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Band 133

 

Raumzeit-Rochade

 

Michael H. Buchholz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: 7. Juni 2051, zwischen Erde und Mond

1. 1864, nahe Redwood, Mississippi

2. 1649, Hathorsystem

3. 13.000 v. Chr., Palagola

4. 1864, Tamaániu

5. 1649, Wanderer

6. 1864, Redwood

7. 13.000 v. Chr., Palagola

8. 1649, Wanderer

9. 1864, zwischen den Inseln

10. 1864, nahe Redwood

11. 1864, Liduur

12. Dezember, 50.939 v. Chr., Velcitna – Rico

13. Dezember, 50.939 v. Chr., Velcitna – Tuire Sitareh

Intermezzo: 7. Juni 2051, zwischen Erde und Mond

14. vor 85 Millionen Jahren, Liduur

15. vor 85 Millionen Jahren, an Bord der ATRASTAU – Rico

16. vor 85 Millionen Jahren, an Bord der ATRASTAU – Anathema di Cardelah

17. vor 85 Millionen Jahren, Liduur – Tuire Sitareh

18. vor 85 Millionen Jahren, Liduur – Anathema di Cardelah

19. vor 85 Millionen Jahren, Liduur – Tuire Sitareh

20. vor 85 Millionen Jahren, Liduur – Anathema di Cardelah

21. vor 85 Millionen Jahren, Liduur – Rico

22. 1864, nahe Redwood

23. 1864, Liduur

24. vor 85 Millionen Jahren, Liduur – Billy Ray Dawson

25. vor 85 Millionen Jahren, Liduur – Tuire Sitareh

26. Dezember, 50.939 v. Chr., Velcitna – Billy Ray Dawson

27. Dezember, 50.939 v. Chr., Velcitna – Tuire Sitareh

28. 13.000 v. Chr., Palagola

Epilog: 7. Juni 2051, zwischen Erde und Mond

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Seither erlebt die Erde einen enormen Aufschwung; auch im Weltall kann Rhodan beeindruckende Erfolge erringen.

Im Sommer 2051 leben die Bewohner der Erde in Frieden, alle Gefahren scheinen bewältigt zu sein. Die Menschheit kann weiter an ihrer Einigung arbeiten.

Doch dann tauchen fremde Raumschiffe auf – es sind die Sitarakh. Ihre Übermacht ist erdrückend, ihre Technik weit überlegen. Immerhin entkommt Perry Rhodan mit vielen Mitstreitern ins All; er sucht Beistand gegen die Invasoren.

Ishy Matsu und Tuire Sitareh haben entdeckt, wer die Sitarakh befehligt – und geraten auf der Flucht in Raumnot. Hilflos treiben sie auf Terra zu. Da erinnert sich Tuire an seine Vergangenheit; er berichtet von der RAUMZEIT-ROCHADE ...

Prolog

7. Juni 2051, zwischen Erde und Mond

Ishy Matsu

 

Was dir Angst macht, ist nicht das All selbst. Du bist Einsätze in Raumanzügen gewohnt.

Was dir Angst macht, ist auch nicht die allumfassende Schwärze. Jene samtene Dunkelheit, die wie ein Tuch wirkt, in das jemand mit einer Nadel Löcher gestochen hat. Die Sterne funkeln nicht, sie blicken stumm und starr und teilnahmslos. Sie sind desinteressiert an Unwichtigkeiten wie dir und dem Mann, der neben dir schwebt. Er ist noch immer besinnungslos, vielleicht gar ins Koma gefallen. Du weißt es nicht.

Aber auch das bereitet dir keine Furcht. Noch lebt ihr beide, was mehr ist, als du hoffen konntest. Auch wenn es nur ein dünner Faden ist, an dem euer Schicksal hängt.

Was dir Angst macht, ist die absolute Lautlosigkeit. Alles, was du hörst, sind dein eigener Atem, dein Schlucken und die Reste eines Schluchzens, das du gewaltsam zurückdrängst. Sobald du nämlich Tränen weinst, wird das Gebläse in deinem Helm anspringen, um die Feuchtigkeit zu vertreiben, doch das würde Energie verschwenden. Wenig nur, aber angesichts der fast leeren Energiereserven deines Anzugs zählt jedes winzige bisschen. Deswegen hast du sämtliche Helmanzeigen ausgeschaltet, willst sie nur aktivieren, wenn es unbedingt sein muss. Die vielen roten Lichter, die all die diversen Ausfälle anzeigen, willst du ohnehin nicht mehr sehen.

