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Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München

unter Verwendung des Bildes »Charles-ii-1993« von Johannes Müller-Franken / VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Vorsatz unter Verwendung des Bildes »Stillleben mit Teekanne« von Johannes Müller-Franken / VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98314-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10036-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

1. Der 15. April 1981

2. Mordwinien, Baschkortostan, Inguschetien

3. Die Astronomin

4. Der Antiquitätenhändler Marzahn

5. Die Schwestern

6. Mario

7. Eurydike

8. Marzahns offenes Geheimnis

9. Der verlorene Mann

10. Der falsche Herr Brammertz

11. Antonius

12. Das Messer

13. Das Geständnis

14. Noch einmal Marzahn

Marzahns Fragmente,

Für Armin

1. 
Der 15. April 1981

Die Frau fürchtet sich.

Springt das sofort ins Auge, weil sie schlank, weiß- und dünnhäutig ist, bis hin zu den nackten Füßen, also ihren Gemütszustand nicht unter purer Fleischesbehaglichkeit verbergen kann? Sie also, in lose übergeworfener Holzfällerbluse überm naiven Unterhemdchen, trägt eine Sonnenbrille mit roten Bügeln, extra breit, zum Schutz vor seitlich einfallendem Sonnenlicht und: fürchtet sich. Aus der Hosentasche hängt zur Hälfte ein gebrauchtes Männertaschentuch. Eventuell wurde es von jemandem benutzt, der Nasenbluten hatte. Vom Zimmerfenster aus ahnt man die Hügel der nördlichen Eifel oder Ostbelgiens. Vermutlich handelt es sich nur um den Aachener Wald, ein im Halbkreis schwingender, graublauer Horizont, jedenfalls um das Bild klassischer Ferne, das für die Zukunft schöne Wolkenschauspiele in Aussicht stellt und die allmorgendliche Vorspiegelung eines immerwährenden, reglosen Friedens. Die diesseitige Gegend wird es nicht weniger für die andere Seite tun. Jetzt, im ungewöhnlich heißen Vorfrühling, versperrt das Laub hoher Straßenbäume noch nicht den Blick.

Da öffnet sie auch schon den Mund und sagt (unter uns, ein bewährter Trick, mit dem sie sich gern beruhigt), das Wort »damals«. Ihr anderes Lieblingswort ist »plötzlich«. Dieses zweite benötigt sie natürlich nicht zum Beschwichtigen, sondern zum Eigen- oder wenigstens Fremd-Erschrecken. Sie liebt ja von Kindesbeinen an das Dramatische, sofern sie es, kein Wunder, in eigener Regie bewerkstelligen darf. Im Augenblick wäre es fehl am Platze. Die Stunde des elektrischen, des Blitz- und Donnerworts »plötzlich« wird aber nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Stellen Sie sich diese fast magere Frau, die Anita heißt, Anita Jannemann, und an deren Ohrläppchen winzige Brillanten zucken, nun allerdings nicht als allzu ängstliches Geschöpf vor. Anita ist lediglich nervös und raucht eine Zigarette, obschon sie gleichzeitig ein großes Stück Rindfleisch resolut in Stücke schneidet, nachdem sie die Sehnen entfernt und sich dabei eine kleine Wunde zugefügt hat. Erst jetzt bemerkt sie, daß die extravagante Sonnenbrille im Zimmer unsinnig ist, sogar stört. Daher die Verletzung. Sie muß die Brille vergessen haben und schiebt sie nach oben ins Haar, in das einige feurige Höhepunkte gefärbt sind. Ihre Stimme klingt angenehm heiser, nicht etwa rechthaberisch näselnd wie bei manchen TV-Ansagerinnen. Sie ahnen das Richtige. Anita konnte beim Fernsehen nicht landen, früher mal, ist lange her.

»Daamals …«, sagt sie, horcht dem Wort wohlgefällig nach, es muß sich wie ein Gähnen, Dehnen, Sich Sehnen anhören. Nach einer Pause, die niemand unterbricht, es ist ja kein anderer da in der noch etwas kahlen Wohnung, setzt sie neu an: »Damals, bei den großen Festen, trat Emmi als unsere anerkannte Kleinkönigin, ja Feistkaiserin auf, im Sommer in Seide, im Winter in Pelz, das Urbild einer beleibten Tante. Aber dann diese Augen! Grüne Steine, grün, als würde ihr Inneres, der ganze Körper unter der Haut, nur aus Jade bestehen, aus nilgrüner Jade durch und durch.«

Schon drängen sich drei Fragen auf. Vor wem fürchtet sich Anita? Vor Emmi.

Zu wem spricht sie? Zunächst zu sich, dann zu Ihnen, jawohl, zu Ihnen, auch wenn Sie für Anita noch viel fiktiver sind als umgekehrt.

Für wen schneidet sie das Fleisch? Für ein Gulasch. Für Abendgäste. Es soll ein Fiaker Gulasch werden. Sie will, um die Gäste, vor allem einen unter ihnen, zu foppen, bei der Garnitur zwar an die obligatorischen Essiggurken und Spiegeleier denken, aber die Würstchen weglassen. Mal sehen, ob es jemand merkt.

Vielleicht übt sie aber in Wirklichkeit mit ihrem palliativischen »Daamals« für die morgen zur Einweihung ihrer neuen Wohnung erwarteten Leute? Legt sich schon heute beim Fleischschneiden (weil sie alles beim Dessert aus frivolen Geselligkeitsgründen berichten will), die Einzelheiten der düsteren Vorgeschichte ihres anstehenden Emmi-Besuchs zurecht? Sie wird Emmi spanische Veilchenschokolade mitbringen, Emmis uralten Trost in der Todtraurigkeit als hoffentlich einschmeichelnde Aufmerksamkeit. Anita persönlich findet den Geschmack leicht ekelerregend. Aroma: Parfümierte Milchkuh. Muffig wie der Tod, jedoch für Emmi, wer weiß, eine noch nicht komplett verblichene Liebeserinnerung aus sehr frühen Tagen. Anita lächelt zum ersten Mal, wenn auch nur zaghaft, nur ganz flüchtig. Das liegt an der ein wenig unstatthaften Unterstellung, da es sich jetzt doch um Emmi und ihren einstigen Kummer dreht, jenseits jeder Liebesleichtfertigkeit.

