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ilri Bibliothek Wissenschaft, Band 8

Lothar Struck

»Der mit seinem Jugoslawien«

Peter Handke im Spannungsfeld zwischen
Literatur, Medien und Politik

 

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ilri Bibliothek Wissenschaft, Bd. 8

 

3. Auflage 2013

Umschlaggestaltung von Philipp Thoms
unter Verwendung eines Fotos von © Josefina Bajer sowie
der GeoSans Light von Manfred Klein.

Der Titel ist Peter Handkes »Immer noch Sturm« (InS 40) entnommen.

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 978-3-95420-002-3 (print)
ISBN: 978-3-95420-102-0 (pdf)
ISBN: 978-3-95420-202-7 (epub)

If all mankind minus one, were of one opinion, and only one person were of the contrary opinion, mankind would be no more justified in silencing that one person, than he, if he had the power, would be justified in silencing mankind. (…) To refuse a hearing to an opinion, because they are sure that it is false, is to assume that their certainty is the same thing as absolute certainty.

– John Stuart Mill, »On Liberty«

Dem tätigen Menschen kommt es darauf an, daß er das Rechte tue;
ob das Rechte geschehe, soll ihn nicht kümmern.

– Johann Wolfgang Goethe, »Maximen und Reflexionen«

Und daß nicht von zweien der eine Weh hat, der andere keines.

– Euripides, »Helena«

Vorbemerkungen

Dieses Buch untersucht systematisch das Verhältnis von Peter Handke zu Jugoslawien. Seine Einlassungen und Anschauungen zu Jugoslawien, Serbien und zur Sprache der Medien, die über die Ereignisse berichtet haben, werden als Engagement gedeutet, das gerade nicht bloßer Gegensatz zum gängigen Meinungsstrom sein, sondern eine eigene, neue Sicht auf ein kompliziertes, multinationales Land möglich machen will. Biographie, Sprachkritik und Politik bilden einen Dreiklang, in den Handke seine Stellungnahmen für ein Jugoslawien bettet, das für ihn zu einem Ideal eines möglichen Europa wurde, eines Europa, »wie es sich gehört hätte oder wie es hätte werden können«. Dabei werden nicht nur die Reiseberichte und Essays im Kontext seines Werkes untersucht, sondern auch die wichtigsten gesinnungsästhetischen Erregungen des Feuilletons porträtiert.

Unweigerlich ist es erforderlich, die historischen Ereignisse auf dem Balkan insbesondere in den 1990er-Jahren mindestens zu skizzieren. Dabei erhebt dieses Buch nicht den Anspruch, die jüngere jugoslawische Geschichte umfassend wiederzugeben. Ich habe mich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, Begebenheiten multiperspektivisch zu beleuchten. Aber die Quellenlage ist nach wie vor sehr disparat; Propaganda ist zuweilen kaum von Tatsachenberichten zu unterscheiden. Die Kriege sind bis heute weder zeitgeschichtlich noch juristisch, völkerrechtlich oder rechtsphilosophisch erschöpfend aufgearbeitet.

Mit der Bezeichnung »Jugoslawien« ist die »Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien« gemeint (1943/45–1991/92), die bis zur Abspaltung von Slowenien, Kroatien und Mazedonien 1991/92 (später dann Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo) bestand. Die »Bundesrepublik Jugoslawien« (1992–2003) bzw. »Serbien und Montenegro« (2003–2006) werden der Einfachheit halber mit »Serbien« bezeichnet (es sei denn, es gibt spezifische Gründe zur Differenzierung). Dies ist keine politische Wertung, sondern soll die Lesbarkeit verbessern.

Sowohl fiktionale Texte wie Zitate aus Interviews und Gesprächen von Peter Handke sind ausnahmslos und exklusiv kursiv gedruckt. Wenn Handke selber etwas kursiv darstellt, wird dies entweder gesperrt oder anderweitig hervorgehoben. Zitatquellen werden durch Siglen oder in den Fußnoten angegeben. Die jeweilige Rechtschreibung in den zitierten Passagen wurde übernommen. Dies gilt insbesondere für Akzentzeichen, die, wo sie fehlen, nicht ergänzt wurden. Bei Quellen aus Printerzeugnissen, die im Internet zugänglich sind, wurde, falls nicht anders angegeben, immer der Text aus dem Internetzugriff zum Zitat herangezogen. Alle Internetadressen wurden am 06.05.2012 überprüft; Abweichungen werden separat in den Fußnoten angegeben. Die Kapitel 11.1, 11.3, 12.3 und 12.4 sind neu überarbeitete Versionen von Aufsätzen, die von mir in Online-Medien erschienen sind.