Eure Funkgeräte sind bei der Detonation durchgeschmort. In jenem Moment, als der Selbstzerstörungsmechanismus Masmer Tronkhs Beiboot zerfetzte. Auch die Antriebsmodule der Raumanzüge sind irreparabel beschädigt. Deine Positronik funktioniert noch rudimentär, aber sie ist ein zu großer Energieverbraucher. Du hast sie in den Tiefschlaf geschickt. Allein die Lebenserhaltungssysteme, Heizung, Sauerstoffversorgung, laufen – manuell gesteuert. Immer wieder sucht deine Hand den Einschaltkontakt für den Schutzschirm, den Panikknopf, wie du ihn getauft hast. Sobald lebensbedrohliche Strahlungswerte angemessen werden, willst du ihn drücken – selbst wenn das bedeutet, deine Energiereserven binnen kurzer Zeit zu erschöpfen. Dann funktioniert gar nichts mehr, und du wirst erfrieren, bevor du in der Lufthülle der Erde verglühst.

Immerhin hat deine Positronik zuvor eure Drift gemessen, eure Position trianguliert, euren Kurs und die Geschwindigkeit berechnet. Ihr rast in einem perfekten Vektor auf die Erde zu, schneller als jedes frühe Raumschiff der Menschheit. Euch droht das sichere, obgleich noch Stunden entfernte Verbrennen in der Atmosphäre!

Dir und Tuire Sitareh. Fast wünschst du dir, dass er bewusstlos bleibt und nicht miterleben muss, wenn es zu Ende geht.

Du fühlst, wie deine Lippen zittern, und presst sie zusammen.

Das Kabel, das eure beiden Anzüge verbindet, die Nabelschnur, wie sie die Raumfahrer nennen, ist sowohl Datenleitung als auch schallleitend. Durch sie weißt du, dass Tuire am Leben ist, noch atmet und unverletzt ist.

In regelmäßigen Abständen rufst du ihn. Bisher hat er nicht geantwortet. Der Schock, den er erlitten hat, muss gewaltig sein, denkst du. Und es war nicht eine Folge der Explosion, sondern der anschließende Schock, als ihn eine Welle der Erinnerung überkam. Kurz nachdem sie sich per Sicherheitsleine aneinandergekoppelt hatten.

Als würde ein starker Lichtfilter wirksam werden, hatte sich alles verdunkelt, was im All Licht aussendete oder reflektierte: die Sonne, die Erde, der Mond, das Nachglühen der zerstörten Beibootwrackteile.

Als die gewohnte Lichtstärke wieder einsetzte, war Tuire nicht mehr ansprechbar gewesen. Seitdem umgab dich die grässliche Lautlosigkeit.

»Wachen Sie auf, Tuire«, sagst du zum wiederholten Mal. Ohne große Hoffnung sprichst du, monoton, der Sinnlosigkeit deines Tuns gewiss.

»Ich bin wach, Ishy.«

Dir entfährt ein leiser Schrei. Tuire klammert sich an deinem Arm fest, als du ihn in deiner Freude anstößt und er sich zu drehen beginnt.

»Sachte«, hörst du ihn sagen. Die Stille ist nicht länger still. »Wie ist die Lage?«

Du berichtest, was du weißt. Seine Positronik ist völlig hinüber, er ruft die gespeicherten Werte der deinigen über das Verbindungskabel ab.

»Weniger als neunzehn Stunden«, fasst er zusammen. »Und die Selbstreparaturmodule streiken?«

»Bei Ihnen wie bei mir«, gibst du zurück.

Rasch schaltet auch er alle unnötigen Energieverbraucher ab.

»Möchten Sie reden, Ishy?«, fragt er. Sein Gesicht hinter der Helmscheibe liegt im Dunkeln.

»Ja«, antwortest du dankbar. »Schweigend überstehe ich die neunzehn Stunden nicht.«

»Oder ist es Ihnen lieber, wenn Sie meine Stimme hören?« Tiefes, grundlegendes Verständnis schwingt in seiner Stimme mit.

»Ja«, gibst du zu. Er weiß um deine Angst, du musst nichts erklären.

»Was möchten Sie wissen, Ishy?«

Du zuckst mit den Schultern, was in einem Raumanzug noch sinnloser ist, als zu nicken. »Sie hatten einen Erinnerungsschub, nicht wahr?«

»Den heftigsten seit Langem.«

»Das würde mich interessieren, Tuire.«

Er lacht leise. Er dreht den Helm, blickt eine Weile der näher rasenden Erde entgegen. Dann wendet er sich dir wieder zu. »Wir haben Zeit. Und kaum etwas Besseres zu tun. Ich weiß nicht, was mich im Moment mehr verwundert ... die ungeheure Fülle der freigesetzten Erinnerungen ... oder vielmehr das, woran ich mich wieder erinnern kann ... Es wird guttun, davon zu erzählen.«

Du siehst, wie er einen Datenstick hervorkramt und in eine Nische auf seiner Brust einsetzt. Die für Notfälle gedachte, rein elektronische Aufzeichnung ist etwas, das kaum Energie verschlingt.

