Christian von Aster

ZOMBIGIDA

Abendspaziergang am Rande der Apokalypse

Klett-Cotta

Impressum

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Tropen

www.tropen.de

© 2016 by J. G. Cottasche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Cover: Roland Sazinger, Stuttgart

ISBN 978-3-608-10071-6

Dieses E-Book ist eine deutsche Originalausgabe und nur in digitaler Form erhältlich.

Auf einer Skala von eins bis zehn hätten Maiks Kopfschmerzen eine veritable Elf erreicht.

Als er jetzt die Augen aufschlug, stellte er zweierlei fest: Zum einen, dass er sich in Tims Wohnzimmer befand. Zum anderen, dass er nie wieder an einer K-.o.-Tropfen-Verkostung teilnehmen würde. Sein letztes versehentlich durchgefeiertes Wochenende war lange her. Langsam hob er seinen brummenden Schädel und blickte sich um. Während er selbst längs vor dem Couchtisch lag, hatte Juri es zumindest bis zum Sofa geschafft. Tims Beine ragten aus der Toilette in den Flur. Die Stellung seiner Füße ließ vermuten, dass er neben der Kloschüssel eingeschlafen war.

Diese verdammten Tropfen. Maik und seine Freunde nutzten das Zeug nicht bloß als Kennenlernbeschleuniger, wie Tim sich auszudrücken pflegte, sondern auch zum bargeldlosen Erwerb von Mobiltelefonen und Kameras. Das Schwierigste war die Dosierung, bei der grundsätzlich Körpergewicht, Grundkonstitution und Basisalkoholpegel der Zielperson berücksichtigt werden mussten. Und eben das machte das Ganze zur Kunst. Vor allem wenn man als Verabreichender darum bemüht war, es seinen Opfern nicht unangenehmer als nötig zu machen. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen alles Zwischenmenschliche bereits so weit gelitten hatte, dass es schon als romantisch galt, wenn man zu den K.-o.-Tropfen noch ein Schirmchen ins Glas steckte. Um der Verrohung der Gesellschaft – gerade im K.-o.-Tropfen-Gewerbe – entgegenzuwirken, trafen Maik und seine Kumpel sich regelmäßig in dem Bestreben, verschiedene Faktoren von Geschmack bis Nebenwirkung zu optimieren. Bei mehr als hundert potentiellen Wirkstoffen, wie sie im Rahmen der Erlebnisnarkotisierung zum Einsatz kommen konnten, ergab sich daraus ein für Laien irritierend weites Feld. Um dieses zu erforschen, probierten sie, sobald Maik aus Berlin ankam, in der Regel zunächst eine neue Mischung und verloren dann gesellig das Bewusstsein, um ein paar Stunden später nach Abklingen der Wirkung und Notieren ihrer ersten Eindrücke die nächste Mischung zu testen.

Doch nun musste Maik erkennen, dass dieses Mal irgendwo zwischen Ketamin, Methyprylon und Temazepam offenbar Kopfschmerzen auf ihn gewartet hatten, wie er sie seinem schlimmsten Feind nicht gewünscht hätte. Nachdem er auf seinem zerknickten Wertungszettel bei der dritten Mischung zwei Kreuzchen im entsprechenden Kästchen gemacht hatte, warf er einen Blick auf seine neue G-Shock, die er sich unlängst bei einem Diskobesuch in Leipzig von einem Hip-Hopper ertropft hatte.

14:30 Uhr. Früher Nachmittag. Gut. Bis Berlin brauchte die Bahn keine drei Stunden, sodass er bis zum Abend problemlos wieder daheim sein, dazwischen das Pochen im Kopf loswerden und am Montag wieder entspannt Pakete ausfahren konnte. Sich aufrappelnd, stellte er beruhigt fest, dass er sich – was durchaus auch schon vorgekommen war – dieses Mal wenigstens nicht vollgepisst hatte. Eingedenk seiner eigenen Schmerzen betrachtete er mitleidig den quer über der Couch liegenden Juri. Dann griff er nach seiner Bomberjacke und wankte in den Flur hinüber, wo er vorsichtig über Tims Beine stieg und schließlich in die Küche abbog. Dort wollte er sich zunächst einmal einen Kaffee machen, um danach mit seinem Handy, das vergangene Woche auch noch jemand anderem gehört hatte, eine Zugfahrt zu buchen.

Kurz darauf verließ er Tims Wohnung allerdings fluchend und ohne seinen Kaffee überhaupt getrunken zu haben. Vor allem weil es sowohl seinem Mobiltelefon als auch der Bahn-App zufolge zwar tatsächlich 14:32 Uhr, zugleich aber nicht mehr Sonntag, sondern bereits Montag war.

