischem Golf sesshaftem Ackerbau günstige Bedingungen bietet. Herodot, der Vater der Geschichte, leitet den griechischen Namen Syría (Συρία) von Assyría (Ἀσσυρία) her (6,63) – Assyrien war einst das Kernland des Assyrischen Reiches gewesen, das in drei Großmachtperioden die politische Geschichte Mesopotamiens zwischen dem 21. und dem 7. Jh. v. Chr. maßgeblich geprägt hatte. Zu Herodots Zeiten hatte sich in Griechenland Syria als Bezeichnung für die Levante längst eingebürgert. Im Perserreich der Achaimeniden war Syria eine Teilprovinz der Hauptsatrapie Assyria, die sich vom Mittelmeer bis nach Nordmesopotamien erstreckte und auch Zypern und Palästina einschloss. Um 300 v. Chr. teilten die Seleukiden das Gebiet in mehrere Satrapien auf, sprachen aber weiter von Syria, wenn sie ihr levantinisches Kernland meinten. Als Pompeius 64 v. Chr. die Reste des Seleukidenreichs eroberte, nannte er die auf dessen Boden eingerichtete römische Provinz ebenfalls Syria. Später teilten die Kaiser die Provinz, aber der Name blieb an der Levante haften, bis im 7. Jh. die Araber den römischen Orient eroberten und das Gebiet aš-Šâm (»der Norden«) nannten.

Das moderne Syrien teilt mit dem der Antike mehr als nur den Namen. Allen historischen Zäsuren zum Trotz ragt vieles von dem, was in hellenistischer und römischer Zeit dem Land zwischen Mittelmeer und Tigris seinen Stempel aufdrückte, bis in die Gegenwart hinein. Grundmuster der langen Dauer, wie die 2000-jährige Präsenz des Christentums in Syrien, gehen auf die Antike zurück und gelangen erst jetzt, in einer Katastrophe genozidalen Ausmaßes, an ihr Ende. Nomaden, Stämme und die Machtinteressen imperialer Mächte sind weitere strukturprägende Momente der langen Kontinuität. Deshalb muss, wer Syriens Zerstörung im Bürgerkrieg seit 2011 verstehen will, weit ausholen und tief in die Schichten der Historie schauen. Er wird darin überraschend viel finden, was ihm aus der Gegenwart bekannt vorkommt.

Zu einer historischen Tiefenschau ins ferne Syrien der klassischen Antike möchte dieses Buch einladen. Es verdankt seine Entstehung der Initiative des Klett-Cotta-Verlags und seines Lektors, Dr. Christoph Selzer. Den Schreibprozess begleiteten, das Thema bringt es mit sich, anregende, teilweise auch hitzige Diskussionen an meinem Institut, aber immer wieder auch am Sommer’schen Esstisch. Dafür bin ich meiner Frau Diana, meinem Sohn Jan und etlichen unserer Freunde, schließlich den Kollegen, Mitarbeitern und Studenten am Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität zu großem Dank verpflichtet. Danken möchte ich schließlich Marlies Heinz und Fergus Millar, die mich zuerst für das antike Syrien begeisterten.

Oldenburg, im April 2016

Michael Sommer

PROLOG

An einem Frühjahrstag des Jahres 243 n. Chr. wechselte die Sklavin Amatsin zum Preis von 700 Denaren den Besitzer. Amatsin war zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt und lebte in Edessa, der vormaligen Hauptstadt eines kleinen Königreichs namens Osrhoene, das sich zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris im nördlichen Mesopotamien ausdehnte. Dass Menschen ein Handelsgut waren, das man kaufen und verkaufen konnte wie Kleider oder Töpfe, war in der Antike ganz und gar nichts Ungewöhnliches. In Griechenland und Rom ebenso wie im Alten Orient war die Arbeitskraft von Sklaven in nahezu allen Bereichen unentbehrlich: in der Landwirtschaft und im Gewerbe wie im Haushalt. Wer Sklave war, war eines anderen Menschen Eigentum. Oder aber er gehörte dem Staat, einem Tempel, einer Organisation. Sklaverei begründete einen Rechtsstatus, sie sagte nicht unbedingt etwas über die Lebensumstände einer Person aus. Manche Sklaven waren wirtschaftlich bessergestellt als viele Freie.

