Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Die Originalausgabe erschien 1962 unter dem Titel Le piccole virtù bei Giulio Einaudi Editore in Turin.

E-Book Ausgabe 2016

© 1962 Giulio Einaudi Editore, Torino

© 1989, 1996, 2001, 2016 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emserstr. 40/​41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Groothuis & Consorten / ​Denise Sterr unter Verwendung des Bildes Gli Scolari von Felice Casorati © VG Bildkunst, Bonn 2016.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 978 3 8031 4211 5

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 3283 3

www.wagenbach.de

ITALIEN: LAND UND LEUTE

Leonardo Sciascia   Mein Sizilien

In seinen wunderbaren Miniaturen über »das Sizilianische« kritisiert Leonardo Sciascia seine Insel und verehrt sie zugleich, wie es sich für einen wahren Liebhaber gehört.

Aus dem Italienischen von Martina Kempter und Sigrid Vagt. SALTO. Rotes Leinen, 144 Seiten mit vielen Fotos

Friederike Hausmann   Garibaldi

Die Geschichte eines Abenteurers, der Italien zur Einheit verhalf

Giuseppe Garibaldi ist bis heute eine der faszinierendsten Gestalten des Risorgimento, der Bewegung für die Einheit Italiens. Die Biographie des Freiheitskämpfers, Abenteurers und Frauenhelden ist zugleich eine Geschichte Italiens im 19. Jahrhundert.

WAT 335. 200 Seiten mit vielen Abbildungen

Friederike Hausmann   Kleine Geschichte Italiens

Von 1943 bis zur Ära nach Berlusconi

Eine nach den Wahlen im April 2006 wiederum aktualisierte und erweiterte Ausgabe des inzwischen zum Standardwerk gewordenen Buches.

WAT 550. 256 Seiten mit vielen Abbildungen

Alice Vollenweider   Italiens Provinzen und ihre Küche

Eine Reise und 88 Rezepte

Eine Reise durch Italien und seine höchst verschiedenen regionalen Küchen mit vielen Rezepten und anderen nützlichen Hinweisen auf Leute, Orte, Unterhaltungen. Von einer großen Kennerin der heutigen italienischen Schriftsteller und Kochtöpfe.

SALTO. Rotes Leinen, 160 Seiten mit vielen Bildern

Mailand – Eine literarische Einladung

Mailand ist die einzige Metropole Italiens – eine moderne Großstadt, mit dem berühmten Teatro alla Scala, dem Dom, der Mode, dem Möbel-Design, Museen, Verlagen, Campari & Aperol … und einer überaus lebendigen Literatur, die Henning Klüver zu einem vielteiligen Kaleidoskop komponiert hat.

Herausgegeben von Henning Klüver

SALTO. Rotes Leinen, 144 Seite

LITERATUR AUS ITALIEN

Giorgio Bassani   Die Brille mit dem Goldrand

Ein genau gezeichnetes Portrait der guten Gesellschaft und wie sie ihr Fähnchen in den Wind hängt.

Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter

WAT 700. 112 Seiten. Auch als E-Book erhältlich

Michela Murgia   Accabadora

Eine Geschichte über Mutter und Tochter, wie sie noch nie erzählt worden ist. Ein Roman, in dem das archaische und das moderne Italien aufeinandertreffen.

Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

Quartbuch. 176 Seiten. Als E-Book verfügbar

Stefano Benni   Von allen Reichtümern

Lebensweisheit und Witz, zarteste Poesie und giftender Sarkasmus, Klugheit und überbordende Erzählfreude: Der italienische Literaturstar Stefano Benni in Höchstform!

Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter

Quartbuch. 224 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag.

Auch als E-Book verfügbar

Luigi Malerba   Die nackten Masken

Spiele der Macht und Leidenschaft in Rom: Nach dem Tode Leo X. wird ein asketischer Flame zum Nachfolger. Die freizügige, lebenslustige römische Gesellschaft stürzt ins Chaos. Dieser historische Roman hat Malerba in Deutschland bekannt gemacht.