»Die Detonation vorhin war wie ein Déjà-vu«, beginnt er. »Auch damals trieb ich hilflos im All ...«

1.

1864, nahe Redwood, Mississippi

Billy Ray Dawson

 

Anfänglich sahen etwaige Beobachter vermutlich nicht viel mehr als eine braune Staubwolke, die allmählich von Osten heranquoll. Der unentwegte Wind zerrte an ihr und wehte dichte, nach oben ausfasernde Schleier zur Seite. Die Windstöße entblößten dunklere Punkte im Innern der Wolke.

Reiter erwuchsen aus dem Staub der Savanne, als wären sie ausgetrocknete Ausgeburten des vibrierenden Bodens selbst – rötlich braune Gestalten, die Kleider und Gesichter sowie das Fell ihrer Pferde dick bedeckt mit jener fein geriebenen Mischung aus hart gebackenem Schlamm und freigewaschenem Lehm, die das Ufer des großen Stroms säumte.

Zehn Reiter bildeten einen ungeordneten Haufen. Ein Elfter ritt vorweg. Er hielt sich auffallend aufrecht, saß stramm wie ein Offizier im Sattel. Als er die ersten Dächer aus der Steppe vor sich auftauchen sah, zügelte er sein Pferd. Gebieterisch hob er die Hand.

Der Trupp stoppte unverzüglich. Die Reiter zogen sich eine Pferdelänge hinter ihm auseinander zu einer Reihe. Wie antretende Kavalleristen, nur dass keiner eine Uniform trug.

»Ist es das, Billy?«, fragte einer, der kaum achtzehn Jahre alt sein konnte. Er spuckte aus und lenkte sein Pferd neben das des Anführers.

»Zweifelst du etwa daran?« Billy Ray Dawson warf ihm einen strengen Blick zu. »Oder zweifelst du gar an mir, Cobe? Natürlich ist das Redwood.«

Cobe richtete sich in den Steigbügeln auf, um überhaupt etwas zu erkennen.

Er war schmaler und kleiner als der acht Jahre ältere Dawson. Er hatte Nagezähne wie ein Eichhörnchen und ein ebenso nervöses Gehabe. Mit dem Colt indes war er flink, manchmal zu flink. Das hatte ihn erst mit der Südstaatenarmee, dann mit dem Gesetz jenseits der Front in Konflikt gebracht und am Ende in Dawsons Bande gespült.

Die meisten der elf Reiter waren so blutjung wie Cobe, zwei sogar erst vierzehn. Nur der entflohene Schwarze Jacob war wie Dawson über zwanzig. Nach seiner Flucht hatte er sich ein paar Monate mit den berüchtigten Flusspiraten des Mississippi eingelassen, ehe er sich vor einem Jahr Dawson angeschlossen hatte.

»Ist ja kaum was zu sehen von dem Kaff.« Cobe spuckte abermals aus und tastete nach einem neuen Pfriem Kautabak. Seine Zähne waren gelber als eine Zitrone. »Nur ein paar Dächer, mein ich. Könnte alles Mögliche sein, oder?«

Dawson überging den Einwand. Er zeigte von Süden nach Norden. »Ganz links, das ist der Armeeposten. Den umreiten wir von Norden her. Das große Gebäude dahinter, der Steinklotz, ist die Bank. Gibt nur eine Straße. Ein paar Geschäfte. Ganz rechts, das windschiefe Bretterding, ist die Kirche.«

»Heilige Mutter Gottes«, murmelte Jacob. Der entflohene Sklave war keineswegs fromm, er hatte nur ungeheuren Respekt vor Predigern und Totengräbern.

Gut für uns und gut für ihn, dass die Soldaten Blau tragen, dachte Dawson.

»Gibt's einen Sheriff?«, wollte Cobe wissen.

