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Reinhard Brandt

Die Bestimmung des Menschen bei Kant

Meiner

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Inhalt

Vorrede

1 Einleitung

2 Die Bestimmung des Menschen – ein Th ema der zweiten Hälft e des 18. Jahrhunderts in Deutschland, speziell bei Kant

3 Der stoische Ursprung der Bestimmungsfrage

4 Der Mensch und die Geschichte der Menschheit

5 Kopernikus und Newton, Hypothese und Gewißheit

6 Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoff en?

7 Kritik der reinen Vernunft : Der Gerichtshof

8 Kritik der praktischen Vernunft : Die Gegenkritik

9 Kritik der Urteilskraft : Das Brückenwerk der Zwecke

10 Die Vierte Kritik

Schluß

Inhaltsübersicht

Anmerkungen Kapitel 1–6

Anmerkungen Kapitel 7–10

Literatur

Personenregister

Vorrede

Die sittliche Bestimmung des einzelnen Menschen und der Menschheit im Ganzen ist das dirigierende Zentrum der Kantischen Philosophie. Die drei Kritiken (1781 bis 1790) und mit ihnen die übrigen Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, zur Rechtsphilosophie, Ethik und Aufklärung sehen in der Beantwortung der Frage nach der »ganzen Bestimmung« oder dem Endzweck der Menschen das eigentliche Thema und Interesse unserer Vernunft und damit der philosophischen Reflexion. Diese prägnante Zielbestimmung ist nicht das Ergebnis einer isolierten Überlegung, sondern entsteht aus dem Zusammendenken vieler tradierter Systeme und avancierter Zeitgenossen; Kant stellt sich an die Spitze einer Modernisierung der deutschen Philosophie, bei der die schwerfällige Gelehrtenmetaphysik des Wolffianismus durch ein leicht handhabbares Konzept aus Logik, Physik und Ethik1 abgelöst wird; die Ethik behandelt die moralische Bestimmung des Menschen und damit den einzig unbedingten Wert. Von ihm aus wird die Philosophie organisiert; sie zeigt, »daß die Natur in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen.« (A 831) In diesem Sinn ist jeder Mensch Metaphysiker, der Philosoph klärt dieses Existential nur auf und verteidigt es gegen die Angriffe einer dogmatischen oder empiristisch-skeptischen Theorie. Hier liegt die einheitstiftende Idee der kritischen Philosophie, selbst die KrV wird verständlich nur von ihrem Ende her, der »ganzen Bestimmung des Menschen« (A 840), die alle Teile der Vernunft in einem Zwecksystem im Ganzen bestimmt und verlangt, daß die KrV sich als Gerichtshof begreift. Vor diesen Gerichtshof werden Thron und Altar zitiert, er ermöglicht die rechtliche Deduktion der Anwendung der Verstandesbegriffe auf Erscheinungen in Raum und Zeit (Analytik) und destruiert im Gegenzug die vorgebliche theoretische Vernunfterkenntnis von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (Dialektik). Wenn diese drei Gegenstände unseres Glaubens, Tuns und Hoffens aus dem Zugriff der theoretischen Erkenntnis befreit sind, dann können sie zur eigentümlichen Domäne der praktischen Vernunft werden. So wandert bei Kant das Zentrum der Philosophie von der Theorie der Schulmetaphysik zur Praxis, vom Erkennen zum Wollen, vom »Selbst denken« (Christian Wolff)2 zum »Selbst denken«, von der Frage nach der statischen Wesenbestimmung des Menschen, »Was ist der Mensch?«, zur Untersuchung seiner Zweckbestimmung in praktisch-dynamischer Hinsicht, damit aber von einer Orientierung an der Vergangenheit zum Selbstentwurf der Zukunft. Bei ihm wendet sich die Menschheit ab von der arché, dem Zeitanfang und der Herrschaft des Geburtsadels und der Erbsünde, hin zu dem, wozu der Mensch generell bestimmt ist. Kant beantwortet die Frage nach der finalen Bestimmung des Menschen so, daß sie in seiner Freiheit und moralischen Selbstbestimmung liegt, und er erweitert diese Idee vom einzelnen Individuum zur Menschheit im Ganzen; er gelangt aus der Reflexion über die Bestimmung der Menschheit zu einem einheitlichen philosophischen Begriff der Geschichte, der nicht mehr nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft der Menschheit umfasst.

Der Primat des Praktischen ist nicht nur ein Phänomen der Kantischen Philosophie und der zweiten Epoche der Aufklärung (1750– 1800), sondern er ist vorstrukturiert in der hellenistisch-römischen, vor allem stoischen Philosophie; der Neostoizismus löst den Aristotelismus und die Scholastik ab, die in Christian Wolffs System ihr Ende fanden. Die gemeinsamen Grundüberzeugungen der Autoren nach Wolff, nach 1750, lassen sich nur erklären durch die systematischen Konzepte, die sich Winckelmann und Rousseau, Adam Smith und Kant gleichermaßen durch die Lektüre besonders von Cicero und Seneca aneigneten, sie aktivieren ein gemeinsames Kulturgedächtnis und können sich in ihm verständigen. Der von der Bestimmungsfrage in Deutschland durchzogene Zeitraum ist die zweite Jahrhunderthälfte, 1750–1800. Es erweist sich unter diesem Aspekt als günstig, vom Hellenismus, ca. 320 v. Chr. bis kurz nach der Zeitenwende, als der ersten Moderne, und von der Überwindung mittelalterlicher Vorstellungen in der Neuzeit als der zweiten Moderne zu sprechen; die zweite greift auf die hellenistische Moderne in vielfältigen Formen zurück, zunächst in England (Francis Bacon, Hobbes) und Frankreich (Descartes, Gassendi), erst um 1750 in Deutschland, der hier nun nachweislich verspäteten Nation. Wie sich die erste Moderne der Ideen- und Polis-Philosophie von Platon und Aristoteles entgegenstellt und den Menschen als autonomen Weltbürger konzipiert, so opponiert die zweite Moderne gegen die Binnenraum-Philosophie des Mittelalters und entwirft den Menschen als Weltbürger in vertraglich zu organisierenden Staaten. Wie die hellenistischen Schulen durchgängig von einem Primat der Lebensphilosophie vor der Theorie um ihrer selbst willen ausgehen, so drängt die zweite Moderne zunehmend zu dem Bekenntnis des »man is born for action«.3