Sie werden bemerken, der Satzanfang »Daamals …«, versetzt die Gegenwart in eine Schläfrigkeit, ist der reinste Schlummertrunk. Er rückt sogar Katastrophen in die Nähe des Unzerstörbaren, denn die Welt hat nach jedem »damals« zwangsläufig weiterbestanden, ist insofern ein, unter allen, auch widrigsten Umständen, optimistisches Gebilde. Ein Beispiel. »Dort liegt das Messer. Es blinkt, zum Ergreifen und Zustechen nah.« Nun vergleichen Sie: »Damals lag dort das Messer. Es blinkte zum Ergreifen und Zustechen nah.« Was für eine Friedlichkeit im Fall Nummer zwei! Es geht hier jedoch vorerst nicht um ein Messer, sondern um Emmi, um Anita, und natürlich um Wolf. Aber fällt durch die Entfernung in die Vergangenheit nicht ein warmer Goldglanz auf das Messer, das eben noch mordlustig blitzte? Ebenso wäre ein hoher Baum mit flimmerndem Laub denkbar, eine Birke etwa, als Alternative oder zusätzlich, wie das Schicksal es will.

Man kann es auch umkehren, kann alles wieder in die Gegenwart springen lassen, alles retour, beziehungsweise vorwärts ins Heute: »Dort liegt … usw.« Plötzlich wachen sie gefährlich auf, Messer und Baum, reißen, die unmittelbare Zukunft betreffend, aktuelle Raubtieraugen auf. Gutmütiges »damals«, bösartiges »plötzlich«, in speziellen Fällen aber auch: rechtschaffenes »plötzlich«, unter der Oberfläche schwelendes »damals«.

Von Anita geht etwas Konfuses aus. Genau deshalb raucht sie doch! Sie will das Fahrige bekämpfen. Will sich, wie angekündigt, genau das vorgaukeln, was ihr fehlt: Gemächlichkeit. Das müßte nun also klar sein. Komisch, daß sie sich ausgerechnet vor einer mütterlich korpulenten Tante Emmi ängstigt, ja, vor Emmi, deren eigene Üppigkeit sie niemals daran hinderte, die Figur ihres Mannes streng zu überwachen. Anita, als würde sie unsere Gedanken erraten, hebt den Kopf und sagt zu den Hügeln in der Ferne hin: »Das Mütterliche machte es nur schlimmer. Konnte man ihr denn trauen, wenn sie aus diesen verfluchten Jadeaugen starrte? Andererseits: Wie war das noch, Jahre nach dem Unglück, mit Emmi und dem Eurogress hier in Aachen? Udo Jürgens sang. Er muß zu der Zeit wohl der King des Schlagers gewesen sein. Zum King Kong machte ihn dann sein Lied vom ›Blut der Erde‹. Emmi war beim Konzert und mußte zum Klo. Auf einmal stürzte ihre Freundin in den Vorraum und schrie: ›Der Udo singt ›Griechischer Wein‹ und du bist pinkeln!‹ Da ist Emmi, ganz heilige Einfalt, richtig in Panik geraten.«

Anita weiß das von Emmis Schwestern Wilma und Lucy, die als Tanten für sie nie zählten, beide mit stets rot geschwollenen Händen, die sie ab und zu bestimmt als angewachsene Wischlappen einsetzten. Sie selbst, Anita, hat Emmi lange Zeit nicht gesehen. Seit zwei Wochen aber ist sie aus dem morgenfrischen Zürich in die schwüle Luft der Stadt Karls des Großen zurückgekehrt. »Aus Liebe«, behauptet sie still für sich. Hier ließe sich natürlich fragen: Zur Heimat? Zu den eigenen Anfängen? Oder etwa zu einem –? Der Ordnung halber muß sie bei Emmi vorbeischauen, die zufällig ganz in der Nähe und nach wie vor seit »damals« hier wohnt. Aus keinem anderen Grund geht Anita hin. Aus Anstand, familiärer Schicklichkeit wegen, jawohl. Also sucht sie sich in Bruchstücken Einschlägiges zusammen. Das klappt nur, wenn sie es vor sich hinspricht. Die Brillantsplitter in den Ohrläppchen trägt sie, um sich in Stimmung zu bringen. Emmi hat sie ihr geschenkt, als sie zehn Jahre alt war.

Kurz gefaßt, aber wo nötig ergänzt, während sie das Fleisch in den Kühlschrank packt, sich dann schnell herrichtet für das Wiedersehen mit der Tante und sich kaum trennen kann, also noch eine Zigarette anzündet, von der schönen, für sie eigentlich zu teuren Wohnung, kommt durch ihr Erinnerungsgestammel folgendes zum Vorschein:

1981, um ein paar schwere Geschütze aufzufahren, vor 33 Jahren, als nicht nur im März der Präsident der USA, Ronald Reagan, in Washington durch einen Schuß verletzt wurde, sondern im Mai auch Papst Johannes Paul II. in Rom, wobei beide Opfer die Attentate überlebten, der ägyptische Staatspräsident Anwar al Sadat dagegen erst im Oktober unter den Maschinengewehrkugeln von fünf Islamisten auf der rotumkleideten Ehrentribüne vor den Augen der Welt, da man die Jubiläumsfeierlichkeiten im Fernsehen übertrug, tödlich getroffen zusammenbrach, wollte man, völlig unabhängig von diesen Ereignissen, am 15. April, also genau zwischen Reagan- und Papstattacke, bei Hugo Jannemann in Aachen wie jedes Jahr, nur noch heiterer und imposanter, den Geburtstag des alten Herrn und Familienoberhaupts feiern. Genau Mitte April also. Der März hatte die ersten Frühlingshöhepunkte in Einzelschritten treulich erledigt. Diesmal war es Jannemanns Achtzigster. Leonardo da Vinci, der, wie es hieß, Maler der schönsten Frau oder, egal, des schönsten Bildes der Welt, wurde »am selben Tag« geboren, nur rund 450 Jahre früher. Anita hörte schon am frühen Morgen davon und dann noch einige Male, bis am Nachmittag plötzlich das Unglück in die Familie fuhr. Eingeladen waren Jannemanns drei Töchter samt Männern und Kindern. Der einzige Sohn lebte mit seiner Frau, der neunjährigen Anita und deren jüngerem Bruder im selben Haus.