Dawson nickte. Sein Hut, in dessen Krempe ein v-förmiger Zacken fehlte, verlor einen Schwaden lehmbraunen Staub. »Als ich vor drei Wochen da war, gab's noch einen. Ex-Soldat, lahmt auf einem Bein. Und ist uralt, bestimmt schon vierzig.«

Cobe feixte. Er nestelte an seinem Revolver. »Einundvierzig wird er wohl nicht mehr, nehm ich mal an.«

Dawsons Hand fuhr ihm in den Arm. »Der Mann ist nicht unser Ziel, du Hitzkopf!«, schnauzte er ihn an. »Wir haben es auf die Soldkasse abgesehen. Als andere ist nebensächlich, verstanden?«

Cobe bejahte stumm. Dann sagte er einlenkend: »Schon gut, Lieutenant, hab's begriffen.«

»Gut.« Dawson, der vor seiner Desertion Leutnant der Konföderiertenarmee gewesen war, zog die Hand zurück. Sein grauer, inzwischen dreckspeckiger Hut war das letzte Überbleibsel seiner einstigen Uniform. Doch sein Offiziersgehabe hatte er beibehalten – die anderen stellten seine Autorität nicht infrage.

»Wann kommt der Tross durch, Billy?«, wollte Harry Winterkorn wissen, der jüngste der Bande.

»Gegen Mittag«, antwortete Dawson. »Vielleicht etwas später, aber nicht viel.«

Der deutschstämmige Waisenjunge war klüger als alle anderen in der Bande, von Dawson einmal abgesehen. Er konnte als Einziger neben dem Anführer sogar lesen und schreiben. Wäre er nicht so jung gewesen, hätte Dawson ihn längst zu seinem zweiten Mann gemacht. So aber hielt Cobe diesen Platz inne – vermutlich aber nicht mehr allzu lange. Entweder brachte ihn sein Übereifer an der Waffe zu Fall oder Harry würde ihm binnen weniger Jahre den Rang ablaufen.

Sofern, dachte Dawson, es einer von uns tatsächlich über die nächsten Jahre schafft.

Sicher war das nicht. Sobald der Krieg vorbei war, würde man die Bande nachdrücklicher jagen als bisher, da gab sich Dawson keinen Illusionen hin. Er hatte von der Pinkerton-Agentur gehört. Das waren Leute, die niemand Geringeren als Präsident Abraham Lincoln vor drei Jahren vor einem Mordanschlag bewahrt hatten. Gerüchteweise bereiteten die Detektive Strafzüge gegen das Bandenunwesen im Westen vor.

Dawson hatte nicht vor, auf deren Eintreffen zu warten. Bis dahin wollte er sich längst zur Ruhe gesetzt haben. Irgendwo im Norden. Vom Süden hatte er die Nase voll.

Umso wichtiger war das Gelingen des vor ihnen liegenden Coups. Die prall gefüllte Soldkasse der Unionsarmee, unterwegs nach Vicksburg zu General Osterhaus, würde in Kürze Redwood passieren. Das wusste Dawson aus verlässlicher Quelle.

Er beschattete seine Augen und blickte zur Sonne hinauf. Kurz vor Mittag. Es wurde Zeit zum Weiterreiten. Die Jungs mussten sich ausruhen, die Pferde zu Atem kommen und getränkt werden, um Kraft zu sammeln für die Flucht. Sie waren seit dem Morgengrauen geritten. Und er musste jedem seine Position und seine jeweilige Aufgabe erklären. Es gab mehr als genug zu tun, bevor der Soldatentross eintraf.

»In Zweierreihe – marsch!«, befahl er.

Die vorherige Unordnung war schlagartig vergessen. Diszipliniert sammelte sich die Bande hinter Dawson und ritt einen nördlichen Bogen um die Siedlung herum, bis die Männer die Straße erreichten, einen ausgefahrenen Karrenweg.

 

Es war genau Mittag, als sie in Redwood einritten.

Sie schwärmten aus, kaum dass sie die Kirche passiert hatten. Harry blieb mit einem der Jüngeren zurück. Sie sollten vom Holzturm der kleinen Kirche herab Ausschau halten.

Dawson ritt voran, scheinbar in Gedanken und als achte er nicht auf die anderen. Nachdem er vor einer Tränke anhielt, sammelten sich die anderen nach und nach ebenfalls dort und banden ihre Pferde an, strebten aber sofort wieder auseinander. Bedächtig bezogen sie ihre Posten, nahmen Deckung entlang der Straße. Nur Armand, der Franzose, den alle Army nannten, und der baumlange Lester blieben bei den Pferden. Sie hatten die freundlichsten Gesichter von allen und führten eine Scharade auf – sie taten so, als bewunderten sie gegenseitig ihre neuen Gewehre. Harmlose Jugendliche, die einander zu übertrumpfen versuchten.