Wenn Handke in seinen Reisebüchern und Essays in der »Ich«-Form erzählt, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass damit immer die Person Handke selbst gemeint ist. Dennoch wird dies der besseren Lesbarkeit halber angenommen. Es bleiben jedoch immer fiktionale Texte, d. h. »ich« ist nicht per se gleichzusetzen mit dem Autor Handke.

Lothar Struck, Mai 2012

Bemerkungen zur 3. Auflage

Kurz nach Herausgabe dieses Buches sind zwei großartige neue Quellen über Peter Handke erschienen. Zum einen der Briefwechsel zwischen ihm und Siegfried Unseld (Suhrkamp Verlag 2012, herausgegeben von Raimund Fellinger und Katharina Pektor). Und zum anderen der Prachtband »Die Arbeit des Zuschauers – Peter Handke und das Theater« (Verlag Jung und Jung 2012, herausgegeben von Klaus Kastberger und Katharina Pektor). Beide Bücher enthalten interessante Ergänzungen auch zur sogenannten Jugoslawien-Problematik in Peter Handkes Werk. Die wichtigsten Erkenntnisse habe ich für die 3. Auflage in den Kapiteln 6, 9.2 und 9.5 eingefügt (in schwarz; in blauer Schrift zum Einstieg die Stellen, in die die Ergänzungen eingefügt werden sollen).

 

Sie seien hier für die Käufer der 1. und 2. Auflage vorgestellt. (Die Fußnoten sind natürlich im Buch andere.)

1. Einleitung

Mit den Unabhängigkeitserklärungen der jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und Mazedonien 1991 bricht der jugoslawische Bundesstaat als eine Spätfolge der Beendigung des »Kalten Krieges« auseinander. Die neuen Kleinstaaten kopieren nun mehr oder weniger erfolgreich »westliche« Gesellschaftsmodelle und wenden sich der kapitalistischen Marktwirtschaft und dem von den USA dominierten atlantischen Verteidigungsbündnis zu.

Für den Schriftsteller Peter Handke bricht im fast wörtlichen Sinn eine Welt zusammen. In seinem Buch »Abschied des Träumers vom Neunten Land« lehnt er unmittelbar nach der Gründung des slowenischen Staates diese neue politische Entwicklung ab. Er argumentiert dabei nicht politisch oder ökonomisch, sondern als Schriftsteller.

Unmittelbar darauf erschütterten in und um Kroatien und Bosnien schreckliche Sezessionskriege mit Vertreibungen und genozidalen Gewaltexzessen, die erst Ende 1995 in Friedensabkommen beendet wurden. Jugoslawien war nun endgültig zerfallen. Zwischen 1996 und 2011 veröffentlichte Peter Handke fünf Reiseerzählungen, zwei Essays und – je nach Lesart – zwei oder drei Theaterstücke, in denen er sich fragend und teilweise wütend und am Ende desillusioniert diesen Entwicklungen widmete. Sie künden von der Skepsis den schnellen Urteilern gegenüber, deren Pseudo-Gewissheiten keine Fragen aushalten. Und sie künden vom Unterwegssein in das »übriggebliebene« Jugoslawien und den Folgen der Kriege. Oberflächlich betrachtet wirkten Handkes Reaktionen gelegentlich wie zornige, antimodernistische Affekte, die eine archaisch-bukolische Welt konservieren wollten und sie idyllisierten. Diese Vorwürfe wurden immer wieder erhoben. Leichtgläubige Leser mögen sich damit zufrieden geben, zumal die Affirmation der Mehrheitsmeinung der Publizistik damit aufrecht erhalten werden kann, was ja nicht ganz unbequem ist.

Wer jedoch genauer nachliest und nachspürt, entdeckt einen anregenden, multiperspektivischen Kosmos in diesen Büchern. Hier soll der Versuch unternommen werden zu zeigen, wie die Kombination autobiografischer und historisch-politischer Elemente das in Jugoslawien eingebettete Slowenien für Peter Handke zu einem arkadischen Ort machte, wie Jugoslawien und die in ihm gespiegelte Ideenwelt in Handkes Werk schon früh eine wichtige Rolle spielte und was der Zusammenbruch dieses Jugoslawiens für den politischen wie den privaten Menschen Peter Handke bedeutet.