Über Amatsin wissen wir wenig genug. Sie war durch Gefangenschaft zur Sklavin geworden, auch das war im Altertum gang und gäbe. Ihre Herrin war Marcia Aurelia Matarata, Tochter des Schamnai, Bürgerin von Edessa und – das können wir ihrem mittleren Namen, lateinisch gentilicium genannt, entnehmen – auch römische Bürgerin. Selbst dass man in einem so entlegenen Winkel des vom Atlantik bis zum Tigris reichenden Imperiums römische Bürger antraf, war im 3. Jahrhundert n. Chr. nichts Außergewöhnliches. Ganz im Gegenteil: Der Kaiser Caracalla hatte 212 n. Chr. per Edikt alle freien Einwohner seines Reichs zu römischen Bürgern erklärt. Solch eine Caracalla-Römerin war höchstwahrscheinlich auch Aurelia Matarata; auch das verrät ihr gentilicium. Die Sklavenbesitzerin aus Edessa war dem Recht nach römische Bürgerin; ob sie auch als Römerin dachte und fühlte, sagt ihr Name nicht. Wohl aber, dass mit Sicherheit weder Lateinisch noch Griechisch ihre Muttersprache war. Der Beiname (cognomen) Matarata ist aramäisch und bedeutet soviel wie »Geschenk der Tarata«, wobei Tarata ein anderer Name für die Göttin Atargatis ist. Matarata war die Tochter eines gewissen Schamenbaras, ihr Gatte trug den Namen Aurelius Hafsai. Auch der Käufer der Sklavin, Lucas Aurelius Tiro aus der unweit von Edessa liegenden Stadt Karrhai, hörte auf einen römisch-aramäischen Mischnamen. Tiro, Matarata, Schamenbaras und Hafsai bewegten sich offenkundig in einem Milieu, in dem Aramäisch Verkehrssprache war, in dem aber die Rechtsnormen des römischen Imperiums galten.

Wir wüssten weder von der Existenz Mataratas noch ihrer Sklavin Amatsin, hätten nicht Archäologen in den 1930er Jahren einen Papyrus gefunden, auf dem vor fast 1800 Jahren die Konditionen des Verkaufs der Sklavin durch Matarata an Tiro niedergelegt worden waren.1 Bemerkenswert ist der Fundort dieses zweisprachigen – auf Griechisch und Aramäisch abgefassten – Dokuments: Ans Licht kam der Papyrus in einem Turm der Stadtmauer von Dura-Europos, rund 300 Kilometer Luftlinie von Edessa entfernt. Darüber, wie der Kaufvertrag dorthin gelangt ist, können wir nur spekulieren. Normalerweise hatten römische Städte eine gut funktionierende Verwaltung, zu deren Aufgaben auch die Archivierung von Rechtsurkunden aller Art gehörte. Als Matarata allerdings ihre Unterschrift unter den Kaufvertrag setzte – oder vielmehr nicht setzte, denn sie war Analphabetin und ließ jemanden an ihrer statt das Dokument zeichnen –, herrschte Krieg. 243 n. Chr. reagierte der römische Kaiser Gordian III. auf die Expansionsgelüste seines persischen Widerparts Schapur I. Er schlug die Perser, die mehrfach Vorstöße auf römisches Territorium unternommen hatten, bei dem Ort Rhesaina in Osrhoene, nur etwa 40 Kilometer von Edessa entfernt.2 Denkbar also, dass es den Kaufvertrag in den Kriegswirren ins vorerst noch relativ sichere Dura-Europos verschlug, weil man Archivmaterial aus Edessa auslagerte. Möglich auch, dass einer der Partner des Deals sich in Dura aufhielt und eine Ausfertigung der Urkunde mit sich führte.