Alle in der Bande waren gut bis sehr gut bewaffnet – bei den vorangegangenen Überfällen hatte Dawson darauf geachtet, nicht nur Gelder und Schmuck, sondern auch gute Schusswaffen zu erbeuten. So war Dawson an seinen neuartigen Smith & Wesson Kipprevolver gekommen. Seinen früheren, fast zwei Kilogramm schweren Armeecolt hatte er daraufhin Cobe vermacht. Zudem hatte Dawson jeden seiner Männer mit Spencergewehren ausgestattet, die aus einem halb verbrannten Armeedepot stammten. Die schweren Kaliber würden mit ihren 52er-Patronen alles zur Seite fegen, was sich ihnen in den Weg zu stellen wagte. Am wichtigsten war Dawson die einheitliche Munition gewesen. So konnte jeder seinen Kameraden aushelfen, wenn deren Kugelvorrat zur Neige ging.

Dawson stellte fest, dass mittlerweile jeder auf seinem Posten war. Zur Straße hin abgeschirmt, mit gutem Schussfeld aus dieser Deckung heraus. Der Ort ringsum wirkte wie ausgestorben, doch selbstverständlich war er es nicht. Mütter hatten die wenigen Kinder hereingeholt. Verhaltene Bewegungen hinter den Fenstern verrieten, wohin sich die Bewohner begeben hatten. Der Sheriff ließ sich nicht blicken. Vorhänge wurden zugezogen.

Dawson begab sich zu den beiden feixenden Jungs bei den Pferden. »Schafft unsere Tiere von der Straße«, sagte er im Vorbeigehen. »Brecht den Mietstall auf, wenn nötig.«

Army und Lester salutierten so lässig, dass es jedem echten Soldaten eine Schande gewesen wäre.

Dawson grinste, dann winkte er Cobe und Jacob, ihm auf der anderen Straßenseite zu folgen. Er selbst schlenderte allein in Richtung Bank, aber sie war nicht sein Ziel. Er wusste, in diesen Tagen war dort nichts zu holen.

Als er das große Gebäude erreichte, verschmolz er mit dem Schatten des Mauerwerks. Jenseits davon verließ er Redwood und näherte sich dem hundert Schritt außerhalb gelegenen, winzigen Armeeposten.

Die Stellung war nicht mehr als ein Kontrollpunkt, ein quaderförmiges Lehmgebäude mit flachem Dach. Hierher wurden Nachrichten gesandt und per Schnellreiter weiterexpediert. Ein Korral hinter dem Haus enthielt drei ausgeruht aussehende Pferde. Auf dem Dach stand ein erst halb erbauter, hölzerner Signalmast. Anstelle der ausklappbaren Holzarme wehte die zerfranste Unionsflagge daran.

Es ging blitzschnell. Und nahezu lautlos. Die drei Soldaten saßen drinnen beim Mittagstisch und starrten verständnislos in die Läufe der Revolver, die sich ihnen entgegenstreckten. Wenig später lagen sie gefesselt und lediglich mit ihrer Unterwäsche bekleidet auf dem Dielenboden.

Die drei Outlaws aber kamen uniformiert wieder aus dem Lehmgebäude hervor: ein Korporal und zwei einfache Soldaten. Sie sattelten die Armeepferde und kehrten beritten die kurze Strecke nach Redwood zurück.

Ihre Aufgabe würde darin bestehen, die Soldkutsche und den begleitenden Tross zum Stehen zu bringen, falls dessen kommandierender Offizier beabsichtigte, Redwood ohne Halt zu passieren.

Als sie die Soldatenpferde vor der Bank anbanden, bemerkte Cobe eine Frau, die sich aus einem der Häuser stahl und sich sichtlich Mühe gab, nicht von den überall verteilten Jugendlichen bemerkt zu werden. Als sie die drei »Soldaten« entdeckte, blieb sie verwundert stehen und kam dann mit wehenden Rockschößen auf sie zu.

Sie erstarrte, als sie die zusammengeschnürten Kleiderbündel an den Sätteln baumeln sah. Am Knauf des einen hing Dawsons schartiger Hut.

Ihr Blick verriet sie. Dawson hatte solche Blicke schon zur Genüge gesehen. Die Frau hatte ihn zweifellos erkannt. Er gab seinen Begleitern ein stummes Zeichen. Cobe und Jacob packten sie an den Armen.

»Wer sind Sie, Ma'am?«, fragte Dawson ungerührt. »Ich kann deutlich sehen, dass Sie meinen Namen sehr wohl schon gehört haben.«

»Mir gehört das Restaurant am Ort. Mein Name ist Kitty ...«

»Mir gefällt Ihre Gastfreundschaft, Miss Kitty. Gehen wir doch in Ihr Lokal. Wir sind sicher eingeladen?«

Sie querten die Straße. Kitty ging notgedrungen mit.

Das Restaurant war leer – bis auf einen zurückgerückten Stuhl an einem Tisch am Fenster, vor dem noch ein benutzter Essensteller und ein leeres Glas standen.