Zugleich gilt, daß die genannten Philosophen kreative Denker sind und nach dem Vorbild der Eklektiker sich jeweils die Gedanken zueigen machen, die sie überzeugen; dazu gehört auch die antike Vormoderne von Demokrit, Platon und Aristoteles. Kant ist wie seine Zeitgenossen in diesem Sinn Eklektiker; die ungeheuren Ressourcen, über die er beim kreativen Weiterdenken der Metaphysik verfügt, kommen aus allen antiken Schulen und aus den drei modernen Ländern England, Frankreich und Deutschland. In der Antike dominieren die hellenistischen Schulen, besonders die Stoa, aber niemand ist im 18. Jahrhundert noch bekennender Stoiker wie etwa Justus Lipsius um 1600; so greift Kant auch auf platonisch-aristotelische Lehren zurück, etwa bei der Benutzung des Formbegriffs. Die kritische Philosophie ist als Philosophie der Philosophie konzipiert, sie versteht sich als Summe und Vollendung der nach ihrem Selbsterkennen strebenden Vernunft und damit als Übergang in eine im Prinzip geschichtslose Metaphysik als Wissenschaft. Eklektik ja, aber unter einem jetzt gewonnenen Vernunftprinzip. Mit der Avantgarde aus England und Frankreich, immer noch mit John Locke, dann jedoch den beiden zeitgenössischen Denkern David Hume und vor allem Rousseau wird die Modernisierung der Reflexion und die Überwindung der absolutistisch orientierten Wolffschen Metaphysik, aber im Gegenzug auch des englischen Empirismus und Skeptizismus versucht.

Es gehört zur heuristischen Methode der vorliegenden Untersuchung, die Lehren und Systeme herauszupräparieren, mit denen sich die kritische Philosophie auseinandersetzte, die sie angriff oder aufgriff und weiterführte. Man kann philosophische Texte als fertige isolierte Produkte benutzen und dann über sie im je eigenen Horizont, etwa der Ontologie oder Anthropologie, verfügen; hier soll umgekehrt das Problem aufgesucht werden, auf das in der Philosophie eine Antwort gesucht wird, häufig im Rückgriff auf überzeugende Lösungen und Teillösungen, die aus verwandten Situationen schon bereitliegen. Die Rekonstruktion der Auseinandersetzungen, aus denen die Schriften, Vorlesungen und Notizen Kants entstanden, schützt wenigstens tendenziell vor Überformungen des Autors durch spätere Meinungen des Interpreten. Zu klären ist u. a., wie es möglich war, daß Kants Philosophie von den Zeitgenossen enthusiastisch begrüßt wurde, die Universitäten eroberte, daß sie sich selbst als Revolution begriff und sofort nach 1789 mit der Französischen Revolution in eine Parallele gesetzt wurde. Die Bestimmungsphilosophie ermöglicht u. a. die Apotheose der Freiheit und Vernunft auf derselben Grundlage, die in Frankreich von der Monarchie zur Republik der »vertu« und der »liberté, égalité, fraternité« führte. In der ersten Jahrhunderthälfte hätte sich jedermann mit Entsetzen abgewendet, 1789 wußte man, wovon geredet und wofür gehandelt wurde, und stimmte zu, sicher nicht aus ontologischen Gründen. Es soll versucht werden, das komplexe Reflexionssystem der kritischen Philosophie besser als bisher zu durchdringen und seine Faszination, die bis heute dauert, verständlicher zu machen. Dazu gehört, daß die klassizistische Orientierung Kants ernst genommen wird; die antiken Autoren sind im 18. Jahrhundert, also vor dem Historismus, präsente Autoritäten, an denen sich die eigenen Gedanken bemessen. Diese Präsenz wird die Interpretation Schritt für Schritt begleiten; sie will damit die Texte aus dem Oktroy späterer Verstehenshorizonte befreien und die Auseinandersetzungen Kants nicht nur auf die Konstellationen der Zeitgenossen beschränken, sondern in allen nachweislich relevanten Gedankenbezügen aufsuchen.

Die Bestimmung oder auch die »ganze Bestimmung des Menschen« wurde bisher nicht als Leitidee Kants ab ungefähr 1765 entdeckt;4 die Herkunft der drei Fragen »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« aus dem Neuen Testament (d. h. dem Hellenismus) und ihr Zusammenhang mit der Dialektik der KrV blieb unter den je eigenen Gedanken der Interpreten verdeckt; bei der sog. kopernikanischen Wende wurde die Erde betrachtet und die Sonne vergessen, während Kant beides und damit den Menschen als Bürger zweier Welten im Blick hat. Die KrV von 1781 wurde punktuell als juridischer Traktat freigelegt, als den sie sich überdeutlich selber darstellt, aber worin beruht die Notwendigkeit der Rechtsform des Werks im Ganzen? Diese Frage wurde noch nicht gestellt. Die KpV ist als Gegenkritik konzipiert, die eine neue Willensmetaphysik auf der Grundlage des nicht kritisierbaren Machtworts des kategorischen Imperativs errichtet; die bequeme Auffassung, Kant fordere die Universalisierbarkeit unserer Maximen; unser Entschluß etwa, alle Zäune der Natur zuliebe grün anzustreichen, ist für alle Beteiligten und Betroffenen verallgemeinerbar; aber das kann nicht gut Kants reiner Wille sein. Die Universalisierungsfalle tut sich unvermeidlich auf, wenn man Kants Grundprinzip der Moralphilosophie zeitgemäß auf Menschen restringiert – daß Kant von Vernunftwesen spricht und man da mit der Universalisierung für »alle Menschen« nicht gut vorankommt, merkte schon Schopenhauer an.