Überhaupt fällt auf, dass die Alltagswelt des Kaufvertrags durch erstaunlich viele Glieder mit der großen Politik jener Jahre verknüpft ist. Das fängt schon mit der Datierung an. Im Monat Ijjar – im April/Mai – des Jahres 31 sei die Urkunde aufgesetzt worden, erfahren wir aus dem Kopf der Urkunde. Erst im eigentlichen Text wird diese Angabe aufgeschlüsselt: »Im Jahr sechs des Autokrator Caesar Marcus Antonius Gordianus Eusebes Eutyches Sebastos« bzw. »im Monat Ijjar im Jahr 554 der alten Ära und im Jahr 31 der Befreiung von Antoniana Edessa, der Ruhmreichen, colonia, metropolis Aurelia Alexandria« sei das Geschäft abgeschlossen worden. Drei Datumsangaben konkurrieren in einem einzigen Satz miteinander: die Zählung nach Herrscherjahren des amtierenden Kaisers Gordian III., die »alte Ära« und die Ära der »Befreiung« der Stadt Edessa. Gordian war seit 238 Kaiser; dass nach den Amtsjahren römischer Kaiser gezählt wurde, war in der römischen Welt durchaus nichts Ungewöhnliches. Auch die zweite Datumsangabe genoss weite Verbreitung, jedenfalls in den orientalischen Provinzen. Die »alte Ära« war die Seleukidische Zeitrechnung, die mit dem Herrschaftsantritt Seleukos’ I. in Babylonien einsetzt (312 n. Chr.). Seleukos war einer jener »Diadochen«, die um die Nachfolge Alexanders des Großen stritten und auf dem Boden des Reiches, das der Makedone geschaffen hatte, neue Dynastien errichteten. Aufhorchen lässt die dritte Datumsangabe: Die »Befreiung« Edessas bezieht sich auf die Annexion des Königreichs Osrhoene durch Kaiser Caracalla im Jahr 212/13 n. Chr. Dessen Hauptstadt Edessa, jetzt ihres Königs ledig, erhielt durch ihre Erhebung zur römischen Kolonie (colonia) und zur »Mutterstadt« (metropolis) der Region einen privilegierten Status. Dass alle Osrhoener die Eingliederung des kleinen Königreichs wirklich als »Befreiung« erlebten, darf man bezweifeln. Als einschneidende Zäsur, die mit gutem Grund eine neue Zeitrechnung eröffnete, dürften hingegen alle die Stabübergabe an Roms Statthalter erlebt haben.

Repräsentanten des römischen Edessa treten auch im weiteren Text der Urkunde in Erscheinung, als Zeugen und die Transaktion notariell beurkundende Beamte: Ein Marcus Aurelius Antiochus, römischer Ritter, amtierte als Priester, ein Marcus Aurelius Abgar, auch er römischer Ritter, und ein weiterer Abgar fungierten als Oberbeamte (strategoi). Noch ein Aurelius, Mannos mit cognomen, fungierte als Chef der städtischen Archive und Urkundsbeamter. Aurelius Antiochus und Aurelius Abgar sind als Angehörige des Ritterstands bereits in die zweite Klasse der römischen Reichselite aufgerückt. Lokale Notabeln wie sie hatten erkennbar von der Annexion durch Rom profitiert. Ihnen standen jetzt Aufstiegsmöglichkeiten offen, von denen sie in dem überschaubaren Königreich Osrhoene nur hatten träumen können.

Der Laie staunt: Aus einer einzigen Urkunde mit kaum 40, noch dazu fragmentarischen und interpretationsbedürftigen Textzeilen lässt sich eine ganze Menge in Erfahrung bringen über die Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Stadt am Rand der römischen Welt – Menschen, die normalerweise nicht im Lichte stehen, sondern im Dunkeln, und die sieht man ja bekanntlich nicht. Die Frage aber, ob Aurelia Matarata und der gleichfalls mit dem römischen gentilicium versehene Käufer Tiro wie Römer dachten und sich als solche fühlten, bleibt noch immer unbeantwortet. Über die »Identität« der Akteure schweigt sich der Papyrus, jenseits der nackten Namen, aus. Die Frage ist aber womöglich auch falsch gestellt.