»Wo wollten Sie denn hin, Miss Kitty?«

Die Frau wurde rot im Gesicht; ein Hautton, der sich mit der ebenfalls rötlichen Farbe ihres Haares biss. Sie stampfte mit dem Fuß auf und funkelte Dawson wütend an.

Sie muss in jungen Jahren recht ansehnlich gewesen sein, dachte er. Dann zuckte er mit den Schultern. Er machte sich nichts aus älteren Frauen, deren Haar rundum ergraute und deren Hüften breit wurden wie Pferdehintern.

Er winkte ab. Vermutlich hatte sie aus schierer Angst den Ort verlassen wollen, nachdem sie erkannt hatte, wer da in Redwood eingeritten war. Es spielte keine Rolle.

»Wer war das?«, fragte er übergangslos und deutete mit dem Kinn auf die Essensreste.

»Ein Fremder auf der Durchreise«, antwortete Kitty. »Seinen Namen hat er nicht genannt.«

»Wie sah er aus?«

»Groß und stattlich. Auffallend sauber. Keine Flicken an den Kleidern. Und seine Waffen glänzten, als kämen sie neu aus dem Laden.«

»War er beritten? Wir haben keinen Reiter bemerkt.«

Weil sie nicht gleich antwortete, verdrehte Cobe ihr den Arm. Kitty schnaubte vor Schmerzen. »Sein Rotschimmel stand draußen neben dem Haus: Mehr weiß ich nicht ...«, stieß sie aus.

»Lasst sie los«, sagte Dawson. »Niemand soll sagen, dass wir uns an Frauen vergreifen.« Jedenfalls nicht an ältlichen Vetteln.

Sie traten wieder ins Freie und gingen um die Hausecke. Sie fanden Hufeindrücke, tief und offenbar von einem sehr schweren Tier stammend.

Der entflohene Sklave bückte sich nieder. »Muss 'n ziemlich schamhaftes Pferd besitzen, der Mann«, erkannte Jacob. »Es stand hier 'ne Weile rum. Aber ...«

»Und?« Dawson nickte ihm aufmunternd zu. Jacob kannte sich mit Tieren am besten aus, er hatte auf einer Plantage im Süden gearbeitet.

»Hat nix gefressen. Und nix fallen lassen. Keine Pferdeäpfel, Billy. Eigenartig.«

Dawson kratzte sich unter der zu eng sitzenden Korporalsmütze.

»Ist vermutlich einerlei«, murmelte er. »Der Mann ist nicht unser Bier. Wer immer er war.«

Cobes Augen begannen zu leuchten. »Wo du davon sprichst, Bier meine ich ...« Er deutete vielsagend zum Restaurant zurück.

Dawson packte ihn derb an der Hemdbrust. »Nichts da! Gefeiert wird hinterher. Sehe ich auch nur einen von euch, der ein Bierchen zischt, dann war es sein Letztes, das schwör' ich! – Und jetzt Schluss damit. Geht und prüft die Stellungen der anderen! Dann findet euch sofort wieder bei mir ein!«

Kaum zehn Minuten später war es so weit. Harry Winterkorn winkte aus der Höhe des hölzernen Kirchturms herab. Der Tross mit der seit Langem überfälligen und in Vicksburg sehnsüchtig erwarteten Soldkasse nahte.

Auch wir haben lange gewartet, dachte Dawson.

Er, Cobe und Jacob erhoben sich von den Fässern, auf denen sie gesessen hatten, und traten in die Mitte der Straße. Drei Soldaten – Blauröcke, die auf ihre Kameraden warteten.

Hufgetrappel und Räderknirschen erfüllte plötzlich die Luft. Das Rumoren drang von Norden her bebend die Straße herab.

Dann sahen sie es blitzen – eine polierte Schnalle, der Säbel des Captains vielleicht, umwölkt vom unvermeidlich aufwirbelnden Staub.

Dawson schaltete alle anderen Gedanken aus und straffte sich. Er trat vor und hob die Hand.

»Schwadron – haaaalt!«, hörten sie es vom Vorreiter rufen. Der Tross kam schnaubend und klirrend zum Stehen.

»Machen Sie Meldung, Korporal!«, wurde Dawson angeschrien.

Dawson salutierte stramm. Das war das verabredete Zeichen an seine Männer.

Es ging los.

2.

1649, Hathorsystem

Tuire Sitareh

 

Das war ja wohl, krähte es in Tuire Sitarehs Bewusstsein auf, ein kompletter Reinfall!

Tuire starrte auf das hinter ihm zugeschlagene Schott. Ein mannsbreiter Riss zog sich links davon quer durch die Wand, gewiss vierzig Meter lang bis zum anderen Ende der Galerie. Er blickte über zerrissene Grate in den freien Weltraum hinaus, hinweg über die sternförmigen Ausläufer der Station.