Handke wird in seinen Reiseerzählungen sprach- und medienkritische Analysen und Fragen mit eigener Anschauung (im Sinne Goethes[1]) verbinden, um seine Sicht der Dinge über den Zerfall Jugoslawiens darzulegen. Die Reiseerzählungen erfüllen durchaus die Kriterien politischer Essays und kombinieren vehemente (teils emotionale) Sprachkritik mit Augenzeugenbefragungen und poetischer Reflexion. Handkes Bücher, seine Interviews und seine Aktivitäten werden in dieser Zeit in drei Erregungswellen den politischen, literarischen und feuilletonistischen Diskurs vor allem im deutschsprachigen Raum und Frankreich bestimmen und zu heftigen Auseinandersetzungen um das Spannungsfeld von Literatur und Politik im Allgemeinen und Peter Handkes politische und literarische Qualitäten im Besonderen führen, die zum Teil die Grenze zur Diffamierung des Autors als Schriftsteller und Person überschreiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es ist nicht intendiert, eine auch nur annähernd vollständige Chronologie der Ereignisse, Reaktionen und Gegenreaktionen abzugeben. Zwar werden die stärksten feuilletonistischen Detonationen skizziert und exemplarisch einige zweifelhafte Versuche aufgeführt, Handke und sein Werk zu diskreditieren. Dieser Essay möchte jedoch primär Handkes Motivationen untersuchen und belegen, dass sein »Engagement« (1.) durchaus als Kontinuum in seinem Werk darstellbar ist und es sich (2.) nicht um eine politisch-naive »Jugo-Nostalgie« eines den Idealen einer vormodernen Gesellschaft anhängenden Schriftstellers handelt.

Handkes Engagement ist nicht monokausal begründbar. Es werden bei der Betrachtung drei Elemente in den Vordergrund gerückt, die es verstehbar und erklärbar machen sollen:

Autobiografische Prägungen – Jugoslawien als Sehnsuchtsland in Leben und Werk

Handkes Mutter gehörte der slowenischen Minderheit in Kärnten an; ihr Vater, der von ihm sehr verehrte und prägende Großvater, war ein Kärntner Slowene. Fabjan Hafner hat mit akribischer Genauigkeit die Zusammenhänge zwischen Handke und »dem Slowenischen« dargelegt.[4] Diese Prägungen werden kursorisch dargelegt und auf das »Jugoslawische« ausgeweitet.

Seit 1966 bereiste Handke Jugoslawien (nicht nur Slowenien) meist zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln.[5] Er war unzählige Male dort.[6] Handkes Erstling »Die Hornissen« wurde größtenteils auf der Adriainsel Krk geschrieben. Die Erzählung »Wunschloses Unglück«[7] thematisiert durch den biografischen Hintergrund seiner Mutter die gesellschaftliche Stellung der slowenischen Minderheit in Kärnten. Aber erst mit der Erzählung »Die Wiederholung« (1986 erstmals veröffentlicht) wurde Jugoslawien zu einem »Land der Illusion« und zu einem zentralen Motiv seines Erzählens. In seinen »Journalen« (tagebuchartigen Aufzeichnungen) kann man Impressionen der zahlreichen Reisen vor allem durch Jugoslawien nachspüren.[8]

Sprachkritik dient Handke als Instrument für »Gerechtigkeit« bzw. ausgewogener, vorurteilsfreier Darstellung von Ereignissen

Einen sprachkritisch-pädagogischen Gestus hatte Handke schon 1969 in seinem Essay »Die Tautologien der Justiz«[9] eingenommen und seitdem immer wieder in seinem literarischen Werk auf die Herausforderungen der Sprache rekurriert. Der Aufsatz wird in Erinnerung gerufen und als Ursprungstext des Verfahrens der Sprach- und Medienkritik[10] der Reiseerzählungen vorgestellt. Dabei wird deutlich, dass Handkes Sprachskeptizismus, die er bei einer Seite analysiert und als begründet nachweist, nicht zwingend als Parteinahme für die »andere Seite« aufzufassen ist. Wie auch ein Anwalt nicht notwendigerweise die Taten und Aktionen seines Mandanten durch seine Verteidigung rechtfertigt.

Handke: Kein unpolitischer Autor

Die Mär, Handke sei bis in die 1990er-Jahre ein eher unpolitischer Autor gewesen, wird aus seinem Werk heraus widerlegt. Neben der Tatsache, dass es sich bei der oben erwähnten Sprachkritik um einen politischen (wenn auch nicht parteilichen) Text handelt, wird das »dramatische Gedicht« »Über die Dörfer« von 1981 als weiterer Beleg angeführt. Hier verbinden sich dezent angedeutete autobiographische Bezüge mit einem visionär-utopischen Politik- und Gesellschaftsentwurf: Der emphatische Monolog der Figur Nova – einer Mischung aus Zukunftsdeuterin, Philosophin und Hohepriesterin – wird als Anima der Figur des Heimkehrers Gregor gelesen. Im Theaterstück »Zurüstungen für die Unsterblichkeit« liebäugelte Handke 16 Jahre später schließlich mit der machtpolitischen Figur des »guten Königs« und eines neuen »Gesetzes der allgemeinen Besänftigung« – und ermöglicht damit vielleicht allzu leicht das Missverstehenwollen.