Warum? Hatten denn Menschen im Altertum keine Identität als Gruppe, kein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Nation? Selbstverständlich: Nahezu jeder fühlte sich seiner Familie, seinen Nachbarn oder seiner Stadt und manch einer, wie noch zu sehen sein wird, auch seinem Stamm verbunden. Für viele, die meisten, war mehr als ein Kollektiv Bezugspunkt von Identität: Man konnte sich als Bürger von Ephesos fühlen und als Mitglied des Vereins der Silberschmiede. Daneben war man vielleicht auch römischer Bürger, und auch das war lange mehr als nur ein Rechtsstatus gewesen. Vor allem war es bei den Bewohnern der Provinzen Ausweis der Loyalität gegenüber Kaiser und Reich. Lange war es aber auch eine identitätsrelevante Kategorie gewesen. Wer römischer Bürger war, war stolz darauf. Schließlich gehörte man, wenn man sich Iulius, Flavius, Ulpius oder Aelius nennen durfte, einer privilegierten Minderheit in der eigenen Gemeinde an. Ob den Caracalla-Römern ihr Bürgerrecht nach dessen inflationärer Verleihung noch etwas bedeutete, ist schwer zu ermessen. Man darf es bezweifeln. Nicht wenige der unzähligen Aurelii verzichteten darauf, den Namen in Dokumenten zu führen. Festzuhalten bleibt: Matarata, Tiro und all die anderen waren unter anderem auch Römer.

Was aber waren sie sonst noch? Die Nennung ihrer Heimatstädte verrät, dass das lokale Bürgerrecht wichtig war, Matarata fühlte sich Edessa, Tiro der Nachbarstadt Karrhai zugehörig. Eine wie auch immer geartete Bindung an das alte Königreich ist dem Papyrus nicht zu entnehmen. Wenn es sie gab, hätten die Akteure sie wohl auch nicht zu Protokoll gegeben. Im »befreiten« Edessa war monarchische Nostalgie politisch höchst unkorrekt.

Matarata wie Tiro sprachen als Muttersprache Aramäisch, und auf Aramäisch ist der größte Teil der Urkunde abgefasst, auch wenn das Formular weitgehend römischen Gepflogenheiten entspricht. Dem Aramäischen war in Edessa, als Amatsin den Besitzer wechselte, noch eine große Zukunft bestimmt: Der lokale Dialekt, den man als »Altsyrisch« bezeichnet, hatte sich sukzessive vom sogenannten »Reichsaramäisch« der vorchristlichen Zeit emanzipiert und war ab dem 2. Jahrhundert erst zur Schrift- und später auch zur Literatursprache geworden, in der philosophische Traktate und Poesie verfasst wurden. Mit der Christianisierung, die in Edessa früh einsetzte, wurde es als »Klassisches Syrisch« zur Sprache eines reichen theologischen Schrifttums. Kirchenväter wie Aphrahat, Ephraem der Syrer oder Isaak von Ninive schufen ab dem 3. Jahrhundert eine christlich-syrische Literatur, die als dritte Säule neben der lateinischen und der griechischen Patristik steht. Noch heute ist das Syrische die Liturgiesprache der diversen syrischen Kirchen. Von der Ausbreitung des Islam in Nischen zurückgedrängt und durch mehrere Genozid- und Emigrationswellen im 20. und 21. Jahrhundert im Vorderen Orient dezimiert, führt die Sprache noch immer eine Diasporaexistenz in Europa und Nordamerika.

Aramäisch sprach man nicht nur in Edessa. Das Reichsaramäische war ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. die Lingua franca des Perserreichs gewesen; es wurde auch in römischer Zeit noch an vielen Orten zwischen Mittelmeer und Persien gesprochen und verstanden: in seinen verschiedenen, sich teilweise deutlich unterscheidenden Varianten in Phönizien, Judäa, in der Oase Palmyra inmitten der Syrischen Wüste, in Emesa am Orontes und in Dura-Europos am mittleren Euphrat, in Hatra im östlichen Obermesopotamien und in Babylonien.

Schweißte die gemeinsame Sprache ihre Sprecher schon zu einer Identitätsgruppe zusammen? Nahmen sie sich als eine »Kulturgemeinschaft«, gar so etwas wie eine »Nation« wahr? Sprache ist seit dem späten Mittelalter der entscheidende Kristallisationspunkt für die Formierung moderner Nationen. Zuerst die Völker Europas entwickelten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl aufgrund der gemeinschaftlich geteilten Sprache und – Alterität ist stets der mächtigste Katalysator von Identität – der Abgrenzung von den Sprachen anderer, die für sie unverständlich waren; die außereuropäische Welt zog später nach. Was nicht passt, wird oft passend gemacht: Die brachiale Durchsetzung von Nationalsprachen gegen Regionalsprachen etwa in Frankreich, Spanien oder im Vereinigten Königreich spricht Bände. Sprache ist politisch brisant. Auch deshalb hatte und hat noch immer die Sprachwissenschaft bei der Errichtung von Nationalstaaten eine Schlüsselfunktion.