Aus dem Italienischen von Iris Schnebel-Kaschnitz

WAT 565. 288 Seiten

Auch als E-Book verfügbar

SPANNUNG AUS ITALIEN

Andrea Camilleri   Die Mühlen des Herrn

Die Mühlen des Herrn mahlen langsam. Und ein gewisser sizilianischer Mafioso, der sich an den Mühlen bereichert hat, gerät in arge Bedrängnis.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

WAT 638. 240 Seiten. Als E-Book erhältlich

Andrea Camilleri   Die Ermittlungen des Commissario Collura

Acht Kriminalgeschichten

Commissario Cecé Collura muss als Bordkommissar die wunderlichsten Fälle lösen. Ein sehr vergnügliches Buch über seltsame Gäste auf einem großen Schiff.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

WAT 476. 96 Seiten. Auch als E-Book erhältlich

Leonardo Sciascia   Jedem das Seine

Ein sizilianischer Kriminalroman

Niemand hat etwas gesehen, am Ende wussten aber alle Bescheid: Mord und Korruption, ein meisterhaftes Gesellschaftsbild und ein spannender Kriminalroman aus Sizilien vom Großmeister der Mafia-Romane.

Aus dem Italienischen von Arianna Giachi

WAT 687. 144 Seiten. Auch als E-Book erhältlich

Leonardo Sciascia   Tag der Eule

Ein sizilianischer Kriminalroman

Sciascias erster und berühmtester Mafia-Roman: Kann Capitano Bellodi den Mord an einem sizilianischen Kleinunternehmer aufklären? Wer hat ihn begangen? Wer steckt dahinter?

Aus dem Italienischen von Arianna Giachi

WAT 619. 144 Seiten. Auch als E-Book erhältlich

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Erster Teil

WINTER IN DEN ABRUZZEN

Deus nobis haec otia fecit

In den Abruzzen gibt es nur zwei Jahreszeiten: Sommer und Winter. Der Frühling ist schneereich und windig wie der Winter, und der Herbst ist warm und klar wie der Sommer. Der Sommer beginnt im Juni und endet im November. Die langen Sonnentage auf den niedrigen und ausgedörrten Hügeln, der gelbe Staub der Straßen und die Ruhr der Kinder nehmen ein Ende, und es beginnt der Winter. Dann ist es aus mit dem Leben auf der Straße. Die barfüßigen Kinder verschwinden von der Kirchentreppe. Im Dorf, von dem hier die Rede ist, verschwanden nach den letzten Ernten auch die meisten Männer. Sie suchten Arbeit in Terni, Sulmona und Rom. Es war ein Dorf von Maurern. Viele Häuser und Terrassen und kleine Säulen zeigten sich anmutig wie Villen. Man war überrascht, in große, dunkle Küchen mit aufgehängten Schinken zu kommen, in weite, düstere und leere Zimmer. Überall in den Küchen brannte das Feuer, und es gab verschiedene Arten davon: prächtige Feuer aus brennenden Buchenklötzen, Feuer aus Laub und dürren Zweigen, aus Wurzeln, die man unterwegs da und dort aufgelesen hatte. Es war leicht, die Armen und die Reichen nach ihren Feuern zu unterscheiden, leichter, als wenn man sie nach ihren Häusern hätte beurteilen müssen, nach ihren Kleidern oder Schuhen, die sich mehr oder weniger glichen. Als ich ins Dorf kam, von dem ich spreche, schienen in der ersten Zeit alle Gesichter gleich für mich. Alle Frauen sahen sich ähnlich, die reichen und die armen, die jungen und die alten. Fast alle hatten einen zahnlosen Mund. Die Frauen dieser Gegend verlieren ihre Zähne schon mit dreißig Jahren durch die harte Arbeit, die ungesunde Nahrung, die Anstrengung des Stillens und der Geburten, die sich unaufhörlich folgen. Nach und nach jedoch begann ich Vicenzina von Secondina, Annunziata von Addolorata zu unterscheiden und fing an, in jedem Hause ein und aus zu gehen und mich an den verschiedenen Feuern zu wärmen.