Die KdU erörtert in ihrem ersten Teil das ästhetische Urteil wegen seines Anspruchs auf notwendige Geltung; ohne diese postulierte Notwendigkeit gäbe es diese Kritik nicht. Schon die Romantik und Schiller nehmen diese Urteilslehre nicht mehr zur Kenntnis und eliminieren damit den Rechts- und Pflichtcharakter, den das ästhetische Urteil mit sich führt. Im zweiten Teil der KdU werden zwei teleologische Ansätze künstlich verbunden, der des Naturzwecks und der der moralischen Bestimmung. Der eine ist Gegenstand der theoretisch reflektierenden, der zweite der praktisch reflektierenden Urteilskraft. In einer bislang nicht entdeckten Mittelkomposition zeigt die Schrift den Ort des Rechtsnachweises des ersten Urteils, während das zweite so wenig einer Deduktion bedarf wie der kategorische Imperativ und das Erhabenheitsurteil. Daß auch die publizierte Einleitung der KdU den Gedanken durch die Mittelkomposition zeigt (wie David Hume in seiner zweiten Inquiry), wurde übersehen. Kant behauptet im Vorwort und in der Einleitung der KdU die Position einer Vierten Kritik, aber die Kantforschung wollte diese wiederholte Behauptung nicht zur Kenntnis nehmen, weil in den Bibliotheken nun einmal nur drei Kritiken akkreditiert sind. Nur wenn man die Metamorphose der kritischen Philosophie von 1781 (KrV) und 1788 (KpV) genau beobachtet, kann man nachvollziehen, wie es in der KdU von 1790 zum Gedanken dieser bislang unbemerkten Vierten Kritik kommen kann, nach Kant: kommen muß. In ihr steckt die nicht ausgeführte Frage der letzten Begründung und damit der Einheit der kritischen Philosophie überhaupt.

Die Ausführungen verstehen sich, wie schon deutlich geworden sein dürfte, auch als Beiträge zur Kantforschung; das im Titel angekündigte Thema ist nicht genau begrenzbar, und so wird das Buch auch zu einem Kompendium von vermeintlichen oder wirklichen Entdeckungen im erweiterten Gravitationszentrum der Bestimmungsfrage.

Gegenüber der reichen, höchst subtilen und detaillierten Forschung zu Kant ist schon vorweg einzuräumen, daß das hier gewagte Vorhaben nur mit »terribles simplifications« möglich ist. Wir können den Stand der Forschung nur noch peripher ermitteln und erschließen. Erich Adickes erfaßte in seiner German Kantian Bibliography (1895) 2832 Titel, der jetzige Stand beläuft sich auf ca. 34500 Veröffentlichungen.5

Teile des Buches wurden im Sommer 2005 im Wissenschaftskolleg zu Berlin vorgestellt und weiter entwickelt; im Oktober 2005 fand in Bologna eine Erörterung der juridischen Konzeption der KrV unter der Leitung von Carla de Pascale statt; im Sommer 2006 wurden ausgewählte Thesen des Buches in Halle (Rainer Enskat) diskutiert. Für vielfache kenntnisreiche Hilfe danke ich besonders Ulrike Santozki; Tanja Gloyna (Potsdam) spürte Fehler und Mißlichkeiten im fast fertigen Manuskript auf, Herr Hai-In bereinigte die Orthographie – vielen Dank.

1 Einleitung

Die These der Ausführungen

Die Frage nach der Bestimmung des Menschen, dem Zweck oder Endzweck meines Daseins und meines Handelns war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Spalding zu Fichte und Schlegel, von Mendelssohn zu Kant, Goethe und Schiller ein Thema der Konversation, der Predigten, der Popularphilosophie und der Spekulation. Der in der Bestimmung enthaltene Zweck des »Wozu bin ich da?« ist im Gegensatz zur akademischen metaphysischen Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« durch eine interne Spannung geprägt. Es muß ein höchstes Wesen – die Natur, Gott, die Vorsehung – geben, das den Zweck und damit den Grund des Daseins der Dinge verbindlich vorgibt und das bestimmt, wozu die Steine, die Pflanzen, die Tiere und am Ende auch der Mensch überhaupt existieren. Einzig der Mensch ist aufgerufen, seine Bestimmung zu erkennen und sie in seinem Tun und Lassen wissentlich zu erfüllen. Während die Frage »Was ist der Mensch?« nach der definierbaren Essenz des Menschen fragt,6 richtet sich die Rede von der Zweck-Bestimmung auf die Existenz: Wozu ist der Mensch da? Was soll er tun? Oder besser: Wozu bin ich da? Was soll ich tun? Die ontologische Wesensfrage zu stellen und zu beantworten ist Sache von Gelehrten, die ihre Erkenntnisse zwar den übrigen Menschen mitteilen können, aber an der Antwort ist eigentlich niemand interessiert, weil sich niemand außerhalb der Universitäten und der Schulen die Frage nach dem Wesen irgendwelcher Dinge oder auch des Menschen stellt. Anders unsere finale Bestimmung; wozu ich als Subjekt bestimmt bin, dies zu fragen und eine Antwort zu finden, daran ist jeder, so die generelle Auffassung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, originär interessiert; bei Kant ist die Erkenntnis der Aufgabe und des Zwecks seines Daseins das höchste Interesse jedes Menschen überhaupt und damit auch der Philosophie. Hier dreht sich die Frage um: Der Mensch ist nicht mehr Gegenstand einer gelehrten Definition, sondern er selbst stellt die Frage und wird zum Subjekt der Antwort. Die Gelehrten wie Christian Wolff mögen die Frage »Was ist der Mensch?« vollkommen korrekt und schulgerecht beantworten – das Dasein jedes Menschen selbst kommt in ihren Definitionen jedoch nicht vor, denn das Sein ist kein Prädikat, auf das ich durch genaue begriffliche Analyse stoßen könnte; bei der Frage dagegen, wozu ich bestimmt bin, oder, »warum es denn nöthig sei, daß Menschen existiren« (V 378,26) kann ich getrost voraussetzen, daß ich existiere, denn meine eigene Existenz bedarf keines Beweises und keines »ergo sum«.