Diese durchaus differierenden Ideenwelten und Desillusionierungen des politischen Menschen und Autors Peter Handke werden in Beziehung mit seiner Anfang 2008 erschienenen Erzählung »Die morawische Nacht«, seinen politischen Äußerungen während und nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo 2008 und der Reiseerzählung »Die Kuckucke von Velika Hoča« (2009) erläutert.

Es besteht kein Zweifel, dass Handkes Reiseerzählungen, allen Anfeindungen und auch allen Fehleinschätzungen des Autors zum Trotz, die Berichterstattung der Jugoslawienkriege zu Recht befragt und Teile der Öffentlichkeit sensibilisiert haben. Handke forderte mit seiner »Publizistenbeschimpfung«[11] die einfachen Weltbilder der massenmedial verordneten Gut-Böse-Dichotomien heraus. Dabei erstaunt die Heftigkeit eines fast archaischen »Empörungs-Automatismus«[12], mit denen Handkes Einlassungen begegnet wurde, kaum. An der Art und Weise der Repliken, an der Qualität und Quantität der Unterstellungen, denen man diesen Texten und ihrem Autor begegnete, lässt sich der wahre Grad der Erschütterung erkennen.

Der Philosoph Peter Sloterdijk rekapitulierte 2009 über das französische Feuilleton: »Unübersehbar war die geistige Dekomposition während der letzten Jahre bei den nationweit ausgreifenden medialen Treibjagden auf vermeintliche Konvertiten oder Verräter der fortschrittlichen Sache, die man nach scheinmoralischen Schauprozessen auf der Place de Grève[13] der öffentlichen Meinung hinzurichten versuchte.« – Und über die einheimische Kulturkritik schreibt Sloterdijk: »Die Analogie zu den deutschen Skandalphänomenen der letzten anderthalb Jahrzehnte springt ins Auge – denn auch hierzulande konnte das dominante linksliberale Feuilleton seine zunehmende Weltfremdheit nur durch erhöhte moralische Aufgeregtheit kompensieren.«[14]

Wie man an einer derartigen Handke-Rezeption sieht – und nicht nur hier:

Das deutsche Feuilleton und mit ihm große Teile der Publizistik dieses Landes ist schon lange zu einer kruden Erregungszone von Gesinnungsgauklern mutiert, deren pluralistische Firnis immer dann den totalitären Boden aufblitzen lässt, wenn es nicht so läuft, wie es gewünscht wird. Diese Flucht in das virtuellrhetorische Jakobinertum selbstzufriedener Deutungswächter lässt vor allem eines erkennen: eine einerseits erschreckende – andererseits dann wieder auch beruhigende – Furcht vor dem abweichenden Wort und dessen Wirkung. Zwar wird, wie Daniel Bax in anderem Zusammenhang konstatierte, »das Schlagwort gern aufgegriffen. Frappierend ist nur, mit wie viel Demagogie und wie wenig Sachkenntnis sich dabei auskommen lässt.«[15]

 

Q. e. d.

2. Biographisches

2.1. Kindheit und Jugend – Zwischen Dorf und Stadt, Slowenisch und Deutsch, Studium und Schriftsteller

Peter Handke wurde am 6. Dezember 1942 in Altenmarkt Nr. 25 (slowenisch: Stara Vas), Gemeinde Griffen, Kärnten geboren. In Griffen gibt es einen hohen Anteil einer slowenischen Minderheit, zu der die Familie der Mutter Maria gehört. Maria Siutz (der slowenische Name der Familie lautete Sivec) wurde 1920 geboren. Als Vater des kleinen Peter »fungiert« der am 4. November 1942 von der Mutter geheiratete deutsche Unteroffizier Adolf Bruno Handke, der vor seinem Militärdienst Straßenbahnschaffner in Berlin war.

Peter Handke wird später von der Wette Bruno Handkes mit seinen Kameraden erzählen, Marias Gunst zu bekommen (u. a. WU 28). Seine Mutter eröffnet erst dem 19-Jährigen, dass sein Vater der Sparkassenangestellte Erich Schönemann ist. Schönemann, der aus dem Harz stammte, war die große Liebe von Maria. Aber er war verheiratet und zum Zeitpunkt der Geburt seines Sohnes nicht mehr in Kärnten.