Das Interesse Anitas galt hauptsächlich ihrem zwei Jahre älteren Vetter Wolfgang, der streng und um den Preis ihrer Freundschaft von ihr verlangte, daß sie ihn »Wolf« nannte. »Wer ›Wolfgang‹ sagt, ist mein Feind«, behauptete er. Der Vetter, ein bitter ersehntes Einzelkind, und seine Eltern, Emmi und Uwe Geidel, waren noch nicht eingetroffen. Uwe Geidel leitete eine erfolgreiche Anwaltskanzlei in Aachen. Auf dringenden Wunsch Emmis wohnte man jedoch in Monschau, der »Perle der Eifel« (Falls es Sie interessiert: Früher eine besonders arme Gegend wie viele Landstriche in dem kargen Gebiet, heute fest eingebunden in die »Erlebnisregion Naturpark Eifel«, unter dem Stichwort »Familie aktiv«, samt »Erlebnismuseum«, früher »Heimatmuseum« genannt, mit »Schubladenmemory«« und »Erlebnistisch«), trotz oder eventuell auch gerade wegen ihrer ein wenig orientalisch-landpomeranzenhaften Neigung zu Gepränge, zu Turbanhüten, Teppichen und Mokkatäßchen. Geidel besaß für Notfälle eine Dachwohnung in der Nähe des Doms. Sein Sohn Wolfgang besuchte schon das Gymnasium. Geidel nahm ihn am Morgen mit in die Stadt, mittags fuhr der Junge mit dem Bus zurück, bei ungünstigen Verkehrsbedingungen brachte ihn ein Fahrer nach Haus. Das selbstverständlich Verhätschelte, das prinzliche Brimborium um den Jungen stieß Anita ein bißchen ab, gerade so viel, daß es sie auch anzog. Von diesem tief verborgenen Hochmut ahnte Wolf, der sich schrankenlos von dem Mädchen bewundert glaubte, natürlich nichts. Manchmal machten sie sich irgendwo eine kleine Feuersglut, rösteten Kartoffeln darin und stellten sich vor, es wären zum Flammentod Verurteilte.

Die drei Geidels wollten heute in der Dachwohnung übernachten, ankommen würden sie direkt aus der Eifel, hatten also durchaus nicht den längsten Weg. Die anderen beiden Familien waren schließlich aus München und Paris angereist. Im Wohnzimmer wartete man immer ungeduldiger auf die Nachzügler. Der Großvater geriet in Zorn und bekräftigte mehrmals seinen Wunsch, man solle auf keinen Fall zu seinen Ehren das idiotische Lied »Happy Birthday« singen. Die Schwestern behalfen sich mit Spott, indem sie vermuteten, Emmi habe sich zwischen den Juwelen zur Dekoration ihres grandiosen Busens nicht entscheiden können oder sei in Schwierigkeiten geraten bei der Wahl des vorteilhaftesten Korsetts, das den Bauch zugunsten der Brüste nach oben zwänge. Eine Stimme sagte: »Aber sie will doch trotz ihrer Jahre immer noch wie guter Hoffnung wirken. Sie hört eben nicht auf, sich zu genieren, daß es in ihrer Ehe beim Einzelkind geblieben ist.« Eine andere fuhr dazwischen: »Wieviel Torte sie heute wohl ihrem Mann gestatten wird? Ein halbes Stück? Etwa ein ganzes?«

Die Kinder der Schwestern Emmis lärmten im Garten. Telefonisch hatte man die Geidels in Monschau nicht erreichen können. Auf Beschluß der anwesenden Familienmitglieder wurde jedoch das festliche Kaffeetrinken als Auftakt für eine Weile verschoben. Man tröstete die Kleinen mit Eis aus der Kühltruhe, die Älteren mit Apéritifs, was für eine gereizte, allerdings auch ausgelassene Atmosphäre sorgte. Alle anwesenden Männer bis auf das alte Geburtstagskind hielten fast seit einer Stunde ihre Fotoapparate bereit. Es sollten schöne Familienbilder entstehen vom Festtagsglück. »Für später«, hieß es, »da werden wir froh sein. Wer weiß denn, wie lange noch –« Wie lange noch was?

Anita befand sich, bei aller Vorfreude auf den Vetter, in einer ernsteren Gefühls-Zwickmühle. Über die Verspätung des Freundes ärgerte sie sich, gleichzeitig bot sich ihr dadurch die Gelegenheit, in ihrem Zimmer, weit weg von den draußen krakeelenden kleinen Kusinen und Vettern, ein besonders langes Märchen weiter- und vielleicht noch zu Ende zu lesen. Sie hatte es am Morgen begonnen und von da an verschlungen. Einem reichen Mann, Scheik in Ägypten, war sein einziger Sohn Kairam als Kind von den Franken verschleppt worden. Der Vater stürzte darüber in tiefe Verzweiflung, wobei Anita sein Schicksal zwischendurch beinahe vergaß, da ihm einige seiner Sklaven, die er jeweils am Jahrestag der Entführung, um seinen Gott Allah günstig zu stimmen, freiließ, zum Abschied Geschichten erzählen mußten.

Hinzu kam, daß sie sich bisher sehr gewünscht hatte, vom Vetter als Gegengabe zu »Wolf« »Mimi« genannt zu werden, nach einer Oper, über die jemand geschrieben hatte, darin sei es, als würde es süße Bonbons regnen. Der Vetter jedoch war nur gegen Abgabe ihres Wellensittichs dazu bereit gewesen. In dem Buch hatte sie nun von einer klugen verhexten Gans namens »Minnie« erfahren. Das gefiel ihr noch besser. Sie wollte den Vetter heute mit einer bescheidenen Anzahlung dazu bewegen, sie wenigstens heimlich so anzureden. »Minnie«, probte sie vor sich hin. Man kroch unter den neuen Namen und wurde verwandelt in ein anderes Wesen, schneeweiß und verzaubert.

Auch die erwachsene Anita, umgezogen für die Tante und schon auf dem Weg zu ihr, sagt es jetzt lächelnd nach so langer Zeit: »Minnie«, »Minnie«.

Mittlerweile bewegte sich die Neunjährige auf das Ende der Erzählung des letzten Sklaven zu. Er hieß Almansor. Daß sich unter dem Namen »petit corporal« Napoleon verbarg, mit dem Almansor wichtige Begegnungen in Ägypten und Paris hatte, wurde Anita erst viel später klar. Die Geschichte ließ von Satz zu Satz deutlicher ahnen, daß es eine gewaltige Erregung geben würde, eine noch größere Traurigkeit des Scheiks oder ein übergroßes Glück. Anitas Herz klopfte in zweierlei Aufregung, wurde gepreßt und auseinandergezerrt von zwei gegensätzlichen Kräften, von der Sorge, ob sie das Ende noch schaffen würde bis zum hoffentlich solange ausbleibenden Klingeln, andererseits von der Vorfreude auf das nun überfällige Eintreffen des Vetters. Eilig, ruckhaft leckte ihre Zunge das Eis, als könnte sie so die Vorgänge im Buch beschleunigen, aber auch die Zeit mit kleinen Gattern aufhalten.