Als der erste Schnee fiel, überkam uns eine tiefe Traurigkeit. Wir waren im Exil. Fern war unsere Stadt, und fern waren die Bücher, die Freunde und die wechselvollen Geschehnisse eines wirklichen Daseins. Wir heizten unsern grünen Ofen mit seinem langen Rohr, das die Decke durchbrach, und in diesem Zimmer mit dem Ofen versammelten wir uns alle. Hier wurde gekocht und gegessen, und hier, an dem großen, ovalen Tisch schrieb mein Mann. Auf dem Boden lagen die Spielsachen der Kinder herum, an der Decke prangte ein gemalter Adler. Ich betrachtete ihn und dachte: Das ist das Exil. Ja, das Exil war der Adler, der grüne, brummende Ofen, die unendliche Stille der Landschaft und der starre Schnee. Um fünf Uhr läuteten die Glokken der Kirche Santa Maria, und die Frauen mit roten Gesichtern und schwarzen Umhangtüchern begaben sich zum Abendsegen. Jeden Abend machten mein Mann und ich einen Spaziergang, jeden Abend wanderten wir Arm in Arm durch den tiefen Schnee. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren von befreundeten und bekannten Menschen bewohnt. Alle traten vor die Tür und wünschten uns gute Gesundheit. Zuweilen fragte der eine oder andere: »Wann werdet ihr eigentlich nach Hause zurückkehren?« Und mein Mann antwortete: »Wenn der Krieg zu Ende ist.« »Und wann ist dieser Krieg endlich zu Ende? Du, der du alles weißt und ein Professor bist, wann wird er zu Ende sein?« Sie nannten meinen Mann »den Professor«, da sie seinen Namen nicht aussprechen konnten, und kamen von weit her, um ihn über alles mögliche zu befragen: in welcher Jahreszeit die Zähne gezogen werden sollten, über die Unterstützungen, die man von der Gemeindeverwaltung beziehen konnte, über Taxen und Steuern. Im Winter starb zuweilen ein alter Mann an einer Lungenentzündung, die Glocken von Santa Maria läuteten zum Begräbnis, und der Schreiner Orecchia verfertigte den Sarg … Eine Frau wurde wahnsinnig; man brachte sie ins Irrenhaus von Collemaggio, und das ganze Dorf schwatzte noch eine Weile darüber. Es war eine junge, saubere Frau, die sauberste im ganzen Dorfe. Man sagte, ihr übertriebenes Reinemachen sei daran schuld gewesen … Die Frau von Gigetto di Calcedonio schenkte ihrem Mann Zwillinge, Mädchen, und dabei hatten sie bereits ein männliches Zwillingspaar zu Hause. Der Mann vollführte im Gemeindehaus ein großes Geschrei, weil man ihm keine Unterstützung geben wollte, da er manches Stück Land besaß und einen Gemüsegarten, so groß wie sieben Städte. Rosa, der Schulwartsfrau, spuckte eine Nachbarin ins Auge. Nun ging sie mit verbundenem Auge herum, damit sie eine Entschädigung beziehen könne. »Das Auge ist empfindlich und die Spucke gesalzen«, erklärte sie. Auch darüber wurde eine Weile geklatscht, bis nichts mehr zu sagen war.

Mit jedem Tag wuchs unser Heimweh. Oft war es sogar angenehm, wie eine zärtliche und leicht berauschende Begleitung. Briefe kamen aus unserer Stadt mit Nachrichten von Hochzeiten und Todesfällen, von denen wir ausgeschlossen blieben. Zuweilen aber war das Heimweh stechend und bitter, es wurde zum Haß. Wir haßten dann Domenico Orecchia, Gigetto di Calcedonia, Annunziatina, die Glocken von Santa Maria. Den Haß aber verbargen wir, da wir ihn für ungerecht hielten. Unser Haus war immer voller Leute, die irgendeinen Liebesdienst verlangten oder uns einen erweisen wollten. Manchmal kam die kleine Schneiderin ins Haus, um uns Pfannkuchen zu backen. Sie band sich ein zerschlissenes Tuch um die Hüften, schlug die Eier schaumig und schickte Crocetta ins Dorf, um ausfindig zu machen, wer uns einen großen Kochtopf leihen könnte. Ihr rotes Gesicht hatte einen versonnenen Ausdruck, und aus ihren Augen strahlte ein gebieterischer Wille. Sie hätte das Haus in Brand gesteckt, damit ihre »Sagnoccole« gut gerieten. Ihr Kleid und ihre Haare waren vom Mehl bestäubt, und auf dem ovalen Tisch, an dem mein Mann schrieb, wurden Pfannkuchen ausgebreitet.