Indes: Was für die Neuzeit gilt, gilt für die Vormoderne nicht ohne Weiteres. Gemeinschaften können sich auch anders als über Sprache definieren. Hautfarbe, Berufszugehörigkeit, Religion, Essgewohnheiten, selbst Kleidung – all das kann identitätsrelevant sein, muss es aber nicht. So nannten sich die Römer die gens togata, das Volk der Togaträger.3 Konnte jemand, der gallische Hosen, braccae, trug, kein Römer sein? Weit gefehlt: Schon in der mittleren Kaiserzeit trugen Römer massenhaft das bequeme Kleidungsstück aus dem hohen Norden, die umständlich zu wickelnde Toga blieb im Kleiderschrank hängen.

Welcher Gruppe man sich zugehörig fühlt, steckt weder in den Genen noch in den Vokabeln. Es ist an objektiven Kriterien überhaupt nicht festzumachen, sondern eine Frage des kollektiven Bewusstseins, des imaginaire. Um dahin vorzudringen, bedarf es Quellen, die man in der Forschung neuerdings als Ego-Dokumente bezeichnet: Selbstzeugnisse, die Auskunft geben über die »freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung« von Individuen.4 Solche Quellen, in der Regel Texte, liegen für die antike Welt, schon gar für das durch literarische Quellen höchst unzureichend ausgeleuchtete hellenistisch-römische Vorderasien, allenfalls in homöopathischer Verdünnung vor. Wird man ausnahmsweise doch fündig, kann man sich oft keinen Reim darauf machen, was der Autor meint. Was etwa will uns Heliodor, ein Autor des 3. Jahrhunderts n. Chr. und Verfasser eines Romans namens Aithiopica, sagen, wenn er am Ende des letzten Buches verkündet, er sei »Heliodoros aus Emesos, einer Stadt in Phoinikien, einer vom Stamm der Abkömmlinge der Sonne«?5 In Emesa war der Kult des lokalen Sonnengottes Elagabal beheimatet6 und die Stadt gehörte zu Lebzeiten Heliodors zur römischen Provinz Syria Phoenice. Aber macht das Heliodor zu einem Phönizier? Und ist der Sonnenkult primärer Bezugspunkt seiner Identität? Heliodor schreibt erlesenes Griechisch und erweist sich in seinem Roman als profunder Kenner des klassischen Mythos: kein Hinterwäldler aus der syrischen Provinz, sondern ein Intellektueller, der mit den Traditionen der griechisch-römischen Welt virtuos zu spielen weiß. Was also ist Heliodor? Emesener? Grieche? Syrer? Phönizier? Jünger des Sonnengottes? Römer? Weltbürger der Oikumene, des zivilisierten Erdkreises? Oder alles zusammen?

Das Beispiel verdeutlicht, dass die Frage nach der »Identität« der Menschen am Rand der römischen Welt nicht wirklich weiterführt, so gerne wir um sie wüssten. Leichter als subjektive Befindlichkeiten sind objektive Gegebenheiten zu ermitteln, die Bedingungen schaffen, unter denen wir leben: »symbolische Sinnwelten«7 eben wie Sprache, Kleidung, Architektur, Religion; aber auch Strukturen des Wirtschaftens und der politischen wie sozialen Organisation; ferner Ereignisse wie Kriege, Bürgerkriege, Annexionen, Dynastiewechsel und dergleichen mehr; und schließlich die Ökologie, die menschlichem Handeln in allen vormodernen Gesellschaften enge Grenzen setzte.

Der Fruchtbare Halbmond, die ihrer Form nach benannte relative Gunstzone zwischen Mittelmeer und Persischem Golf, ist ein weltweit einzigartiger Naturraum. In Wahrheit ist das Gebiet ein Flickenteppich aus fruchtbaren Küstenebenen und Flusstälern, Bergland und Steppen, die Bauern nur eine prekäre Existenz bieten. Gerade diese Kleinräumigkeit ist das hervorstechende Merkmal des Fruchtbaren Halbmonds und seiner natürlichen Umwelt: Den ineinander verschachtelten Landschaftsräumen entspricht das enge Nebeneinander unterschiedlicher Lebensweisen, die aber gerade dadurch miteinander verkettet werden.