Es sei schon hier darauf verwiesen, daß Kant auch sonst die Wesensfrage zugunsten der Frage nach den mathematischen Relationen und den Kausalfunktionen der Dinge und einer erforschbaren inneren Struktur beiseite läßt. In der KrV ist von einem Fluß und einem Haus die Rede, von einem Hund und einem Teller und natürlich von Menschen; man sucht jedoch vergeblich in der kategorialen Ausrüstung des Verstandes und auch der Vernunft nach einer Möglichkeit, diese Dinge als solche zu erkennen. Kants Antwort: Wir kennen zwar nicht das Wesen und die Realessenz eines Flusses; wir können jedoch einen Gegenstand x annehmen und z. B. Funktionen des fließenden Wassers mathematisch und experimentell erkennen und damit unsere Erkenntnis dessen, was flüssig (und nicht gasförmig oder fest) ist, korrigieren und erweitern.7 Die KrV ist keine Theorie der Alltagserfahrung, sondern der wissenschaftlichen Klärung der Frage, was eigentlich notwendig als Erfahrung prätendiert werden kann und was nicht. So könnte man sagen, daß wir zwar nicht wissen, was der aus der Alltagserfahrung vorausgesetzte Mensch in seinem Wesen ist, daß sich jedoch trotzdem die Eigentümlichkeit seiner Bestimmung erkennen lässt. Genau dies ist das gegen die Scholastik gerichtete Erkenntnisverfahren der Neuzeit: Eigenschafts- und Relationenerkenntnis gegen Wesenswissen, Funktionen, nicht Substanzen können erkannt, d. h. in beliebig wiederholbarer Form demonstriert werden. Während die Wesenserkenntnis die weitere Forschung blockiert, setzt die neue Konzeption eines Gegenstandes x (Lockes »I know not what«) mit einer in die Zukunft hinein offenen Erkenntnis der im und durch das x gebündelten Eigenschaften und Relationen die Forschung frei; dies ist genau die Selbstgewinnung der modernen, bis jetzt praktizierten Wissenschaft.

Die Bestimmungsfrage ist stoisch und entspricht den neustoischen Konsensen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die von Rousseau zu Adam Smith, von Diderot zu Kant reichen. Im Einklang mit der Stoa lautet das Ergebnis der Nachfrage der Menschen, daß alles andere Seiende dieser Welt keine eigenen, in ihm selbst liegende Zwecke und Absichten hat, sondern nur für den Menschen da ist und daß nur dem Menschen eine Zweckbestimmung an ihm selbst zukommt. Seine Bestimmung ist, wie es Kant pointiert entwickeln wird, seine Selbstbestimmung. Mit dieser Pointe entfallen sogleich zwei Anwärter, die Bestimmung des Menschen auszumachen: Das hedonistische Leben (Epikur) einerseits und das rein theoretische Leben (Platon) andererseits; zum Hedonismus kann der Mensch nicht bestimmt sein, weil er sich in der Erfüllung der Bedürfnisse der außengelenkten Neigungen selbst verliert statt sich selbst zu bestimmen; zur reinen Theorie als solcher kann der Mensch nicht bestimmt sein, weil sie seine wesentlichen Lebensinteressen nicht befriedigt und sie nur einer kleinen Elite zugänglich ist, wie es Platon vorsieht. So bleibt nur der mittlere Weg der »vita activa«, der praktischen Bestimmung, übrig, die nun tatsächlich die Defizite des Hedonismus und der Theorie kompensieren und sich als die wahre Bestimmung jedes Menschen ausweisen kann.

Der Übergang vom statischen objektiven Wesen der ontologischen Frage »Was ist der Mensch?« zur dynamischen, subjektbezogenen und praktischen Bestimmung markiert in der deutschen Philosophie den Weg von Christian Wolff und den Wolffianern zu Kant, oder auch von der ersten zur zweiten Phase der Aufklärung mit der Bruchstelle um 1750. Die Wolffsche Philosophie wird heute korrekt als Schulmetaphysik geführt; sie sieht die Fragen von Gott, der Welt und der menschlichen Seele, aber auch das menschliche Handeln und die Politik primär als Gegenstand der akademischen Erkenntnis. Das Handeln folgt der Erkenntnis, die entsprechend den Vorrang gegenüber der Praxis behauptet, auch wenn sie sich dieser Praxis verpflichtet weiß, wie Christian Wolff betont. Kant fragt: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« Hätte Wolff diese, auf die drei christlichen Tugenden des Glaubens, Hoffens und Liebens zurückdatierbaren Fragen formuliert, hätte er schreiben müssen: »Was kann der Mensch wissen? Was soll der Mensch tun? Was darf der Mensch hoffen? Und abschließend: Was ist der Mensch?« Bei Kant dagegen erscheint das dreifache, an der Antwort durch seine eigene Vernunft interessierte »Ich«, und die vierte Frage wird in keiner der Druckschriften gestellt, weil die Wesensbestimmung des Menschen obsolet geworden ist. Dies steht für Kant mindestens seit 1764 fest.8 Der Mensch ist nur als homo in spe bestimmbar, als Mensch in seiner nie endenden moralischen Selbstgenese mit dem Blick auf den einzigen absoluten Wert und Zweck, die Moral.