Maria Handke entstammte einer österreichisch-slowenischen »Kleinhäuslerfamilie«. Ihr Vater, Gregor Sivec, Peter Handkes Großvater, der in der Familie »Ote« genannt wurde (nach dem slowenischen »oče« – Vater), war selber ein so genanntes uneheliches Kind. Er heiratete 1913 mit 27 Jahren die fast gleichaltrige Ursula Karnaus. Gregor war Zimmermann und betrieb eine kleine Landwirtschaft. Sie bekommen fünf Kinder. Gregor, der Erstgeborene, erblickt schon im Jahr der Heirat das Licht der Welt. Dann folgen Ursula, Georg, Maria und Hans. Bei der Inflation Ende der 1920er-Jahre verlor Ote sein gesamtes erspartes Vermögen; in den 1930er-Jahren noch einmal (WU 15). Gregor sollte Peters Taufpate werden. Da er durch den Krieg nicht persönlich anwesend sein konnte, übernahm die Schwester Ursula seinen Platz. Gregor und Hans waren von Hitlers Wehrmacht eingezogen worden. Ausgerechnet sie, die »Slowenen«, die als politisch wenig zuverlässig galten, wurden gezwungen, für das verbrecherische Nazi-Regime zu kämpfen.

Peter Handke hat diese Umstände später als Tragödie seiner Familie bezeichnet. Beide, Gregor und Hans, kamen 1943 in Russland kurz nacheinander ums Leben. Ote war nach dem Tod seiner Söhne, wie Handke seiner Mutter später schreiben wird, erledigt.[16] Im Partisanendrama »Immer noch Sturm« lässt Handke 2010 die Sivec-Familie auferstehen und Gregor wird nun zum Partisanenkämpfer – etwas, was in »Die Wiederholung« nur als Möglichkeit angedeutet wurde. In der Fiktion bekommt der Erstgeborene den Ruhm, der ihm im Leben verwehrt geblieben war.

Onkel Gregor wird die Lichtgestalt in Handkes Leben werden. Bewusst ist er ihm nie begegnet; er erträumt sich einen Schatten, den er als Kleinkind gesehen haben will. Seine Feldpostbriefe und vor allem das Obstbaubuch, verfasst nach einem Besuch einer Schule in Maribor (heute die zweitgrößte Stadt Sloweniens) werden zum Familienschriftgut. Gregor kehrte als überzeugter Slowene[17] aus Maribor zurück und setzte damit eine Art Familientradition fort. Schon bei der Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 in Südkärnten, die über den Verbleib entweder zu »Deutschösterreich« oder zum Königreich Jugoslawien entscheiden sollte, hatte der Großvater Ote für Jugoslawien[18] gestimmt. Diese Tatsache hatte für beträchtlichen Aufruhr im Dorf gesorgt – auch zu Drohungen gegenüber der Familie.[19]

Die Familie Siutz/Sivec fühlte eher jugoslawisch/slawisch statt deutsch. Sie bestimmte Handkes Kindheit, sein Denken und Fühlen. Demgegenüber werden die Väter nie die Bedeutung für Peter Handkes Leben bekommen, obwohl er, wie Malte Herwig in seiner Biographie »Meister der Dämmerung« [MdD] anhand bis dato unveröffentlichter Briefe eindrucksvoll nachweist, anfangs hohe Erwartungen an seinen leiblichen Vater Erich Schönemann hatte. Handke wird mit seinen Vätern immer Krieg und Nationalsozialismus verbinden (MdD 41). Die Vaterrolle in der Kindheit in Griffen übernimmt der zuweilen jähzornige Ote.

Die Siutz-Familie

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Die Schrecken und Bedrohungen des Krieges werden Peter Handke sein ganzes Leben lang prägen. Seine Mutter machte sich mit dem noch nicht einmal zweijährigen Kind 1944 nach Berlin zu den Eltern ihres Ehemanns auf. Die Spuren der alliierten Bombeneinschläge sind in der Stadt nicht mehr zu übersehen, die Stadt gleicht einer Ruinenlandschaft. Wer kann, evakuiert Frauen und Kinder – Maria Handke macht das Gegenteil. Der kleine Peter wird, wie er später sagt, durch den Krieg, die »Hornissen« (eine Metapher für die Bomber und der Titel seines Erstlingsromans) traumatisiert. Immer wieder wird sich diese Urerfahrung in Übersprungbildern in seinem Werk zeigen. Umso erstaunlicher ist es, als Peter Handke 1999 freiwillig in den Bombenkrieg der NATO gegen Jugoslawien reiste und sich damit seinem Kindheitstrauma aussetzte – wie ein Arachnophobiker, der Vogelspinnen über seine Hand laufen lässt.

Noch im gleichen Jahr 1944 kehrt Maria Handke zurück nach Griffen. Auch hier gibt es inzwischen Bombenangriffe. In den letzten Monaten des Krieges terrorisieren die Nazis zusätzlich noch die Kärntner Slowenen: Einige werden verhaftet, andere vertrieben oder verschleppt. Sippenhaft wird praktiziert: Hatte sich ein Familienmitglied in den Wäldern den Partisanen angeschlossen, wurden die anderen bestraft.