Crocetta war unser Dienstmädchen, erst vierzehn Jahre alt; die kleine Schneiderin hatte sie für uns gefunden. Diese Schneiderin teilte die Welt in zwei Gruppen; in jene, die sich kämmen, und in jene, die sich nicht kämmen. Vor denen mußte man sich hüten, denn natürlich hatten sie Läuse. Crocetta kämmte sich, und darum war sie auch bei uns im Dienst und erzählte den Kindern lange Geschichten von Toten und von Friedhöfen. Es war einmal ein kleiner Knabe. Seine Mutter starb, und der Vater nahm eine andere Frau. Doch die Stiefmutter liebte das Kind nicht. Eines Tages, als der Vater auf dem Felde war, tötete sie es und kochte eine Suppe davon. Der Vater kehrte heim und aß. Als er gegessen hatte, begannen die Knochen im Teller zu singen:

Meine böse Stiefmutter

hat im Topf mich gekocht;

verzehrt hat mich Vater

als leckere Kost …

Da griff der Vater zum Rebenmesser und tötete die Frau. Draußen am Türpfosten hing er sie an einem Nagel auf.

Zuweilen ertappe ich mich, daß ich diese Worte vor mich hin murmle. Dann ersteht vor meinen Augen wieder das ganze Dorf mit dem besonderen Geruch seiner Jahreszeiten, mit dem eisigen Hauch des Windes, dem Klang der Glocken.

Jeden Vormittag ging ich mit den Kindern aus. Die Leute wunderten sich und mißbilligten, daß ich sie der Kälte und dem Schnee aussetzte. »Was haben denn diese armen Geschöpfe verbrochen?« fragten sie. »Das ist doch kein Wetter zum Spazierengehen. Geh nach Hause!« Wir machten lange Wanderungen durch die weiße, einsame Landschaft, und die wenigen Menschen, denen wir begegneten, betrachteten die Kinder voller Mitleid. »Was haben sie denn verbrochen?« klagten auch sie. Wenn in jenem Dorf im Winter ein Kind zur Welt kommt, darf es bis zum Sommer nicht an die frische Luft getragen werden. Um die Mittagszeit kam mein Mann jeweils mit der Post nach. Dann kehrten wir alle zusammen nach Hause zurück.

Ich erzähle den Kindern von unserer Stadt. Sie waren noch sehr klein, als wir sie verlassen hatten, und vermochten sich an nichts zu erinnern. Ich schilderte ihnen die Häuser mit den zahlreichen Stockwerken, die vielen Straßen und all die schönen Läden. »Und wir? Haben wir hier nicht den Girò?« sagten die Kinder.

Der Laden von Girò befand sich gerade vor unserem Hause. Girò stand unter der Tür wie eine alte Eule und starrte mit runden, gleichgültigen Augen auf die Straße. Fast alles konnte man bei ihm kaufen: Lebensmittel, Kerzen, Karten, Schuhe und Orangen. Wenn die Ware eintraf und Girò die Kisten leerte, eilten die Kinder herbei, um die faulen Orangen zu essen, die er wegwarf. Zu Weihnachten gab es auch Torrone, Likör und Karamellen. Aber um keinen Soldo billiger gab Girò seine Waren. »Wie schlecht du bist, Girò, wie schlecht!« klagten die Frauen, und Girò antwortete: »Wer gut ist, den fressen die Hunde.« Zu Weihnachten kehrten die Männer von Terni, von Sulmona und von Rom zurück, um sofort wieder abzureisen, sobald sie die Schweine geschlachtet hatten. Für einige Tage wurden dann nur Grieben und scharfe Würste gegessen, und viel dazu getrunken. Und etwas später erfüllte das Quieken der Ferkel die Straße.