Sie hörte irgendwann bis in ihr Zimmer ein-, zweimal den Satz »Es wird doch nichts passiert sein?« und »Ob was passiert ist?« Schnee und Eis mußte man im April auf den kurvenreichen Eifelstraßen nicht mehr befürchten, aber es gab gerade im Frühling oft schwere Unglücke mit außer Rand und Band geratenen Motorradfahrern. Immerhin spürte sie das allgemeine Aufatmen und wie man sich aus Erleichterung zu scherzhaften Vorwürfen rüstete, als endlich geläutet wurde. Klang es anders als sonst? Offenbar hatte nicht der Vetter auf den Knopf gedrückt. Der Ton wäre stürmischer ausgefallen. Wie auch immer: Für das Märchen bedeutete es, daß der Wettkampf des Scheiks von Alessandria und seines Sohnes Kairam gegen das leibhaftige Leben zunächst verloren war. Anita schlug das Buch zu, rannte als erste zur Tür und stolperte mitten hinein in einen Schrei, in ein Röcheln und Aufstöhnen, in ein gewaltiges Saugen, das aus dem Flur kommend sich sofort der Wohnung bemächtigte durch eine unmögliche, unabänderliche Botschaft.

Sie stammte nicht von der wimmernden Tante. Sie drang aus einer männlichen Kehle, aus der des noch unsichtbaren Mannes, der ihr folgte. Alle hörten sie. Die Nachricht dröhnte durch das ganze Haus, ein Urteils- und Schuldspruch, niemand wußte, warum. Der Satz packte Anita und trieb sie in ihr Zimmer zurück. Sie versteckte sich unter dem Bett vor dem Tod, damit er nach dem Vetter nicht auch sie einschlürfte. Etwas Falsches, Verkehrtes, eine fremde Materie war eingebrochen, niemand leistete ihr Widerstand, etwas Ansteckendes, eine Gewalt, die alle, aber am schlimmsten sie, Anita, überwalzte. Vielleicht starb sie gerade? Man vermißte sie ja überhaupt nicht und vergaß sie schon.

»Ich werde das morgen lieber nicht erzählen«, sagt Anita und merkt, daß sie die Orientierung verloren hat. Sie ist bei dem Bauerngehöft, wo früher der brummende Schwachsinnige wohnte, statt nach rechts zum Eberburgweg nach links um den Stauweiher abgebogen. Will sie denn etwa im Kreis wieder in ihre Wohnung zurück?

Wahrscheinlich gab es Schreie und Schluchzer in den Zimmern. Sie erinnert sich nicht daran. Um sie her existierte nur eine Lautlosigkeit. Der Großvater fand Anita unter dem Bett. Er hatte nach ihr gerufen, sie war stumm geblieben. Da stocherte er mit seinem Stock, holte sie hervor, als wäre sie eine Katze, als wäre er selbst der Tod, und nahm sie mit nassem Gesicht, das noch nie so alt gewesen war, in seine wurzelhaft knorrigen, durch den Jackenstoff hindurch harten Arme. »Dabei bin doch ich an der Reihe«, flüsterte er einige Male vor sich hin und ließ sie zittern, aber nicht los. Er wußte ja nicht, daß sie nicht aus Trauer um den Vetter oder Mitleid mit dessen Eltern bebte. Es war einzig die Angst vor dem schwarzen Todesmaul, das auch sie verschlingen, vor dem Riesenmantel, der sie zudecken wollte. Denn der Tod hatte in Wirklichkeit sie, Anita, gemeint und sich nur beim Hinlangen vertan. Ach sterben, sterben, tot, tot.

»Kann der Tod jetzt auch zu mir?« hatte sie endlich den Großvater gefragt, der daraufhin mit der Krawatte seine Tränen abwischte und den Kopf schüttelte. Als er sie verließ, schloß er kräftig die Tür. »Dreh von innen den Schlüssel rum, dann kommt er nicht rein.« Sie glaubte ihm nicht, aber es gelang ihr endlich zu weinen und das Märchen von der glücklichen Heimkehr des verlorenen Sohns Kairam, der sich als verschleppter Sklave Almansor nannte, zu seinem Vater, dem Scheik, in einem Zug zu Ende zu lesen. Selbst nachdem Almansor endlich seinen wahren Namen genannt hatte, konnte der Vater vor Erschütterung, weil seine Augen von Tränen verschleiert waren, Kairam nicht erkennen.

Dann war das Märchen aus. »Verzage ich jetzt?« fragte sie sich, denn sie hatte das Wort erst vor kurzem gelernt und noch nicht ganz verstanden, rechnete auch nach, wer wohl um sie trauern würde, wenn sie heute stürbe, sieben bis zehn Menschen. Ach sterben, ach tot! Das Grauen war stärker als jeder Trost. Fünf Menschen, vielleicht zwölf? Sie aß kleine grüne, rote, gelbe Lastwagen und Werkzeuge in sich rein, weich und mit Waldmeister-, Himbeer-, Zitronengeschmack.

»Müssen wir jetzt verzagen?« fragte sie sich wieder, als sie einige Tage später im Auto des Onkels mit ihrem Bruder zu dem toten Vetter nach Monschau gefahren wurde. In der Zwischenzeit war zu Hause oft das erregende Wort »blutüberströmt«, auch »tränenüberströmt« gefallen. Sie sollten ihn aufgebahrt noch ein letztes Mal sehen. Die Geschwister hatten stumm im Wagen gesessen hinter dem schweigenden Onkel, und auf einmal kam ihr, weil Frühling war, auch wenn die Reise nicht ins Blaue ging, das Lied »Hörst du die Landstraße, wie sie lockt und ruft«, laut schmetternd über die Lippen. Sie war doch Pfadfinderin. Wolf hatte sie deshalb oft verspottet. Sie sang, die Augen auf die wenigen Haare am Hinterkopf des Onkels gerichtet, die Zeile mit Schwung, trompetete sie, draußen schien ja so feurig die Sonne, in den Wagen hinein. Sobald das geschehen war, nein, noch währenddessen, sicher schon bei den ersten Tönen, zuckte der Onkel wortlos zusammen und bremste zur Strafe so scharf, daß es sie gefährlich schüttelte. Anita brach, über sich selbst entsetzt, sofort ihren unbegreiflichen Gesang ab.