Das Kriegsende wird in der Familie Siutz/Sivec eher emotionslos erlebt; zwei der drei Söhne waren schon zwei Jahre zuvor gefallen. Bald nach Kriegsende fiel meiner Mutter der Ehemann ein, und obwohl niemand nach ihr verlangt hatte, fuhr sie wieder nach Berlin (WU 31). Sie will der dörflichen Enge entkommen. Tatsächlich findet sie ihren Mann. Aber er hatte vergessen, daß er einmal, in einer Wette, auf sie aus gewesen war, und lebte mit einer Freundin zusammen; damals war ja Krieg gewesen. Maria Handke hatte ihr Kind mitgebracht und pochte auf ihr Recht, schließlich war sie verheiratet und lustlos befolgten beide das Pflichtprinzip (WU 31). Die Familie lebte im Ostteil der Stadt, in Pankow. 1947 kommt hier Handkes Halbschwester Monika zur Welt.

Kurz vor der von den Sowjets gegen Berlin verhängten Blockade verlässt die Familie im Juni 1948 Berlin. Ob die drohende politische Eskalation, die sich für Berlin andeutete, ein Grund war? Oder ging es der Mutter darum, dass Peter seine Schulzeit in Kärnten absolvieren kann? Dieser ist inzwischen fünfeinhalb; die Mutter musste dem wissensdurstigen Kind schon das Lesen beibringen. Sie hatte früh die Intelligenz ihres Sohnes bemerkt und wollte ihm die Chancen ermöglichen, die seinen beiden Onkeln durch den Krieg verwehrt blieben. Handke wird die Reise von Berlin nach Kärnten in einem Schulaufsatz von 1957 wie eine Art biblische Flucht darstellen[20]; Monika ist erst zehn Monate alt und wird in einer Einkaufstasche (WU 43) transportiert.

Der kleine Peter dürfte die Übersiedlung von der Großstadt in das sehr dörflich geprägte Griffen mit seinen monotonen, ritualisierten Abläufen als eine Art Kulturschock erlebt haben. Unter den gleichaltrigen Buben im Dorf war er nicht zuletzt aufgrund seiner Aussprache ein Außenseiter: Handke berlinerte und verstand den Kärntner Dialekt nicht. Zudem hatte er keine Erinnerung mehr an das Slowenische. Die als Kleinkind erfahrene Kriegsangst, das Außenseitertum, das Familienschicksal der beiden gefallenen Onkel – er ist ein zutiefst verunsichertes und schreckhaftes Kind; eine Schreckhaftigkeit, die ihn bis heute nicht verlassen hat.

Die Situation zu Hause ist für das Kind auch nicht günstig. Bruno verdingt sich mit Hilfsarbeitertätigkeiten bei Onkel Georg, der ein erfolgreicher Geschäftsmann wird (und auch lokalpolitisch in der FPÖ aktiv und als Slowene zum Deutschnationalen wurde [NJu 149]). Die Mutter fügt sich in die häuslichen Abläufe ein. 1949 wird Hans-Gregor[21] geboren.

Schon früh gibt es Eheprobleme zwischen den Eltern. Es kommt zu lautstarken Auseinandersetzungen und sogar Prügeleien; Bruno Handke trinkt und kann nur unregelmäßig einer Arbeit nachgehen. Peter Handke wird dies vor allem in »Wunschloses Unglück« darstellen, einer Art »Abrechnung« mit dem ungeliebten Stiefvater (u. a. MdD 47–48) und einer Verklärung der Mutter, die sich 1971 das Leben nahm.

Schon früh hatte Peter diesen Vater nicht mehr akzeptiert. Für die Mutter wird der exzellente Schüler eine Hoffnung. Später wird sie sagen, dass sie dem Jungen mit seinem zwölften Lebensjahr nichts mehr zu »bieten« vermochte und stattdessen von ihm gelernt habe (MdD 54). Er soll besser werden als die anderen. Jahrzehnte später formuliert und transformiert Handke für sich diesen Anspruch. Nicht: »Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir«, sondern: Unsere Kinder sollen besser werden als wir (darum Kinder)[22].