Der Februar machte die Luft feucht und weich. Graue, schwere Wolken zogen am Himmel hin. Es war ein Jahr, in dem während des Tauwetters die Dachtraufen brachen. So regnete es in die Häuser, und die Zimmer wurden überschwemmt. Im ganzen Dorf blieb kein Haus verschont. Die Frauen leerten die Wasserkessel zu den Fenstern hinaus und fegten mit dem Besen das Wasser aus der Haustüre. Es gab Leute, die sich mit offenem Regenschirm zu Bett legten. Domenico Orecchia behauptete, das sei die Strafe für irgendeine Sünde. Und dieses Unwetter hielt länger als eine Woche an. Dann schmolz endlich auch das letzte Restchen Schnee von den Dächern und Aristide flickte die Dachtraufen.

Als der Winter zu Ende ging, regte sich in uns eine leise Unruhe. Vielleicht würde uns irgendwer besuchen. Vielleicht war doch endlich irgend etwas geschehen. Einmal mußte unsere Verbannung doch ein Ende haben … Die Straßen, die uns von der Welt trennten, erschienen uns jetzt kürzer; die Post kam häufiger. Langsam heilten auch unsere Frostbeulen.

Es gibt etwas eintönig Gleiches in den Schicksalen der Menschen. Unser Leben entwickelt sich nach alten, unverrückbaren Gesetzen, nach einem gleichmäßigen alten Rhythmus. Träume verwirklichen sich nie, und kaum haben sie sich verflüchtigt, erkennen wir jäh, daß wir die größten Freuden unseres Lebens außerhalb der Wirklichkeit zu suchen haben. Kaum haben die Träume sich verflüchtigt, verzehren wir uns vor Sehnsucht nach der Zeit, da sie uns erfüllten. Und in diesem Wechsel von Hoffnung und Sehnsucht verläuft unser Schicksal.

Einige Monate nachdem wir das Dorf verlassen hatten, starb mein Mann im Gefängnis von Regina Coeli. Beim Gedanken an diesen grauenvollen, einsamen Tod, an die Ängste, die ihm vorangingen, frage ich mich, ob dies wirklich uns passiert ist, uns, die wir Orangen bei Girò kauften und im Schnee spazierengingen. Damals glaubte ich an eine glückliche und frohe Zukunft, reich an erfüllten Wünschen, an gemeinsamen Erfahrungen und Unternehmungen. Und doch war jene Zeit die beste meines Lebens, und erst jetzt, da sie mir für immer entschwunden ist, erst jetzt weiß ich es.

Aus dem Italienischen von Hedwig Kehrli

und Alice Vollenweider

DIE KAPUTTEN SCHUHE

Meine Schuhe sind kaputt und die Schuhe der Freundin, mit der ich in diesem Augenblick lebe, sind ebenfalls kaputt. Wenn wir zusammen sind, sprechen wir oft über Schuhe. Wenn ich mit ihr über die Zeit spreche, in der ich eine berühmte alte Schriftstellerin sein werde, fragt sie mich sofort: »Was für Schuhe wirst du haben?« Dann sage ich zu ihr, daß ich Schuhe aus grünem Wildleder haben werde, mit einer großen Goldschnalle an der Seite.