Das Gefühl hatte angehalten, bis man sie vor den Vetter führte, der tot in seinem Bett oder Sarg lauerte und nun, als würde er sich verstellen, in seiner Blässe nur einen kleinen Fleck an der Schläfe aufwies.

»Die dunkle Stelle«, sagt Anita. »Ich dachte, der Tod, der tote Tod hätte dort einen Eingang in ihn entdeckt und Einzug gehalten. Vieles konnte beim Tod damals gleichzeitig wahr sein.«

Der Vetter lag unverletzt da, bis ans Kinn zugedeckt, ohne inneres Blut, ohne Seele, nicht wie ein Schlafender, niemals wie ein Schlafender, dem Vetter nur ein bißchen ähnlich, eigentlich nicht wiederzuerkennen, auch wenn man sagte: »Nehmt Abschied von Wolfgang, seht Wolfgang ein letztes Mal an!« Er war es nicht länger, war auch nicht ihr Freund, er war von nun an der Tod, ein Ableger, ein Keimling von ihm. Der Tod war kein Knochenmann, sondern geformt zu einem etwas dicken menschlichen Kind, das sich nicht rührte, dabei aber großmächtig, ein Kind, das den Tag und den Frühling erstickte und für immer den lebendigen Vetter geschluckt hatte. Weil das Wesen nicht atmete, schien auch ihr und dem Bruder kein Luftholen in der Kammer mit den drohend duftenden Lilien gegönnt zu sein. Selbst die Kerzenflammen, obschon sie leicht flackerten, standen auf seiten des Todes.

Er war nicht schauerlich und nicht feierlich. Er war dumpf und enttäuschte. Durch das Fenster grüßte flötend der Unglücksbaum, der den Vetter umgebracht hatte. Bloß nicht hinsehen! Anita tat es aber unwillkürlich doch, schon riß der Onkel die Vorhänge zu. Wo mochte die Tante sein? Hielt sie sich verborgen oder hatte man sie versteckt? Zu Hause redeten sie nur im Flüsterton von ihr. »Leiche?« sagte plötzlich ihr kleiner, ganz steif dastehender Bruder, der genau wie sie nicht wußte, wie lange sie hier in der Starre aushalten mußten. Da hörte Anita wieder das Stöhnen, wie an dem Tag im Hausflur. Der Onkel schob sie schnell aus dem Zimmer, stieß sie beinahe hinaus. Er fuhr sie nach Hause, wo alle lebten, die Eltern und der Großvater, alle lebendig. Die gesamte Fahrt über blieb es vollkommen still im Auto. Man spürte, daß es eine Schuld gab, aber welche? Hatte sie etwas Schlimmes getan? Etwas Gutes unterlassen?

Anita dachte nicht an den Vetter, der sie niemals »Minnie« nennen würde, glaubte nur, wegen ihrer Beschämung vor Lachen gleich platzen zu müssen. Sie wollte so gern weinen. Der Onkel hätte sich über ihr Mitleid gefreut.

Fest stand damals, daß Wolfgang Geidel kurz vor dem Aufbruch zu der geplanten Familienfeier in Aachen auf eine Birke, die dicht beim Haus wuchs, bevor das Gelände rasch anstieg, geklettert und aus beträchtlicher Höhe abgestürzt war. Ach, das schöne Haus, auf das die Tante so stolz gewesen war! Wie es da direkt an der Rur, die ohne zu pausieren lärmend zwischen den bemoosten Steinen hin- und hersprang, prunkte mit seinen weißen Fensterkreuzen und roten Rahmen und grünen Schlagläden! Manchmal blieben Touristen stehen und versuchten, die Fenster zu zählen. Außerdem befand es sich schräg gegenüber dem »Roten Haus«, von einem Tuchmacher, der bis an den Zarenhof geliefert hatte, im 18. Jahrhundert erbaut. Die vielen Motorradfahrer kamen wegen der kurvenreichen Strecke, die anderen Besucher wegen dieses Bürgerpalastes nach »Montjoie«. Als entscheidend für den noch vor Eintreffen des Arztes eingetretenen Tod des Vetters stellte sich nicht die stark blutende Schädelverletzung heraus, sondern der unselige Umstand, daß er ein sogenanntes Fahrtenmesser, von dem niemand wußte, wie es in den Besitz des Elfjährigen gekommen war, fest um das Handgelenk gebunden und sich damit beim Aufprall und unglücklichen Abknicken des Arms einen tiefen Stich ins Herz oder, Anita hätte es nicht mehr sagen können, in die Lunge zugefügt hatte. Ein Onkel meinte am Tag der Beerdigung, ohne daß die verlassenen Eltern es hören konnten, bedächtig: »Gut so. Glück im Unglück. Wenn der Junge überlebt hätte, wäre er ein Schwachsinniger geworden.« Das sagte er aber wegen der Kopfverletzung.

Als Begründung für den fatalen Ausflug Richtung Baumspitze gab man an, der gute Junge habe für den Großvater, der kürzlich bei einem Besuch in Monschau seine Freude auf den bald im jungen Laub flimmernden Baum geäußert hatte, einen Strauß zum Geburtstag abschneiden wollen. Hatte der Großvater nicht behauptet, die demnächst im sachten Wind wehenden Zweige erinnerten ihn jedes Jahr an das Haar der Loreley? Anita sagte nichts dazu, wußte es jedoch, angstvoll, besser.

In ihrem brütenden, dann wieder rasenden Schmerz wollte Emmi später mit lodernden Blicken dem Großvater aus seiner Bemerkung einen Strick drehen. Er ließ sie wüten, aber seine strahlenden Augen füllten sich mit Tränen. Anita beobachtete es durch einen Türspalt. Deshalb erzählte sie ihm, wie es »wirklich mit dem Messer war«. Es blieb für immer ein Geheimnis zwischen ihnen. Sie mußte es hoch und heilig versprechen.

Wie lange das her ist, alles lange vergessen. Nun mit einem Ruck vor sie hingestellt. Auf einer Bank über dem Stauweiher sitzt ein Mann. Es ist der Herr Brammertz, der hier in der Nähe, damals, im geheimnisvollen Efeuschlößchen wohnte, ein weißes Haus, dem das Grün aus Nase und Ohren zu wachsen schien. Nein, doch nicht der Herr Brammertz, er müßte jetzt ja viel älter sein.