Die These dieses Buches lautet, dass während einer Zeitspanne, die von Alexander dem Großen bis zur Spätantike reicht, in einem Gebiet, das sich etwa vom Mittelmeer bis zum Tigris erstreckt, der Vorrat an Gemeinsamkeiten auf allen Feldern bemerkenswert groß war und dass somit die Bedingungen, unter denen Menschen lebten, relativ ähnlich waren – bei allen Differenzen im Detail und trotz zum Teil sich dramatisch unterscheidender Umweltbedingungen. Bilanziert man Unterschiede und Gemeinsamkeiten in allen Sektoren, dann präsentiert sich der Großraum Levante als vergleichsweise geschlossene Sphäre mit dichten Interaktionsmustern und einem hohen Vernetzungsgrad – mit anderen Worten: als historische Landschaft, die rund 1000 Jahre Bestand hatte und die ein gemeinsames Schicksal verband.

Der geographische Begriff, der sich am besten eignet, um diese Landschaft zu beschreiben, lautet: »Syrien«. Damit gemeint ist nicht der moderne, gerade vor unseren Augen zerfallende Nationalstaat, auch nicht die römische Provinz Syria. Das historische Syrien ist größer: Es umfasst außer dem, was heute Syrien ist, mit der Küstenregion Phönizien den heutigen Libanon, mit der Ebene zu Füßen des Taurus-Gebirges den Südrand der Türkei, mit dem nördlichen Mesopotamien größere Teile des Irak und schließlich, mit den historisch eng mit allen diesen Teilregionen verzahnten Landschaften Judäa, Samaria und Galiläa auch das moderne Israel.

Zwei über alle Maßen mächtige politisch-gesellschaftliche »Ordnungssysteme« (Kapitel I.) drückten Syrien über alle historischen Zäsuren hinweg ihren Stempel auf: Großreiche und Stämme. Beide Systeme waren auch eine Form der Anpassung an vielfach prekäre, teils gar extreme, durch Wassermangel und knappe Anbauflächen gekennzeichnete Umweltbedingungen. Die politische Besonderheit der historischen Landschaft Syrien besteht darin, dass sie durchgängig an der Peripherie großer Mächte lag. Über insgesamt 800 seiner 1000 Jahre hellenistisch-römischer Geschichte war Syrien sogar zwischen zwei rivalisierenden Imperien geteilt. Während im Westen Rom den Ton angab, beherrschten den Osten erst die parthischen Arsakiden, später, ab dem 3. Jahrhundert n. Chr., die persischen Sasaniden. Als drittes Ordnungssystem gesellt sich die Tradition hinzu, durch die Menschen Bezüge zwischen sich selbst und der Vergangenheit herstellen. Wichtige Medien der Tradition waren Erzählungen, der Mythos, aber auch andere Bausteine der symbolischen Sinnwelt, die wir der Sphäre des Religiösen zuordnen: Götter und Rituale, Feste und kultische Institutionen. Sie verbanden, wie wir sehen werden, Syrien fest mit der griechisch-römischen Mittelmeerwelt, waren aber vielfach zugleich in einer Realität verankert, die entweder weit hinter die Eroberung durch Alexander zurückreichte oder überhaupt nichts mit dem Westen zu tun hatte.