An die Stelle der noch von Wolff kultivierten Ontologie tritt um 1750 eine Existenzphilosophie, die sich im praktischen Ich-Bewußtsein verankert weiß. Die Leitfrage unter den drei genannten Ich-Fragen ist, das läßt sich genau verfolgen, entgegen der scholastischen Tradition die zweite: »Was soll ich tun?« Für Platon und Aristoteles und noch den Spätscholastiker Wolff ist das A und O des Menschen und damit auch der Philosophie die theoretische Erkenntnis; das wird von Platon an verschiedenen Stellen seiner Schriften ausdrücklich gesagt,9 Aristoteles wiederholt es in der Nikomachischen Ethik10 und bei Descartes und noch bei Christian Wolff setzt die praktische Philosophie die Metaphysik voraus, also die theoretische Ontologie, Theologie, Kosmologie und Psychologie.11 Die Brüche, die Kant vollzieht, sind subtil und kompliziert, weil sie immer zugleich Bruch und Bewahrung sind, weil sich die Reform im Medium der alten Metaphysik vollzieht und daher für den Außenstehenden schwer sichtbar ist. Sie beinhalten jedoch diese Zeitenwende: Fort von der letztlich noch mittelalterlichen Metaphysik zum Wagnis einer Philosophie, in der jeder die moralische Bestimmung des Menschen kennt und dem Philosophen nur die entscheidende Rolle einer Aufklärung dieser Kenntnis und der Verteidigung gegen vermeintliche Ansprüche der spekulativen Vernunft zukommt.

Die Bestimmungsliteratur löst die cartesische Frage nach der Gewißheit meiner Erkenntnis durch die Frage nach dem Ziel meines Tuns ab und stellt sich ihr entgegen: Ich finde meine Identität und Bestimmtheit dezidiert nur im eigenen Handeln, das nur als selbstbestimmtes möglich ist. Entsprechend ist der Endzweck des Menschen, sich aus der animalischen Fremdbestimmung zur Autonomie »empor zu arbeiten«12 und sich gänzlich aus sich selbst in allem Erkennen, Handeln und ästhetischen Fühlen zu bestimmen. Diese paradoxe Selbst-Verwirklichung aus einem dafür zweckmäßig angelegten Naturfundus ist die Bestimmung und Aufgabe jedes Einzelnen und der menschlichen Gattung insgesamt.

Die Folie der Bestimmungsfrage bewahrt von vornherein vor einer nihilistischen Haltung im Unterschied etwa zur Sinnfrage, die noch offen läßt, ob es einen »sensus vitae« überhaupt gibt und ob unser Dasein nicht am Ende sinn- und zwecklos ist. Die vorausgesetzte Bestimmungsmacht gleicht dem Vater in Cervantes’ Don Quijote, der drei Söhne hat und sie zu gegebener Zeit zu sich ruft und ihren Beruf und Lebensweg festlegt: Einer von ihnen soll dem König als Kaufmann dienen, der zweite im Wehrstand als Soldat, und der dritte soll Priester werden.13 Das sind die klassischen, nach den drei Ständen von Nährstand, Wehrstand und Lehrstand geordneten Lebenswege, zu denen der einzelne Mensch jeweils bestimmt wird. Wozu, so die Frage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hat der Weltvater, die Natur oder die Vorhersehung oder der Weltlogos mich generell bestimmt? Welches ist mein Lebensberuf als Mensch, was soll ich hier – im Rahmen der vorausgesetzten Vernunft – nun genau tun und nicht tun? Vielleicht können wir ergänzen: Wozu bin ich als Bürger oder Mensch schlechthin bestimmt, nachdem die Orientierungsfunktion der drei besonderen Stände unter der Obhut des Königs oder des Vaters der Feudalgesellschaft zerfällt oder schon zerfallen ist und auch die Kirche mir keine überzeugende Antwort mehr gibt? Kant (gemäß einer Vorlesungsnachschrift): »Allgemein führen wir noch an: daß es ganz und gar nicht hier unserer Bestimmung gemäß ist, uns um die künftige Welt viel zu bekümmern; sondern wir müssen den Kreis, zu dem wir hier bestimmt sind, vollenden, und abwarten, wie es in Ansehung der künftigen Welt seyn wird. Die Hauptsache ist: daß wir uns auf diesem Posten rechtschaffen und sittlich gut verhalten, und uns des künftigen Glücks würdig zu machen suchen. […] Die Hauptsache ist immer die Moralität: diese ist das Heilige und Unverletzliche, was wir beschützen müssen, und diese ist auch der Grund und der Zweck aller unserer Untersuchungen. Alle metaphysische Speculationen gehen darauf hinaus. Gott und die andere Welt ist das einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen, und wenn die Begriffe von Gott und von der andern Welt nicht mit der Moralität zusammenhingen, so wären sie nichts nütze.« (XXVIII 300,38–301,22) Wir sind der Endzweck der Schöpfung und fühlen uns dazu »berufen« (B 426), dieser unserer Bestimmung gerecht zu werden. Die Perspektive ist durch das Woher und Wohin immanent und transzendent; die »ganze« Bestimmung bezieht sich auf das Leben hier und, im moralischen Vernunftglauben, dort. »Die Hauptsache ist immer die Moralität« – die Bestimmung des Menschen kann entsprechend nicht in eine Richtung gehen, die später Kierkegaard, Heidegger oder z. B. der späte Tugendhat suchen, die Religion, das Sichsammeln auf sich selbst oder auch die Mystik.14 Nach Kant sind dies alles feine Gedanken, die aber den unbedingten Zweck unseres Hierseins verfehlen, die Moral unseres Handelns. Es kommt nicht auf Analysen des Daseins an, sondern auf die verbindliche Angabe des Zwecks unseres Hierseins; ohne gesetzliche Freiheit und Moral findet man nach Kant keine konsistente Antwort.