Ich gehöre zu einer Familie, in der alle solide und heile Schuhe haben. Meine Mutter hat sich sogar extra ein Schränkchen anfertigen lassen müssen, um die Schuhe darin aufzubewahren, so viele Paare hatte sie. Wenn ich zu ihnen zurückkehre, erheben sie beim Anblick meiner Schuhe vor Empörung und Schmerz ein großes Geschrei. Ich aber weiß, daß man auch mit kaputten Schuhen leben kann. Zur Zeit der Deutschen war ich allein hier in Rom, und ich besaß nur ein einziges Paar Schuhe. Wenn ich sie zum Schuster gebracht hätte, hätte ich zwei oder drei Tage im Bett bleiben müssen, und das war mir nicht möglich. So trug ich sie weiterhin, und obendrein regnete es, ich spürte, wie sie sich langsam auflösten, weich und unförmig wurden, und ich spürte die Kälte des Pflasters unter den Fußsohlen. Darum sind meine Schuhe auch jetzt immer kaputt, weil ich mich an jene erinnere und sie mir im Vergleich gar nicht so kaputt vorkommen, und wenn ich Geld habe, gebe ich es lieber für etwas anderes aus, weil ich Schuhe nicht mehr für etwas Wesentliches halte. Ich war durch das frühere Leben verwöhnt, stets von zärtlicher und achtsamer Zuneigung umgeben gewesen, aber in jenem Jahr hier in Rom war ich zum ersten Mal allein, und darum ist Rom mir teuer, wenn auch beladen mit Geschichte für mich, beladen mit angstvollen Erinnerungen, wenig süßen Stunden. Auch meine Freundin hat kaputte Schuhe, und deshalb passen wir gut zusammen. Meine Freundin hat niemanden, der ihr Vorwürfe macht wegen der Schuhe, die sie trägt, sie hat nur einen Bruder, der auf dem Land lebt und mit Jägerstiefeln durch die Gegend läuft. Sie und ich wissen, was geschieht, wenn es regnet und die Beine nackt und naß sind und das Wasser in die Schuhe fließt, es gibt dann bei jedem Schritt dieses kleine Geräusch, diese Art Schmatzen.

Meine Freundin hat ein blasses, männliches Gesicht und raucht mit einer schwarzen Zigarettenspitze. Als ich sie zum ersten Mal sah, an einem Tisch sitzend, mit Schildpattbrille und ihrem geheimnisvollen, hochmütigen Gesicht, die schwarze Zigarettenspitze zwischen den Zähnen, dachte ich, daß sie aussähe wie ein chinesischer General. Da wußte ich noch nicht, daß ihre Schuhe kaputt waren. Das erfuhr ich später.

Wir kennen uns erst seit wenigen Monaten, aber es ist, als wären es viele Jahre. Meine Freundin hat keine Kinder, ich dagegen habe Kinder, und für sie ist das seltsam. Sie hat sie nie gesehen, außer auf dem Photo, weil sie bei meiner Mutter in der Provinz sind, und auch das ist überaus seltsam zwischen uns, daß sie meine Kinder nie gesehen hat. In gewissem Sinn hat sie keine Probleme, kann der Versuchung nachgeben, das Leben vor die Hunde gehen zu lassen, ich dagegen kann das nicht. Meine Kinder leben also bei meiner Mutter, und bis jetzt sind ihre Schuhe nicht kaputt. Aber wie werden sie als Männer sein? Ich meine: Was für Schuhe werden sie als Männer haben? Welchen Weg werden sie wählen für ihre Schritte? Werden sie beschließen, aus ihren Wünschen all das zu verbannen, was angenehm aber nicht notwendig ist, oder werden sie behaupten, daß alles notwendig ist und daß der Mensch das Recht hat, solide und heile Schuhe an den Füßen zu haben?

Mit meiner Freundin unterhalten wir uns lange über diese Dinge, und darüber, wie die Welt dann sein wird, wenn ich eine berühmte alte Schriftstellerin bin und sie um die Welt reisen wird mit einem Rucksack auf dem Rücken, wie ein alter chinesischer General, und meine Söhne ihren eigenen Weg gehen werden, mit heilen, soliden Schuhen an den Füßen und dem festen Schritt dessen, der nicht verzichtet, oder mit kaputten Schuhen und dem breiten, lässigen Schritt dessen, der das weiß, was nicht notwendig ist.

Manchmal stiften wir Ehen zwischen meinen Kindern und den Kindern ihres Bruders, des Bruders, der mit Jägerstiefeln auf dem Land durch die Gegend läuft. So unterhalten wir uns bis spät in die Nacht und trinken schwarzen, bitteren Tee. Wir haben eine Matratze und ein Bett, und jeden Abend losen wir aus, wer von uns beiden im Bett schlafen soll. Morgens, wenn wir aufstehen, erwarten uns unsere kaputten Schuhe auf dem Teppich.