Wer nach Laboratorien sucht, wo man den Ordnungssystemen bei der Arbeit zusehen und die Variablen studieren kann, von denen die conditio humana abhing, wird in den Städten fündig, von denen es, wie überall in der griechisch-römischen Welt, auch in Syrien unzählige gab. Vordergründig ist deshalb das Gliederungsprinzip dieses Buches die Geographie. Issos (S. 63), Jerusalem (S. 79), Hatra (S. 101), Emesa (S. 121), Palmyra (S. 137) und Antiocheia (S. 165) sind Städte, die für die unterschiedlichen Facetten des hellenistisch-römischen Syrien stehen: als Kultzentren (Jerusalem, Hatra, Emesa), Weltstädte (Palmyra, Antiocheia), Handelsmetropolen (Hatra, Palmyra) und Bühnen intellektueller Debatten (Antiocheia), manche mehr griechisch geprägt (Issos, Antiocheia), die meisten eher in lokalen Traditionen verwurzelt (Jerusalem, Hatra, Emesa, Palmyra). Die Auswahl ist aber mehr als ein Panoptikum der Möglichkeiten, Lebensstile und symbolischen Formen. Jede der Städte war Schauplatz oft weltbewegender, in jedem Fall aber die historische Landschaft Syrien erschütternder und tief ins kollektive Gedächtnis der Region sich einbrennender Ereignisse. Die Städte sind deshalb allesamt wichtige Erinnerungsorte mit identitätsstiftender Funktion oft bis in die Gegenwart.8

Beginnend mit Alexanders Sieg über Dareios bei Issos (333 v. Chr.) und endend mit der byzantinischen Niederlage gegen die Perser bei Antiochia (613 n. Chr.) erzählen die sieben Städte die tausendjährige Geschichte der antiken Landschaft Syrien. Es ist dies ganz maßgeblich eine Geschichte der Anpassung: Anpassung an einen vielerorts unwirtlichen Naturraum, Anpassung an wechselnde Zeitläufte, Anpassung vor allem an imperiale Mächte, deren ferne Peripherie Syrien war. Wie anpassungsfähig die Menschen zwischen Mittelmeer und Tigris waren und wie kreativ sie mit dem umgingen, was von den Zentren der großen Reiche in ihre Welt ausstrahlte, demonstriert eindrucksvoll Aurelia Matarata, die Verkäuferin der Sklavin Amatsin. Matarata schließt das Geschäft streng nach den Vorgaben des römischen Privatrechts ab. Dessen Normen garantieren die ordnungsgemäße Abwicklung der Transaktion und die sachgemäße Aufbewahrung der Urkunde im städtischen Archiv. Sie geben allen Parteien die erwünschte Rechtssicherheit. In einem Punkt aber weicht der Vertrag von der im Reich üblichen Rechtspraxis ab. Matarata ist eine Frau und als solche nicht geschäftsfähig. Es gilt nur eine einzige Ausnahme: Frauen, die drei Kinder geboren haben, dürfen aus eigenem Recht, ohne Einschaltung eines Vormunds, Verträge abschließen. Matarata ruft das ius trium liberorum, das Dreikinderrecht, aber nicht an, vermutlich, weil sie nicht drei Kinder hat. Trotzdem kann sie den Verkauf selbst tätigen. Sie steht fest auf dem Boden des lokalen Rechts und seiner weit in die Vergangenheit reichenden Tradition. Im vorhellenistischen Orient ebenso wie im alten Israel waren Frauen, anders als in Griechenland und Rom, ganz selbstverständlich geschäftsfähig.

Aurelia Matarata, die Analphabetin und römische Bürgerin aus Edessa, steht exemplarisch für den pragmatischen Umgang der lokalen Bevölkerung mit den Institutionen des Imperiums. Von Edessa über Antiocheia bis Palmyra bedienten sich die Leute nach Gusto und Bedürfnis im großen Repositorium der Ideen und Symbole. Wenn sie sich etwas aneigneten, dann auf eigene Initiative, nicht unter Zwang; nicht als vom Imperium Missionierte, wohl aber häufig als von den Möglichkeiten des Imperiums Faszinierte. Richtig verstanden, bietet das antike Syrien reichlich Anschauungsmaterial für das Funktionieren eines für alle Seiten fruchtbaren Multikulturalismus, der aber, wie auch zu sehen sein wird, seine Grenzen hatte und von bestimmten Voraussetzungen abhängig war.