»Peter Handke besuchte vom 13. September 1948 bis zum 12. Juli 1952 die ersten vier Klassen der sechsklassigen Volksschule in Griffen … vom 14. September 1952 bis zum 10. Juli 1954 die erste und die zweite Klasse der ›Öffentlichen Hauptschule für Knaben und Mädchen‹ im Markt Griffen.«[23] Er ist ein ausgezeichneter Schüler, aber das Fach »Slowenische Unterrichtssprache« interessiert ihn nicht; nach eigenen Angaben hatte er das Slowenische schnell wieder vergessen. Die slowenische »Identität«, die Hinwendung über Slowenien nach Jugoslawien, erwachte bei Handke kurz und nur vorübergehend Anfang der 1960er-Jahre – als Abgrenzung zu seinem »neuen« Vater, dem Deutschen – und dann, aber vehement, wieder ab Mitte der 1980er-Jahre mit den Notizen zu seinem Epos »Die Wiederholung«.

Handke gelang es aus eigener Initiative, in das katholische, bischöfliche Internat Tanzenberg zu kommen. Er bestand die Aufnahmeprüfung und begann dort 1954 seine Gymnasialzeit. »Er war nun Schüler des 1. Bundesgymnasiums Klagenfurt […] und gleichzeitig Zögling des Knabeninternats ›Marianum‹ geworden.«[24] Die Tanzenberger waren durchweg Landkinder, Kleinhäuslerkinder wie Handke selber. Nach einem halben Jahr hatte er den Lateinstoff aufgeholt. Er ist zurückhaltend und findet schwer Anschluss an andere Mitschüler. Mit der »slowenischen Gruppe« unter den Mitschülern kann er nicht viel anfangen. Die Eltern haben zuweilen finanzielle Schwierigkeiten. Gelegentlich gelingt es der Mutter, Stundungen oder sogar Aussetzungen der Kosten zu erreichen. Gemeinhin gilt Tanzenberg als Rekrutierungsanstalt für Priester. So dürfte die Anstaltsleitung gewisse Hoffnungen in dieser Hinsicht bei einem ihrer besten Schüler gehegt haben.

2.2. Der Überflieger

Tanzenberg habe ihn vernichtet, schreibt Handke ein bisschen bernhardesk mehr als dreißig Jahre später in »Gestern unterwegs« (GU 57). Was er bei dieser Gelegenheit nicht erwähnt ist, dass der Lehrer Reinhard Musar ihn damals förderte und ihm gelegentlich auch Geld zusteckte. Was er ungern annahm; er ist stolz. Der Lehrer entdeckt früh Handkes Talent, ermutigt ihn, zu schreiben. Handke, der »einsame Überflieger« (MdD 88), respektiert Musar, der wie er ebenfalls scheu und einsam ist. Schließlich macht aber auch der Lehrer mit Handkes »Stolz und Eigensinn« (Malte Herwig) Bekanntschaft. Er lässt Musar vor der Klasse auflaufen, als dieser ihm wieder Gelegenheit gibt, sich zu profilieren. Diese Ambivalenz zwischen Abgrenzung und Öffnung zeigt sich also schon früh bei Handke: Einerseits wird er in seinen Büchern sein Inneres nach Außen kehren – andererseits will er niemanden an sich heranlassen. Es ist aber auch seine Abscheu vor Seilschaften und jeglicher Art von Vetternwirtschaft.

In der epischen Erzählung »Die Wiederholung« [WH][25] taucht der gutmütige Lehrer mehrmals auf[26]; bis auf eine Ausnahme abwesend begleitend (NNL 88). Zu Beginn seiner Reise trifft Filip Kobal den Geschichte- und Geographielehrer, ein Junggeselle, der allein mit seiner Mutter lebte, die immer wieder durch die geschlossene Tür sich nach dem Wohlergehen und den Wünschen des Sohnes erkundigte (WH 12). Gemeinsamkeiten mit Musar sind evident. So steckt er Filip einen Geldschein zu, den dieser widerwillig annimmt. Später wird eine Szene rekapituliert, als der Lehrer ihn vor der Klasse herausstellen will. Der Schüler aber zieht nur eine fürchterliche Grimasse, die den jungen Lehrer … ins Herz traf; er verließ die Klasse und kehrte in dieser Stunde nicht mehr zurück (WH 37). Und obwohl Handke seine Figur reflektieren ließ: ich war ein Schwindler, ein Heuchler und ein Verräter (WH 37) – der Lehrer fühlte sich durch diese Wiedergabe im Buch nochmals gedemütigt. Handke redete sich später in einem Brief an Musar auf die Fiktionalität der Figur heraus (MdD 91–92).

1959 wurden erste Texte Peter Handkes in der »Kärntner Volkszeitung« im Rahmen eines Schüler-Literaturwettbewerbs abgedruckt. Das erklärt Handkes Verbundenheit mit dieser Zeitung, die bis heute anhält. Mitten im Schuljahr 1959/60 wechselt Handke vom Priesterseminar Tanzenberg ins Bundesgymnasium nach Klagenfurt. Jahrelang kolportierte er das Gerücht, er sei gegangen, weil man seine Lektüre zensieren wollte. Malte Herwig weist nach, dass dies eine Selbstinszenierung Handkes war, der sich damit eine »Rebellenvita zusammengeschustert« habe (MdD 95). In Wirklichkeit war er vor dem starken Druck geflüchtet, Priester werden zu sollen. Auch das abgekühlte Verhältnis zu seinem Mentor Musar könnte eine Rolle gespielt haben.