Die Haushälterin von Emmi, eine freundliche Polin, hatte um Pünktlichkeit gebeten, als Anita mit ihr telefonierte. Trotzdem setzt sie sich einen Augenblick neben den Mann. Warum? Wie soll sie das wissen. Sie hat extra flache Sandalen zum Laufen an, also wird es mit dem rechtzeitigen Antrittsbesuch schon hinhauen. Der falsche Herr Brammertz sieht sie von der Seite an und sagt: »Ich kenne Sie! Glückwunsch zu dem Profil. Eine solche Nase ist eine Rarität, ein Lichtblick. Sie verkaufen Postkarten, Lakritz und fromme Scherzartikel in dem Lädchen am Dom?« Anita ist überrumpelt von der Kleinheit der provinziellen Welt. Am liebsten würde sie antworten, er könne ja schon deshalb nicht der Herr Brammertz sein, weil der sich vor vielen Jahren erhängt habe. Ach nein, das war ja nur der Herr Schratt. Stattdessen erzählt sie, warum sie am Domplatz vorübergehend arbeitet, fast aus Gefälligkeit bloß, und daß sie davor in Zürich an der ETH beim interdisziplinären Collegium Helveticum »Brückenbauerin« war und aus privaten Gründen nach Aachen gekommen ist, in der Hoffnung, hier einen ähnlichen Job durch gute Beziehungen an der TH zu finden.

Sie denkt einen Moment, noch stärker als sonst, an den »privaten Grund«, auch an das Fiaker Gulasch. Als sie die Augen wieder öffnet, ist der Mann verschwunden. Zehn Minuten später steht sie vor dem Haus am Eberburgweg, nur noch durch undurchsichtige Mauern von Emmi getrennt. Sie erkennt den Bungalow, in den Fünfzigern erbaut, jetzt ein typisches Witwen-Anwesen, pflichtgemäß und herzlos gepflegt, um das Vermoosen in Schach zu halten. Der Onkel hatte das Haus nach dem Tod des Vetters in großer Eile gekauft. Onkel und Tante waren schon im Herbst 81 aus Monschau, dem Unglücksort, geflohen.

Bevor sie läutet, raucht sie, um Kräfte zu sammeln, schnell wie der Wind noch eine Zigarette, seitlich, neben einem Hartlaubgebüsch.

Man konnte damals, als die Tante aus der Klinik von den Kuren und Massagen kam, nicht über sie sprechen, ohne sich sofort an den wachsbleichen Wolfgang mit seinem heuchlerischen Schläfenfleck zu erinnern. Emmi schien regungslos in einem düsteren Kasten zu warten, war ein grollendes Gewitterunheil, ein Vorwurf an alle, die lebten und womöglich manchmal über irgendwas lachten, ohne daß sie kontrollieren konnte, ob sie die Trauer unterbrachen, wenn sie es nicht sah. Jede Fröhlichkeit war Verrat. Der Onkel aber verblaßte im Hintergrund, bis er wenige Jahre später starb. Die Tante, die nicht dünner, eher noch dicker und mächtiger wurde, klaffte als hohler Riesenleib, in dessen Finsternis alles Lustige versank.

Der Name »Wolfgang« war das verbotene Wort, das niemals in ihrer Gegenwart fallen durfte. Passierte es versehentlich doch einmal, stellte es sich als schweres, tief beschämendes Vergehen heraus. Man hatte immer Angst, es könnte dem Mund entschlüpfen, und dachte deshalb ständig daran. Kaum tauchte die Tante auf, brannte das Wort in der Brust, auf der Zunge und wollte heraus. Emmi kam ja oft, um sich trösten zu lassen. Aber man mußte den Namen verschweigen. Alles, was sie von ihrem Sohn besaß, hatte sie weggeräumt, alles weg aus ihren Augen. Nur ab und zu hörte Anita durch eine angelehnte Tür, wie es aus ihr herausbrach: »Er war doch der Beste von allen, der Allerbeste.« Niemand wagte, ihr zu widersprechen. Durch das Verbot war Wolfgang noch anwesender. Er schwoll im ausdrücklichen Verschweigen an und füllte fordernd jeden Raum, in dem sich Emmi aufhielt.

Einmal rief draußen ein Kind nach seinem Bruder: »Wolfgang, Wolfgang!« Sofort wurde das Zimmerfenster geschlossen. Die Tante preßte böse den Mund zusammen und bedrohte alle im Zimmer mit ihrem Blick. Es war doch nur Zufall und nicht gegen sie gerichtet gewesen! Ein anderes Mal hieß es: »Goran, Goran, Essen kommen, Goran, Goran!« Auch da hörte die Tante aus dem o und a den Namen ihres Sohnes heraus und nichts als das. Manchmal mußte Anita aus dem Zimmer laufen und unter der Bettdecke »Wolfgang, Wolfgang!« rufen, um es auszuhalten. Schon bei dem Wort »Hofgang«, sogar bei »Walfang« wurde man rot vor Schreck.

Dabei meinte es die Tante nach einiger Zeit gut mit Anita. Das Mädchen wurde jeden Sonntag mitgenommen in irgendeinen Ausflugsort zum Kaffeetrinken. Man hatte Anita gesagt, es sei ihre Aufgabe und doch auch ein Glück, obschon es eine Qual für sie war, die Autofahrt und das Schwitzen und Sitzen wie auf glühenden Kohlen vor den Kuchenstücken, immer auf der Hut, daß ein bestimmtes Wort unter keinen Umständen über ihre Lippen kam. Onkel und Tante sprachen sehr selten miteinander, seufzten und lallten nur, sie aber sollte aus dem Stand ein lebhaftes Kind sein und wußte nicht, was man da machte. Emmi starrte sie an, ihre grünen Augen waren trotz der Schwarzwälder Kirschtorte nicht freundlich. Sie sagte: »Laß es dir schmecken, Anita!« Doch die Augen drückten etwas aus, was sie nicht begriff, etwas Gegensätzliches. Was malte sich die Tante, die sich ja an niemandem rächen konnte, vielleicht heimlich aus? Auf der anderen Seite mußte Anita immerzu an ihr Geheimnis denken, von dem sie dem Großvater geschworen hatte, es um Gottes willen nicht auszuplaudern.