Grelles Licht blendete ihn. Es war Hathor, der Hauptstern des Systems. Dass Hathors weißes Leuchten ihn überhaupt blenden konnte, verhieß nichts Gutes über den Gesamtzustand seines ramponierten Raumanzugs. Die Filter hätten sich automatisch aktivieren müssen.

Tuire ignorierte Thaynar. Er warf sich herum und lief die Galerie entlang.

Längst gab es keine Atmosphäre mehr in diesem Sektor der einstigen liduurischen Raumstation CHNU. Immerhin funktionierten die Riegel der Sicherheitsschotten, die vor ihm und hinter ihm zugefallen waren, auch nach über 52.000 Jahren noch. Das hielt die Chnunuhs auf. Andere Sektoren waren deshalb nicht vom Druckverlust betroffen – noch nicht. Den verrückten Chnunuhs war alles zuzutrauen ...

Ob seine Verfolger wirklich so hießen, bezweifelte Tuire. Er selbst hatte ihnen diesen Namen gegeben: Chnunuh, die Jäger von Chnu. Sie waren ihm seit Stunden auf den Fersen. Kaum dass er den Auftrag erfüllt und das Störfeld wie gewünscht initiiert hatte, waren sie aufgetaucht: drei Meter lange Schlangenwesen mit blitzschnellen Bewegungen, die nicht nur aggressiv auf seine Anwesenheit reagierten, sondern obendrein organische Lichtwerfer waren. Ihre langen, blauen Zungen »verschossen« kaltblaue, fingerlange Blitze, die dort, wo sie einschlugen, Metall zum Schmelzen brachten und zweifellos tödlich waren. Wie lange das Schott sie aufhielt, wusste Tuire nicht einzuschätzen. Aber eines wusste er genau: Kleinere Vakuumzonen wie die aufgerissene Galerie vermochten die Wesen unbeschadet zu durchqueren.

Im Geiste sah Tuire einen erbost flatternden Raben, dessen spitzer Schnabel drohte. Warum bist du bloß nach links gerannt, obwohl ich rechts gesagt habe?, krächzte Thaynar.

»Vielleicht weil du es gesagt hast?«, versetzte Tuire.

Im nächsten Moment verdrängte er das quälende Zweitbewusstsein. Er erkannte eine weitere Gefahr. Zunächst nur als aufschimmernden Schemen, dann im vollen Licht Hathors. Von rechts kommend, sah er einen wirbelnden und grotesk verbogenen Stahlträger, der von draußen auf exakt jene Galerie zuschoss, in der er sich augenblicklich aufhielt.

Explosionsschrott vermutlich, der von einer der vorangegangenen Detonationen ins All gerissen und durch die Schwerkraft der riesigen CHNU-Station erneut eingefangen worden war.

Sein Schutzschirm hatte nur noch eine Kapazität von sieben Prozent. Der Prallfeldmodus war ohnehin hinüber, und das bisschen Restenergie reichte vielleicht zum Abfangen von einem oder höchstens zwei Lichtgeschossen der Chnunuhs.

Eventuell vorhandene Einrichtungen, die einsprangen, sobald es zu einem Leck in der Außenhülle von CHNU kam, funktionierten nicht mehr.

Er riss den fast leeren Impulsstrahler aus dem Futteral und gab eine schnelle Folge von Schüssen auf das trudelnde Schrottteil ab. Die thermische Wirkung zählte hier nicht, nur die kinetische. Das erhoffte Resultat trat beinahe zu spät ein – doch der Stahlträger erhielt einen Impuls, der seine Flugbahn nach oben abfälschte. Als der Aufprall unmittelbar danach irgendwo oberhalb der Galerie erfolgte, rissen die Kollisionsvibrationen Tuire von den Füßen. Sofort rappelte er sich auf und hastete weiter.

Hinter dem nächsten Schott, jenseits der Galerie, lag eine Wartungsbucht. Dort hatte er sein kleines Schiff geparkt. Das Schott verweigerte den Öffnungsbefehl.

»Also den Umweg durch den Riss«, sagte Tuire im Selbstgespräch.

Die Detonation erfolgte ansatzlos, ohne Vorwarnung.

Tuire wurde mitsamt der Wand, wo der besagte Riss klaffte, ins All geschleudert. Nur sein fast erloschener Schutzschirm rettete ihm mit letztem Aufwallen das Leben. In einer Wolke aus flirrenden Metallteilen wirbelte Tuire fort, sah die Buckelgestalt von CHNU mit den kreisförmig darum angeordneten Auslegern wild um sich kreisen. Feuerzungen erstarben so schnell, wie das Vakuum sie ersticken konnte. Ein großer Schatten löste sich von der Außenhaut der CHNU-Station und wirbelte ebenfalls davon, schneller als der Stahlträger zuvor.