Das Dosieren war eben wirklich eine Kunst.

Gustav Horngrimm fror, als er gegen 11:00 Uhr morgens, gebeugt und auf seinen Stock gestützt, den alten katholischen Friedhof in Dresden-Friedrichstadt betrat. Das letzte Mal, dass er so sehr gefroren hatte, war mindestens zwanzig Jahre her. Damals, als er und Helga in ihrer kleinen Berliner Zweizimmerwohnung kein Geld für Kohlen gehabt hatten. Inzwischen war es nur noch ein Zimmer, er wohnte allein und sammelte Flaschen, um seine karge Rente aufzubessern. Volle Flaschen, um genau zu sein. Und zwar von LKWs. Flaschen, die ihm von Leuten gereicht wurden, die sie später als Schadensware meldeten und im Gegenzug fünfzig Prozent von dem abbekamen, was man Horngrimm zahlte, wenn er sie irgendwo in Mitte in irgendeiner kleinen Berliner Hinterzimmerkaschemme an Barkeeper verkaufte, die er noch aus der Zeit kannte, als er mit Alkohol noch ein anderes Problem gehabt hatte. Nach der Sache mit Helga hatte er wirklich viel getrunken. Mehr, als gut gewesen war. Und dabei hätte er sich niemals träumen lassen, dass ihn der Alkohol, der ihn mit über siebzig Jahren beinahe in den Hades hinübergespült hätte, zehn Jahre später, als er längst trocken war, einmal über Wasser halten würde.

Horngrimm bereute all die Nächte zwischen Kneipe und Ausnüchterungszelle und wusste, dass er sie vielleicht besser mit seiner Frau hätte verbringen sollen. Nun aber war es dafür zu spät. Und aus diesem Grund kam er inzwischen jeden Monat an diesen Ort, der ihm für seine Trauer geblieben war. Früher hatte Erwin ihn immer nach Dresden gefahren. Im Anschluss an seinen Friedhofsbesuch waren sie meist gemeinsam über den Theaterplatz spaziert und dann am Ende zusammen wieder zurück nach Berlin gefahren. Doch Erwin war vergangenes Jahr gestorben. Kurz nach Walter. Und Heinrich. Bei dem Gedanken daran seufzte Horngrimm. Die Einschläge kamen näher. Inzwischen hörte er sie nicht mehr nur, sondern konnte bereits ihre Druckwellen spüren.

Seinen Stock immer wieder in den losen Kies rammend, schlenderte Horngrimm an den Gräbern vorbei und war im Nachhinein froh, dass er und Helga damals ihre gemeinsame Grabstätte hier erworben hatten. Auf diesem alten Friedhof in Dresden, der mit dem Auto lediglich drei Stunden von Berlin entfernt war. Wobei Erwin um einiges schneller als der Fernbus gewesen, aber vielleicht nicht zuletzt deswegen auch bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Im Zuge dessen erinnerte Horngrimm sich an einen Ausspruch Juan Manuel Fangios, eines argentinischen Rennfahrers: »Eines der besten Mittel gegen das Altwerden ist das Dösen am Steuer eines fahrenden Autos.«

Am Grab Carl Maria von Webers wandte Horngrimm sich nach links und trottete gebeugt zu jenem schmucklosen Stein hinüber, den er, um Geld zu sparen, vor Jahren zusammen mit Erwin selbst hergeschafft hatte. Inzwischen – und darüber ärgerte er sich wirklich – konnte man die Dinger bei grabstein24.de online bestellen. Für die Hälfte dessen, was er damals gezahlt hatte.

Nachdenklich betrachtete er den Stein, auf dem neben seinem auch Helgas Name stand. Er hätte gern gewusst, wie es ihr gerade ging. Jetzt, in diesem Moment. Aber seit sie zurück nach Hamburg gezogen war, hatten sie keinen Kontakt mehr. Weil sie es so wollte. Und er ein Idiot gewesen war.

Alles, was ihm geblieben war, war dieser Grabstein, den sie sich ursprünglich angeschafft hatten, um irgendwann einmal gemeinsam darunterzuliegen. Und vor ebendiesem Stein trauerte Gustav Horngrimm seit Jahren allmonatlich um das, was aus ihrer Ehe hätte werden können. Wenn er weniger ignorant, sie weniger konsequent, die anderen Frauen etwas keuscher und insgesamt alles ein wenig anders gewesen wäre.

Umständlich zog er die Blumen aus dem bunten Papier. Gelb-rote Dahlien. Lieblingsblumen. Seine. Nicht ihre. Er wollte es mit der Trauer schließlich auch nicht übertreiben.