I. DIE MACHT DER LANGEN DAUER

Fernand Braudel, einer der Wegbereiter der Mentalitätsgeschichte, hat zwischen drei Geschwindigkeiten unterschieden, in denen Geschichte voranschreitet. Kaum merklich verändern sich die natürlichen Gegebenheiten, die unsere Existenz prägen. Unendlich langsam sind deshalb die Rhythmen der géohistoire, der Erdgeschichte, die deshalb ein Mensch in seiner kurzen Lebensspanne kaum wahrnimmt und die sich tief im Untergrund des geschichtlichen Ganzen abspielt. Schnell, geradezu hektisch, ist dagegen das Tempo, mit dem politische Begebenheiten Wirkung entfalten. Die Ereignisgeschichte, histoire événementielle, befindet sich ganz an der Oberfläche der historischen Totalität. Darunter, in einer Schicht zwischen Erd- und Ereignisgeschichte, liegt die Geschichte der – sozialen, kulturellen, religiösen – Strukturen, die einen sehr viel längeren Atem hat. Braudel hat sie deshalb l’histoire de la longue durée genannt: die Geschichte der langen Dauer.

Strukturen der langen Dauer halten uns alle gefangen, ob wir wollen oder nicht. Kraft Erziehung und Sozialisation wachsen wir mit Realitäten auf, denen wir schwer entrinnen können: einer bestimmten Form von Familie etwa, Wertvorstellungen, Erziehungsidealen, einer Sprache, oft einer Religion. Auch politische Ordnungen und Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gehören zu solchen Ordnungssystemen. In Mitteleuropa zählen etwa das von Max Weber mit dem Protestantismus in Verbindung gebrachte Wirtschafts- und Arbeitsethos dazu sowie der hohe soziale Stellenwert, den das Individuum und seine Freiheitsrechte genießen, aber auch seine Verantwortung vor Gott und den Menschen.

Sucht man nach dem historischen Werden solcher Strukturen, so wird man nicht in einem bestimmten Winkel der Weltgeschichte fündig und ganz gewiss nicht in dieser oder jener Epoche. Alle Anfänge seien »dunkel«, wusste schon Jacob Burckhardt. Der Primat des Individuums in Europa hängt mit der jahrhundertelangen politischen Fragmentierung des Kontinents zusammen, mit der flächendeckenden Dominanz kleiner, autonomer, sich selbst organisierender Einheiten, wenigstens seitdem das römische Imperium unter der Völkerwanderung in Trümmern versank. Das Bürgerrecht als institutionelle Anerkennung der Tatsache, dass sich jede Gemeinschaft aus Individuen zusammensetzt, hatte indes schon die griechische Polis gekannt. In ihr verfügte Europa ab ca. 700 v. Chr. über einen Typus politischer Organisation, der diametral dem seit der Bronzezeit im Vorderen Orient vorherrschenden staatlichen Ordnungsmodell entgegengesetzt war: dem Imperium.1

Nation und Imperium

Die gesamte Geschichte Europas prägte seither, bis zum Siegeszug des Nationalstaats in der Französischen Revolution, das Hin- und Heroszillieren zwischen imperialer Zentralisierung und fragmentierenden Absetzbewegungen kleiner Einheiten, der »Stände«: feudaler Territorialherrschaften und freier Städte. Im Prinzip sind auch unsere Nationalstaaten solche kompakten und relativ homogenen Einheiten, und durch nichts ist bewiesen, dass sie nicht eines Tages wieder einem neuen Imperium weichen müssen. Was ist ein Imperium? Wie unterscheidet es sich vom Nationalstaat?

Nationen sind, nach einer berühmten Definition des britisch-amerikanischen Politikwissenschaftlers Benedict Anderson, imagined communities: soziale Konstrukte, die aber aufgrund des Glaubens an gemeinschaftlich geteilte Kultur und Geschichte durch enorme Bindekräfte zusammengehalten werden.2 Dass Staat und Identitätsgemeinschaft zusammenfallen, ist historisch keineswegs die Regel, wohl aber seit dem 18. Jahrhundert, ausstrahlend von Europa und Nordamerika, das vorherrschende Modell staatlicher Organisation. Die Französische Revolution fand dafür die Formel von der »einen und unteilbaren Nation« (la nation une et indivisible): Idealiter ist also der Nationalstaat eine politische Einheit mit klar umrissenem Territorium und Staatsvolk, das sich wiederum durch maximale sprachliche, ethnische, kulturelle, religiöse und rechtliche Homogenität auszeichnet. Es ist ein Missverständnis anzunehmen, ein Nationalstaat könne sich Multikulturalismus leisten. Lässt die Nation Multikulti zu, hört sie auf, eine Nation zu sein.

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