Ein naher Meiler ist durchgegangen!, schrie Thaynar.

Tuire erkannte in dem Schemen sein kleines Schiff, jäh entzweigerissen, nur noch durch letzte Kabelbündel aneinandergebunden, fortgeschleudert, mit einem Schlag unbrauchbar gemacht.

Er sah seine einzige Rettungsmöglichkeit im Dunkel des Alls verschwinden.

Reflexhaft überprüfte er seine Systeme. Antrieb – tot. Ortung – tot. Kommunikation – tot. Schutzschirm – tot. Lebenserhaltung, also Sauerstoff, Heizung, Medoversorgung – so gut wie tot.

Ihm blieben nur noch wenige Minuten.

»Das war es also, ja?«, brüllte Tuire, wütend über sich selbst, wütend über die Mission, wütend über die Chnunuhs.

Er erhielt keine Antwort. Nicht sofort.

Hor Chnu, die zweite Sonne des Hathorsystems, schob sich mit jeder Drehung Tuires weiter über die Kante der gigantischen Raumstation, als wolle der Weiße Zwerg persönlich mitverfolgen, wie es mit Tuire Sitareh zu Ende ging.

Ich habe rechts gesagt!, krächzte Thaynar plötzlich noch gehässiger als sonst. Aber du – du wusstest es ja mal wieder besser.

Tuire fühlte weder, dass Traktorstrahlen ihn erfassten und sein Umherwirbeln beruhigten, noch, dass er aus dem Trümmerregenfeld herausgezogen wurde. Für einen Moment bemerkte er das fremde Raumschiff – es war größer als sein zerstörtes. Er sah keinen Ringwulst oder sonstige vorstehende Triebwerksmerkmale, nur eine stählerne, glatte, goldfarbene Hülle, die der Form eines Vogeleies glich. Seine Sinne schwanden.

Als er wieder erwachte, ruhte er auf einer Liege. Sein Raumanzug war fort, er trug einen grauen, einteiligen Anzug, der nur die Hände und den Kopf freiließ. Ein humanoides Männergesicht beugte sich über ihn. Tuire gewahrte sandfarbenes Haar und blaugrüne Augen. Perlmuttweiße Zähne lächelten ihm aufmunternd zu. Der Fremde war hochgewachsen, auffallend schlank und schien auf verwirrende Weise alterslos zu sein – er hätte ebenso gut in der Mitte seines Lebens stehen können wie am vorgerückten Ende. Es gab keine Merkmale, die eine verlässliche Schätzung erlaubten.

»Das war wohl Rettung in letzter Minute«, sagte Tuire auf Liduurisch, der Sprache, in der er während der zurückliegenden Mission am häufigsten hatte denken müssen.

»Es war exakt die richtige Minute«, erwiderte der Mann in derselben Sprache. »Die mir vorgegebene Minute, um es zu präzisieren. Ich pflege meine Weisungen genauestens einzuhalten.«

Die sandfarbenen Haare schimmerten im Licht, als der Mann sich umdrehte und Gerätschaften ausschaltete, deren Zweck sich Tuire nicht erschloss.

»Wem verdanke ich mein Leben?«, fragte Tuire.

»Ich bin Homunk«, antwortete der Mann. »Aber du verdankst dein Leben meiner Herrin. Sie schickte mich. Ich bin nur die Hand, die ihren Willen umsetzt.«

Nun erkannte Tuire, dass auch der Fremde einen Anzug trug, ganz ähnlich seinem eigenen: eine den ganzen Körper umschließende, eng anliegende Montur, die nur die Hände und den Kopf frei ließ. Selbst die Füße wurden davon umschlungen, zwar mit Sohlen verstärkt, doch ohne jede Naht.

»Ehe du fragst«, fuhr Homunk fort, »du kennst sie. Du stehst selbst in ihren Diensten.«

Tuire richtete sich überrascht auf. »Das Geisteswesen? JENE schickt dich?«

»Ich nenne sie ES«, erwiderte Homunk. Er erlaubte sich ein feines Lächeln. »Es gefällt ES besser, nicht zuordenbar zu sein.«

»Wohin wirst du mich bringen?«

Das Lächeln vertiefte sich. »Wir sind fast da. Du hast lange geschlafen. Soeben landet das Botenschiff auf Wanderer. Bist du bereit, Aulore? ES wünscht dich zu sprechen. Sie heißt dich durch mich willkommen.«

Maschinenstadt