Die Bestimmungsfrage schließt außer der Sinnfrage auch eine Spekulation über das Schicksal oder »fatum« aus. Kants Kommentar: »Es gibt indessen auch ursurpierte Begriffe wie etwa Glück, Schicksal, die zwar mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen, aber doch bisweilen durch die Frage quid juris, in Anspruch genommen werden, da man alsdann wegen der Deduktion derselben in nicht geringe Verlegenheit gerät […].« (A 84). Die Bestimmung des Menschen ist deswegen nicht sein Schicksal, weil das Schicksal uns blind von außen trifft, die vernunftgeleitete Bestimmung des Menschen liegt dagegen in seiner Vernunft und Natur, in seinem internen Telos, sich selbst zu bestimmen. Und doch – zitiert Kant nicht zustimmend das stoische Diktum »Quem fata non ducunt, trahunt« (»Wen das Schicksal nicht führt, den schleppt es gewaltsam mit sich«)? Sind wir also dem »fatum« unterworfen? Zum einen ist das stoische »fatum« nicht blind, sondern ist nichts anderes als der Weltlogos.15 Zum anderen unterliegen wir unausweichlich der moralischen Vernunftbestimmung, die uns zur Selbstgesetzgebung und zum Gehorsam gegen das Selbst-Gesetz zwingt. Unsere Freiheit besteht in der Unterwerfung unter die Notwendigkeit der Vernunft. Mit dieser Selbstbastion und der mitgesetzten Realität von Gott und Unsterblichkeit sind wir vor dem blinden unvernünftigen Schicksal gewappnet; es hat in der Kantischen Welt keinen Ort.

Der Mensch, der die Bestimmung des Menschen zum Thema seiner eigenen Reflexion macht, ist auf seine eigene Vernunft angewiesen, um die Antwort zu finden, denn die Natur oder Vorsehung sagen ihm nur, was er nach guter Prüfung aller Argumente sich selber sagt; da tritt kein Vater auf, der ihn zu sich ruft, auch die christliche Offenbarung, die man nur genau zu lesen brauche, wird nicht mehr ins Spiel gebracht, es sei denn, um im Hinblick auf ihre Vernünftigkeit (Lockes »reasonableness«) überprüft zu werden. Der Mensch also eruiert mit seiner eigenen Vernunft, wozu ihn die über alles waltende Vernunft in das Hier gerufen haben könnte. Die Antworten, die die Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland auf diese Frage geben, fallen unterschiedlich aus. Johann Joachim Spalding, der 1748 mit seiner Betrachtung über die Bestimmung des Menschen den Anstoß zu der Epochendebatte gab, ist, wie sich zeigen wird, konservativ; er hält an der Vorstellung fest, durch seine Vernunft erschließen zu können, was der verborgene Vater der Menschen beschlossen hat. Kant dagegen zieht die Antwort auf die vom Menschen selbst gestellte Frage noch einmal auf den Menschen zurück: Wir sind durch unsere eigene Vernunft dazu bestimmt, uns selbst zu bestimmen. Der Plan der Natur ist, paradox formuliert, daß wir uns gemäß unserer Natur von der Natur emanzipieren. Unsere Vernunftnatur bestimmt uns zum »sapere aude«, zur Freiheit und damit zur Selbstgesetzgebung. Die Formel erhält dadurch ein transitorisches Programm: Es operiert zunächst mit einer dem Menschen externen göttlichen Instanz; sie bewahrt ihn davor, in einem sinn- und richtungslosen Atomismus ins Nichts zu fallen oder an ein blindes Schicksal zu glauben. Die Antwort auf den genauen Inhalt der Bestimmung fällt dann jedoch so aus, daß die externe Instanz den Menschen auf sich selbst zurückverweist, wir also aus einer drohenden Fremdbestimmung (wie die drei Söhne durch den Vater) in die Selbstbestimmung gerettet werden. Unsere eigene Vernunft entdeckt und diktiert, wozu wir bestimmt sind und was wir hier tun sollen; aber dies geschieht nicht durch eine Selbstermächtigung, auf die wir aus eigener Willkür auch verzichten könnten. In einer Zeit, in der Rousseau seinen Staat weder christlich noch atheistisch konzipiert, sondern Gott in einer Zivilreligion als unverfügbare Macht einführt, in dieser Zeit wird in der deutschen Moralphilosophie eine ähnliche Figur entwickelt: Eine überpositive Macht wird in einer Art »invocatio Dei« gesetzt, aber nicht mit einer besonderen inhaltlichen Kompetenz ausgestattet. Die Namen »Vorsehung« oder »Gott« bezeichnen keine erkennbare Entität oder gar den Gott einer Offenbarung, sondern eine Idee, die jedoch für alles Handeln denknotwendig ist. Eben dies ist der Sinn einer Idee, der Kant objektiv-praktische Realität zuschreibt. Sie wird in der besonderen subjektivistischen Wende notwendig aus der Selbstbestimmung generiert. »Deus est in nobis«, lautet eine der Formeln der aufgeklärten Selbstfindung oder Selbsterzeugung.

Es gibt keine Kantische Schrift mit dem Titel »Die Bestimmung des Menschen«, und doch läßt sich gut dokumentieren, daß Kant selbst dieses Thema häufig als das eigentliche Zentrum seiner Philosophie bezeichnet; in ihm konvergieren nach seinen Selbstaussagen die drei Kritiken von 1781 bzw. 1787, 1788 und 1790, und auf dieses Thema zielen in der Autorintention mehr oder weniger die Publikationen und Überlegungen, die neben und nach den drei Kritiken auf verschiedenen Gebieten des menschlichen Wissens entstehen. Alles Vernunftinteresse der Menschen und alle Bemühungen der Philosophie zielen letztlich, so die KrV, auf »die praktische Bestimmung des Menschen« (A 464). Der erste Satz der KrV lautet: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« (A VII)16 Um 1777 zitierte Kant wörtlich aus der Metaphysik von Aristoteles;17 er mußte wissen, daß deren erster Satz lautet: »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen« – diese Feststellung wird, so vermuten wir, hier aufgenommen und gezielt umformuliert. Nicht das Streben aller Menschen nach – für Kant: theoretischem – Wissen ist das grundlegende Datum einer Metaphysik, sondern das Vernunftinteresse an der praktischen Bestimmung im Rahmen von Bedingungen, die die theoretische Vernunft nicht mehr erfüllen kann und, so fordert die autonome Moral, erfüllen darf. Der Philosoph weiß um den metaphysischen Hunger und Durst, der die Menschen umtreibt.