Sie sagt jetzt hinter dem Gebüsch, muß es unbedingt aussprechen: »Er hat eines Tages gehört, daß seine Mutter zu einer Nachbarin in Monschau lachend über ihren Sohn meinte, es sei ja so leicht zu lenken, das brave Kerlchen. Dieser eine Satz war es, der ihn mit Haß auf Emmi erfüllte. ›Hahaha! Leicht zu lenken! Die Alte wird sich verdammt wundern!‹ fluchte er ein paar Tage vor dem Unglück am Telefon. Kurz darauf kletterte er auf den Baum, um mit dem Messer Vögel in ihrem Nest umzubringen. Er hat mir ja den Plan verraten. Da ist es dann passiert.«

Sie drückt die Zigarette aus, Gnadenfrist vorbei. Die Haustür ist schon geöffnet. Dort steht eine kleine zarte Frau mit Stock in karierten Hausschuhen. Aus der Nähe sieht Anita, daß ihre Augen durch das Alter zu einer diffusen Mütterlichkeit verschwiemelt sind. Es ist trotzdem Emmi. Ihre weißen Haare sind schematisch zu vielen winzigen Löckchen gerollt, ein Persianerköpfchen. Vielleicht fabriziert das jetzt diese Polin? Durch den Augenschleier versucht die Frau Anita zu erkennen. »Du bist Anita?« Dazu stößt sie mit dem Stock auf. (Sie wird ihn im Laufe des Nachmittags ohne Unterbrechung fest umklammern, aber dreimal fallen lassen. Jedes Mal, wenn Anita sich bückt und ihn ihr zurückgibt, lächelt das trostlose Gesichtchen für zwei, drei Sekunden zufrieden. Man könnte auch meinen: triumphierend.)

Die Wohnung hat sich offenbar in den über dreißig Jahren nicht verändert, kein Bild von Wolfgang an der Wand. Luft und Zeit sind in tiefem Schlaf versunken. Nur ist sie, wie die Tante, geschrumpft. Wird man von ihm sprechen dürfen? Wie hat sich Anita nur fürchten können vor diesem Besuch! Oder fürchtete sie sich genau davor, es könnte so sein, wie es jetzt ist, Emmi mit verblichenen Jadeaugen, ohne zweideutig sprühendes Feuer darin?

Es gibt Sherry und Eiswaffeln. »Ich weiß alles. Dein Bruder hat eine Friseuse geheiratet«, sagt Emmi gleich zu Beginn. »Ich kannte sie, Jasmin oder so. Mit langen silbernen Fingernägeln strich sie einem auf dem Kopf herum. Dann vertrug sie die Farben und das alles nicht mehr. Sie mußte in der Eifel sechs Wochen in eine Antiallergieklinik.« Emmi kraust die Stirn, es strengt sie an, sich alles zurechtzulegen, aber sie schafft es, sie will es: »Dann hat sie asiatisches Boxen, sogar mit Tritten mitten ins Gesicht gelernt. Die Folge waren abscheuliche Nackenmuskeln. Und Schultern, solche Pakete, wie bei einem Ringer. Sie fand das plötzlich schön. Einige Zeit lebte sie dann mit ihrem Lehrer in Thailand zusammen. Anita, der soll so gut geküßt haben, daß sie dachte: ›Hallo, was ist jetzt los!‹ In ihrem Beruf fand sie dort keine Stellung. Frisieren wollen die Thailänderinnen selbst. Statt dessen arbeitete sie in einem Hundesalon für Touristen. Bis dein Bruder sie nach ihrer Rückkehr kennenlernte und zur Frau nahm. War wohl sein Geschmack.«

»Nein, Emmi«, sagt Anita so sanft wie möglich und streichelt die alte Hand auf dem Stockgriff. »Emmi« ist ihr so rausgerutscht. Die Tante zuckt nicht mit der Wimper. »Alexander, mein Bruder, lebt seit dem Tod unserer Eltern in Paris. Er hat dort die Firma seines Onkels, deines Schwagers Heinrich, übernommen und ist seit langem mit einer Französin verheiratet.«

»So? Dann spreche ich von einem anderen Neffen. Es sind ja alles Neffen von mir. Neffen an jeder Ecke. Ich hoffe, du bist wirklich Anita, die kleine Anita von früher. Immer mehr Leute kommen jetzt zu mir und behaupten: ›Ich bin Ihre Nachbarin‹, ›Ich bin deine alte Freundin‹, ›Aber Emmi, ich bin doch deine Schwester!‹ Man hält mich zum Narren. Und wie ist es mir dir? Hast du denn einen Mann? Das wirst du ja wohl, in diesem flatterigen Kleidchen! Erzähl du ruhig alles von dir, jetzt, wo du schon mal da bist. Was für einer ist er? Taugt er was?«

Was hat Emmi eigentlich an? Schlecht zu erkennen, eine Hose, eine Weste mit einer doppelten vertikalen Schmucksträhne über die kaum noch konturierten Brüste hinweg. Palmen? Tempeltänzerinnen, artistisch übereinandergestapelt? Eine Prozession von Krokodilen? Und diese uralten karierten Filzpantoffeln, schon eine Seltenheit, als Anita noch ein Kind war! Will Emmi als Inbild eines alten Mütterchens erscheinen? Nein, sagt sich Anita, sie lebt jenseits solcher Spekulationen. Oder nicht? Mein Gott, sie ist bald achtzig! Dabei hat Anita schon begonnen (sie behauptet vor sich selbst: um die Zeit zu überbrücken), das zu erzählen, wovon sie am liebsten sprechen möchte.

Ausgerechnet zur Tante? Ja! Sie wundern sich? Anita wundert sich auch, aber nur flüchtig. Emmi dagegen, die meist geduldig zuhört oder so tut, als ob (den Stock später vielleicht nur fallen läßt, um sich durch den Krach wach zu halten), stößt zu Beginn kräftig auf den Boden. Anita kommt es vor wie ein im Voraus geleisteter Karnevalstusch.

»Ich glaube, er taugt was! Er taugt so sehr, daß mir unheimlich wird. Ich frage mich: Wie komme ich dazu, jetzt, nach dem beträchtlichen Pech, das mir bisher doch ziemlich treu war, in der Liebe, meine ich. Obschon ich immer gern verliebt war, schrecklich gern, beinahe ununterbrochen. Es gab da immer was, hintereinanderweg, und sei es auf Biegen und Brechen, ich konnte nie ohne das leben. Ich bin ja zweiundvierzig. Das ist, was diese Dinge, ich meine, die Männer betrifft, keine Kleinigkeit.« Erschrocken denkt Anita: Rund drei Jahre später hatte sie, Emmi, schon das ganze schöne Leben für immer abgeschlossen.

»Mit Mario …« Ah, nun ist der Name endlich heraus. Selbst ein Halbtauber müßte Anitas Verliebtheit heraushören. Die Tante stößt mit dem Stock auf. Tusch!