Seit 1957 wohnt die Familie zu sechst in einem eigenen Haus, Altenmarkt Nr. 6. Die Probleme unter den Eltern sind unverändert. Außerdem bevorzugt Maria Handke ihren Sohn Peter, was zu Spannungen unter den Geschwistern führt. Mutter und Sohn fühlen sich seelenverwandt. Im Juni 1961 absolviert Handke die Maturaprüfung mit Auszeichnung. Er folgt Musars Vorschlag und studiert Jura. Der Lehrer hatte dieses empfohlen, da es Zeit für das Schreiben lasse.

Seit Oktober 1961 lebt Handke in einer Studentenbude in Graz. Er ist ein großer Briefeschreiber; die ganze Familie wird bedacht, insbesondere natürlich die Mutter. Er nimmt zwar das Studium durchaus ernst und lernt pflichtschuldigst, sieht sich aber immer mehr als Schriftsteller. Er schreibt Beiträge für den Rundfunk und Erzählungen. Mit den spärlichen Honoraren unterstützt er die Familie, wo er kann.

Nach Adolf Haslinger beginnt Handkes literarisches Schreiben mit einer »punktuell exakten Erinnerung von 1963«, dem Text »Über den Tod eines Fremden.«[27] An frühere Texte wollte er 1986 nicht mehr erinnert werden. 1988 spricht Handke im Gespräch mit Jože Horvat von Krk, wo ich vor mehr als 22 Jahren mein erstes Buch, ›Die Hornissen‹, geschrieben habe (NNL 56). Dort ereignete sich für den jungen Dichter eine Art schriftstellerischer »Initiation«.[28] Bereits 1965 brach er sein Studium kurz vor der dritten Staatsprüfung ab. Der Roman »Die Hornissen« und das Theaterstück »Publikumsbeschimpfung« waren vom renommierten Suhrkamp-Verlag in Frankfurt am Main angenommen worden und erschienen dann 1966. Im gleichen Jahr folgte sein berühmtberüchtigter Auftritt bei der »Gruppe 47«[29] in Princeton (USA), und er heiratete die österreichische Schauspielerin Libgart Schwarz.

Der weitere biographische Weg Handkes ist vielfältig dokumentiert und ausführlich beschrieben.[30] Zu Beginn seiner Karriere agierte Handke schrill, provokativ und durchaus polemisch. Er darf wohl als »Pop-Literat« der ersten Stunde bezeichnet werden. Im Rahmen dieser Betrachtungen geht es vor allem um Hin- und Abwendungen in seinen frühen Werken in Bezug auf seine slowenischen Wurzeln. Auch wenn beispielsweise im ersten Roman »Die Hornissen« Kindheitserlebnisse ver- und bearbeitet werden und auch hier schon Onkel Gregor eine wichtige Rolle spielt, so ist dies weniger unter dem Aspekt der Hinwendung zu Jugoslawien zu sehen als eine Betrachtung seiner Verwandten durch den jungen Handke.

Noch ist das Slowenische (bzw. das Jugoslawische) fast ausschließlich Kulisse. Der von Haslinger (und auch Hans Höller[31]) ins Zentrum gestellte Brief Handkes an seine Mutter vom 13. Januar 1963, in dem er dieser seinen Traum von Onkel Gregor in Russland mitteilte, ist tatsächlich konstituierend für Handkes Schreiben. Gregor, der verhinderte Taufpate Handkes, 1943 in Russland gefallen, wird zum Familienheiligen, der im Traum sogar eine Desertion erwägt (was 1986 in »Die Wiederholung« beim verschollenen Bruder Filip Kobals nur anklingt und erst 2010 in »Immer noch Sturm« geschehen wird). Auch in »Wunschloses Unglück«, in dem Handke den Freitod seiner Mutter erzählerisch thematisiert und versucht, dieses Ereignis vor allem für sich selber fassbar zu machen, spielt zwar das Slowenentum der Mutter (und der Familie) eine Rolle. Aber erst Mitte der 1980er-Jahre wird der Gregor-Traum mit Jugoslawien verknüpft und in neuem Licht erscheinen. Zunächst untersucht der junge Peter Handke vor allem die Sprache, die den Menschen verunstaltet und ihn hindert, sich seiner bewußt zu werden (NNL 14).