Um welche Vernunft-Fragen, deren Beantwortung unser Erkenntnisvermögen überfordert, handelt es sich genauer? Kant beginnt sein ungefähr anderthalb Jahrzehnte meditiertes Hauptwerk sicher nicht ohne eine punktgenaue Zielvorstellung dieses Anfangs. Hier also liegt die erste Aufgabe des Interpreten: Worauf richten sich die offensichtlich zentralen, alles in Gang setzenden Fragen der menschlichen Vernunft, also von jedermann? Betreffen sie die beiden Themen der »Transzendentalen Ästhetik«, Raum und Zeit? Oder den Bereich der »Transzendentalen Analytik«, den Verstand, also die Urteilstafel, die Kategorientafel, die Grundsätze? Mit Sicherheit nicht, denn hier handelt es sich um spezielle Themen der Philosophie als einer Angelegenheit von Gelehrten, aber nicht um Fragen, die jeden Menschen als Vernunftwesen angehen und um derentwillen die Gelehrten ihr Geschäft betreiben. Kant sagt nicht, die Probleme der transzendentalen Ästhetik und Analytik seien mit einem Interesse der menschlichen Vernunft verbunden. Außerdem zeigt ja die KrV, daß die Bereiche von Anschauung und Verstand keineswegs »alles Vermögen der menschlichen Vernunft« übersteigen, sondern eindeutig in der Transzendentalphilosophie beantwortet werden können. Die Fragen, mit denen das Hauptwerk beginnt, können sich folglich nur auf die drei Themen der »Dialektik« beziehen, also die rationale Theologie, Kosmologie und Psychologie. Hier werden Dinge verhandelt, die nach der Überzeugung des 18. Jahrhunderts jeden interessieren und umtreiben, Gott, die Welt im ganzen und die Natur der menschlichen Seele, besonders im Hinblick auf die Unsterblichkeit. Entsprechend heißt es, daß der Mathematiker für die Auflösung dieser drei Fragen und die Erkenntnis der praktischen Bestimmung des Menschen »gerne seine ganze Wissenschaft dahingäbe« (A 463–464); es handelt sich bei ihnen um den »uns so innigst angelegenen Theil[e] menschlicher Erkenntnisse« (X 269,2–23), »die größeste Angelegenheit des Menschen, womit die Metaphysik als ihrem Endzweck umgeht« (XX 329,9–10). Und es sind notorisch die Themen und Fragen, die der alles zermalmende Kant für theoretisch unbeantwortbar hält (entgegen der Meinung der bisherigen Metaphysik, die in ihrer dreiteiligen »metaphysica specialis« gelehrte Antworten präsentierte).

Nun korrespondieren den drei Bereichen der »Dialektik« die bekannten drei Fragen aus der »Methodenlehre«: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« In ihnen vereinige sich »alles Interesse meiner Vernunft« (A 805). Dieser Zusammenhang soll später näher erläutert werden: Die erste Frage bezieht sich ursprünglich18 auf Gott, die zweite auf unser freies Handeln in der Welt und die dritte auf die Unsterblichkeit der Seele; das kann eine nähere Untersuchung klar vor Augen führen.

»Alles Interesse meiner Vernunft« soll sich in den drei Fragen vereinigen. Später wird diese Einheit in der nachgeschobenen (aber nie publizierten) älteren Frage: »Was ist der Mensch?« thematisiert werden; vorerst aber stellt Kant sich mit dem Hinweis auf die Vereinigung und Einheit in eine Tradition, die in der Einheit der moralischen Bestimmung des Menschen die einzige Möglichkeit seiner eigenen Einheits- und Identitätsfindung sieht. In der KpV heißt es z. B.: »[Die Glückseligkeit] ist die Materie aller seiner Zwecke auf Erden, die, wenn er sie zu seinem ganzen Zwecke macht, ihn unfähig macht, seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen und dazu zusammen zu stimmen.« (V 431,19–22) Ohne die Erfüllung der Vernunftbestimmung des Menschen zerfällt das Leben in eine bunte Vielfalt, und wir wissen nicht, wer wir sind. Der Mensch bedarf eines einheitlichen Endzwecks seines Daseins, um eine bestimmte, mit sich identische Person zu sein. Und diese Identität ist am Ende sein eigenes Werk, weil sie die Leitidee seines Handelns ist. Eben dies ist die Tat-Bestimmung des Menschen, nicht seine Definition, denn was er in seinem Wesen ist, ließe sich – wenn es möglich wäre – nur erkennen, nicht aber selbst bewirken. Die antischolastische Frage lautet: Was soll ich tun, um ich selbst zu sein?