»Ich habe damals in Zürich gelebt. Vom See aus sieht man die Berge. Am schönsten ist es, wenn der Schnee auf den hohen Schrägflächen gipfelauf- und abwärts schimmert. Viele Zugvögel finden es dort so angenehm, daß sie gar nicht mehr über die Alpen nach Süden wollen und sich lieber am Wasser füttern lassen. Leider ist alles zu teuer. Wenn ich was zum Anziehen brauchte, habe ich mir zuerst eine Weile an den unerschwinglichen Modellen in den Schaufenstern der Boutiquen Lust gemacht, dann bin ich mit dem richtigen Fieber zu den Imitationen in die billigen Läden gegangen. Es gibt sie ja in allen Städten Europas, mit primitiven Kabinen zum Anprobieren nebeneinander, die Seitenwände nicht bis zum Boden durchgehend, wie bei Schulklos, Schwingtüren wie in den Saloons im Wilden Westen.«

»Mario! Mario!« ruft die Tante.

Anita horcht dem Wort aus dem Mund der alten Emmi einen Augenblick nach. Verwechselt die Tante die Wirklichkeit mit der Oper »Tosca«, aus der sie bei Familienfesten, vor dem Unglück, versteht sich, nach dem Tortenessen so gern zwei, drei Zeilen sang?

»Ich befand mich an dem Tag in einem meiner harmlosen Kaufrausch-Anfälle, Mann, Tante Emmi, ich fühlte mich so richtig obenauf! Jedenfalls lag meine Tasche offen auf dem Kabinenboden, während ich, wie immer gespannt auf die fällige Verwandlung, ein Kleid über den Kopf zog. Sie lag da auch weiterhin, das schon. Dann aber die Bescherung an der Kasse!«

»Was denn, Bescherung? Was? Bescherung? Beschämung?« Emmi knistert mit dem Silberpapier der Veilchenschokolade.

»Meine Geldbörse war mit dem üblichen Inhalt samt Handy verschwunden, so ungläubig ich auch suchte und wühlte. Ich hatte es dem Dieb oder der Diebin in der Nachbarkabine verführerisch leicht gemacht. Man mußte nur unten durch den Kabinenspalt seine fremde Hand in meine hochpersönliche, streng private Tasche schieben. Das Interesse der gestylten Kassenmädchen an meinem Mißgeschick war dementsprechend gering. Augenrollen, herzliches Schulterzucken für das Nervenbündel, nächste Kundin, bitte.«

Emmi beißt in die Schokolade wie in ein Butterbrot, kaut kurz und spuckt unverhohlen in ihre Serviette. Kein Hauch von Liebeserinnerung.

»Zumindest hielt man mich wegen meiner Blässe, vielleicht auch Weinerlichkeit, nicht für eine Betrügerin. Das half mir wenig. Glücklicherweise waren mir keine wichtigen Schlüssel gestohlen worden, keine Papiere, keine Scheckkarten. Wenn mich die kleine Kauflust überfällt, lasse ich dieses Zeug bis auf den Wohnungsschlüssel zu Hause. Aber alles Bargeld und der Rückfahrschein von der Stadt in meinen Vorort waren futsch. Man hatte mich vorübergehend bettelarm gemacht.«

»Beklaut. Ist mir viermal im Leben passiert.«

»Für den Weg zu Fuß würde man Stunden brauchen. Auch der Schalterbeamte am Bahnhof zeigte kein Erbarmen. Er hob nur träge die Hände bis zu den Ohren und summte, die fette Stubenfliege. Kein Mitleid weit und breit. Plötzlich ist man, so geplündert, auch ausgestoßen, der ungeliebte Schwachpunkt in der Herde, der Pechvogel, ruckzuck halb beschmunzelt, halb verachtet. Du siehst, der Boden für meinen Retter war hervorragend bereitet.«

(Die Frage ist allerdings, ob Anita nicht unterschwellig, vielleicht sogar ihr kommendes Glück erwitternd, das Pathos des Beraubtseins genießen wollte. Sie hätte doch wohl die paar Schritte zu ihrem Arbeitsplatz an der ETH trotz zitternder Knie geschafft und dort Hilfe erhalten! Oder will sie im Erzählen den Auftritt ihres Ritters – na, Sie begreifen schon.)

Emmi stößt, erleichtert, daß es nun wirklich losgehen soll, mit dem Stock auf. Anita soll gefälligst ihre Zuhörerin nicht vergessen, die weniger Geständnisse als Unterhaltung verlangt. Der Nebel in den Augen der Tante lichtet sich nicht. Müßte Anita, um den Altersdunst aufzuhellen, vielleicht nur einen gewissen verbotenen Namen nennen? Es reißt sie längst in eine andere Richtung fort.

»Boden bereitet!« Emmi macht Tempo. Die Kolonnen, die über ihren dekonstruierten Busen pilgern, stellen sich als Zwillingskarawane von Kamelen heraus.

»Wie soll ich sagen, Tante Emmi, ich –«

»Nun laß doch die blödsinnige ›Tante‹ weg, bist schließlich alt genug.«

»Ich stand ziemlich kopflos in meiner Verlassenheit vor dem Schalter, als jemand sacht meine Schulter berührte, mich von der Seite ansah, den Fahrpreis großzügig berechnet vor mich hinlegte und bloß sagte: ›Darf ich aushelfen?‹ Noch bevor ich danken konnte, zog sich der Mensch zurück.«

»Mario!« ruft die Tante und schleudert zum ersten Mal den Stock von sich. Anita apportiert.

»Hätte ich den Namen nur erfahren! Ich wußte ja überhaupt nichts von dem diskreten Kerl. Und doch das Wichtigste: Diese Augen, Tante, die kannte ich von viel früher, vom Großvater Jannemann, diese strahlenden Augen, als hätte er elektrische Lämpchen dahinter und könnte sogar im Dunkeln damit leuchten. Jetzt sah ich sie wieder, und ich sah auch wieder den See im Salzkammergut, den blau zuckenden Wasserspiegel. Ich war vier Wochen im Juli dort gewesen, vier Wochen, gegenüber dem ›Weißen Rößl‹, nichts als blau funkelndes Glück, und ich hörte die Operettenmelodie von damals. Jetzt hieß das Libretto ›Darf ich aushelfen?‹ Ein leicht über mein kleines Mißgeschick amüsierter Singsang war das.«

»Die taugt nichts. So eine Schnapsidee: Veilchenschokolade!« sagt Emmi.