Die KrV und damit die gesamte kritische Philosophie entspringen in der Selbstdarstellung des Autors einer existentiellen praktischen, nicht einer akademisch-spekulativen Aufgabenstellung. Demokrit, der Atomist und Zeitgenosse Platons, schrieb, er wolle lieber eine einzige ursächliche Erklärung finden, als daß ihm das Perserreich zueigen werde,19 dieselbe Hochschätzung der Theorie um ihrer selbst willen äußern Platon und Aristoteles.20 Nach Kant dagegen gäbe, wie wir sahen, der Wissenschaftler par excellence, der Mathematiker, für die Erkenntnis der praktischen Bestimmung des Menschen gerne seine ganze Wissenschaft dahin, vermutlich eine bewußte Gegenpointe zu Demokrits tradierter Äußerung. Zur Bestätigung kann eine Passage aus dem Nachlaßwerk dienen: »Der Zweck den die Vernunft mit der Mathematik hat ist sie als das Ausgebreitetste und sicherste Instrument zu jeder technischen Absicht (der Kunst) in seiner Gewalt zu haben also irgendeinen Nutzen für Objecte der Sinnlichkeit. – Ein besserer Mensch zu seyn oder zu werden liegt nicht in diesem Plane und obgleich jede Cultur der Vernunft vornehmlich je reiner und dem Einfluß der Sinne aufs Begehrungsvermögen unabhängiger sie ist den Geist zum Denken überhaupt stärckt so bleibt es doch unbestimmt welchen Endzweck die Vernunft ihm anweise und an dem vollendetsten Mathematiker hat man nicht den mindesten Grund einen moralisch/besseren Mensschen anzutreffen […].« (XXI 244,2–11) Die Klärung spekulativer Probleme ist nur ein Mittel, die praktische Bestimmung des Menschen vor theoretischen Zweifeln und Einwänden zu bewahren. Ein Eigenwert kommt ihnen entschieden nicht zu, und zwar sowohl in der philosophischen Spekulation wie auch psychologischempirisch: Die Frage, wozu er in diesem Leben bestimmt ist, findet der Wissenschaftler spannender und wichtiger als die Lösung eines Problems seiner speziellen Disziplin, womit jedoch über die interne Autonomie und Interesselosigkeit der theoretischen Erkenntnis als solcher nichts gesagt ist.21 Die KrV sieht ihr eigenes Zentrum also in der praktischen Vernunftbestimmung des Menschen, in deren Dienst die gelehrten Untersuchungen über Anschauung und Verstand unternommen werden. Ihr Ergebnis ist nur negativ, wie es zunächst heißt. Zunächst, denn diese Auffassung wird nach 1781 geändert und passt nicht mehr, wie wir sehen werden, in die Selbstinterpretation von 1790, in der die KrV umstilisiert wird zu einer »Kritik des Verstandes«. Diese ist der Theorie gewidmet, sie steht jedoch nach wie vor unter der Ägide der Bestimmungsfrage, die nun in anderen Teilen der Philosophie thematisiert wird.

Am alles bestimmenden Ende der KrV wird im Architektonikkapitel gesagt, Philosophie sei »die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft.« (A 839) Ohne den mosaischen Tiefsinn dieses Satzes ausloten zu wollen, greifen wir die Formel von der Teleologie der menschlichen Vernunft heraus: Wenn die gesamte kritische Philosophie unter der Zweckidee der Bestimmung des Menschen steht, dann muß sie final auf diesen Zweck hin organisiert sein; die Vernunftnotwendigkeit, die sich in ihr geltend macht, hängt nicht an zielblinden Demonstrationen, sondern an strategischen Überlegungen der Zielerfüllung. Wenn gesagt wird, Gedanken ohne Inhalt seien leer, Anschaungen ohne Begriffe seien blind (A 51),22 dann können sich die Gedanken der kritischen Philosophie selbst keinen Inhalt in einer Anschauung suchen, sondern bedürfen eines anderen Kriteriums oder dirigierenden Zentrums: Eben dies läge gemäß der Teleologie der menschlichen Vernunft in der Bestimmung des Menschen und damit im höchsten Vernunftinteresse. Verfolgt man die wahrhaft halsbrecherischen Kantischen Beweise, man denke an so spekulative Begriffsbewegungen wie die in der Erhabenheitsanalyse der KdU, dann kann die Annahme erlösend zu sein, daß über Gelingen und Misslingen der Zweck des Ganzen entscheidet. Es heißt z. B., die praktische Freiheit sei angewiesen auf den theoretischen Nachweis der transzendentalen Freiheit im negativen Sinn;23 aber was geschähe, wenn einerseits der kategorische Imperativ ein Faktum des Bewusstseins ist und andererseits die Transzendentalphilosophie die Meinung, wir seien frei, als Illusion erwiese, so wie es z. B. David Hume tat? In der »teleologia rationis humanae« ist offenbar die theoretische Vernunft a priori auf das praktische Ziel gerichtet und erfüllt das Desiderat der praktischen Vernunft so, wie die Postulatenlehre der KpV die objektive praktische Realität von Gott und Unsterblichkeit nur auf Grund des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft nachweist.

Die Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« ist ein Problem der Erkenntnis; die Bestimmung des Menschen führt dagegen auf eine weitere epistemische Komponente, die des Bewusstseins. Der Mensch kann sich seiner Bestimmung genau bewußt sein, auch wenn er sie nicht wie der Philosoph klar und deutlich zu erkennen vermag. Im Bewusstsein bin ich selbst engagiert, es teilt sich meinem ganzen Dasein mit und kann als Selbstgefühl gespürt werden; die Erkenntnis dagegen bewegt sich von vornherein auf dem ichneutralen Gebiet austauschbarer Propositionen. Mit der Dominanz der praktischen Philosophie und der Bestimmungs- und Zweckfrage meines Daseins muß notwendig die Rückbindung der Erkenntnis an das agierende Subjekt wachsen und damit der Bewußtseinsbegriff gegenüber der rationalistischen Schulmetaphysik an Bedeutung gewinnen. Hierzu gehört auch die neue Relevanz des Interesses, das zum höchsten Bereich in der kritischen Philosophie avanciert; an der Bestimmung unseres Daseins nehmen wir notwendig ein Vernunftinteresse und sind somit immer schon latente Metaphysiker, denn über dieses Vernunftinteresse hinaus gibt es auch keine Philosophie mehr. Die Vorläuferfigur des Interesses ist die stoische »cura«, Lockes »concernment«, die Selbstsorge des Menschen und Lebewesens.

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