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Margret Schwekendiek

Gelebte Welten

Anthologie aus Zukunft und Vergangenheit





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Gelebte Welten - Anthologie aus Zukunft und Vergangenheit

von Margret Schwekendiek

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 169 Taschenbuchseiten.

 

Dieses Buch enthält folgende Erzählungen:

Historie - Mit dem Tod auf Du und Du

 

Fast-Realität

1. Existenzminimum

2. Eigentlich Bielefeld! Oder doch nur ein Phantom?

3. Am Ende steht das Wort

4. Pack den Zombie in den Tank

5. Konsumverweigerung

6. Die Krone der Schöpfung

 

Fantasy

7. Des Teufels Musterschüler

8. Der Wolf in uns

9. Wintermädchen

10. Teuflisches Spiel

11. Komm, spiel mit mir

12. Geliebte zwischen den Welten

 

Ein bisschen Science-Fiction

13. Das System hat immer recht

14. Profitable Grüße

15. Nachfolger gesucht

16. Gebrauchsmuster

17. Gefühle regieren die Welt

18. Sie sind nur Menschen

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

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HISTORIE - Mit dem Tod auf Du und Du

Lilaque war nicht ihr richtiger Name, und es durfte auch niemand wissen, dass sie eigentlich eine Frau war. Lilaque lebte ein fremdes Leben, aber das tat sie gut. Als Mitglied der Assassinen-Gilde „Ira Dies“ –„Zorn Gottes“ hatte sie die Kunst zu töten perfektioniert. Niemand durfte jedoch erfahren, dass sie den Platz ihres Bruders eingenommen hatte, der bei einem verpatzten Auftrag ums Leben gekommen war. Lilaque hatte den Auftrag zu Ende geführt und war wie selbstverständlich an den Platz gerückt, den Armando eingenommen hatte. Der Zufall war ihr bei dieser Auswechslung zu Hilfe gekommen. Der einzige Mensch in der Gilde, der Armando persönlich gekannt hatte, war der damalige Gilden-Abt Louis de Bougainvillea gewesen, den jedoch die Pest dahingerafft hatte.

Lilaque – diesen Namen hatte Armando selbst für sie gewählt - hatte sich zurückgemeldet, und niemandem war eine Veränderung aufgefallen. Seitdem lebte die Frau eine Lüge, verfügte über relativ viel Geld, besaß immer einen sicheren Unterschlupf und akzeptierte die Gefahr, entdeckt zu werden. Sie hatte allgemein verbreitet, dass sie einer besonders strengen Sekte angehörte, es sei ihr verboten mit Frauen zu verkehren, Teile ihres Körpers zu entblößen oder die körperliche Reinigung in Gegenwart anderer zu vernichten. So hoffte sie, einer Entdeckung zu entgehen. Sie trug grundsätzlich weite Kleidung, die ihre Gestalt verbarg, auf dem Kopf verdeckte ein Turban ihr dichtes schwarzes Haar.

Die Assassinen-Gilde war von den Kreuzrittern gegründet worden, ganz im geheimen natürlich, und eines der Ziele sollte es sein, Sultan Saladin zu töten. Aber nicht einmal die Sarazenen, die zur Gilde gehörten, waren so vermessen, einen Versuch in dieser Richtung zu wagen. Die Meuchelmörder konnten im Prinzip von jedermann angeheuert werden, der über das nötige finanzielle Polster verfügte und mit seinem Auftrag nicht gegen die selbst gesteckten Beschränkungen verstieß. So galten Kinder und schwangere Frauen als Tabu, jeder Assassine würde sogar sein eigenes Leben einsetzen, um sie zu beschützen. Davon abgesehen gab es jedoch kaum einen Hinderungsgrund für einen Mord, und die Gilde garantierte die Ausführung des Todes ganz nach Wunsch; ob öffentlich oder geheim, langwierig und schmerzhaft, oder schnell und unbemerkt - auch dann, wenn abzusehen war, dass es das Leben des Mörders selbst kosten sollte. In diesem Fall stieg jedoch der Preis, denn fast alle Assassinen versorgen ihre Familien mit Geld.

Lilaque befand sich gerade auf dem Weg ins Gildenhaus, sie sollte einen neuen Auftrag bekommen. Ein wenig fröstelnd zog sie ihren Umhang enger um die Schultern. Es war Winter geworden, die Temperaturen hatten sich abgekühlt, und die Ungläubigen rüsteten sich für das Weihnachtsfest.

Der seltsame Glaube der Franken hatte absurde Ausmaße angenommen. Wie konnte man ein Kind anbeten, dessen Eltern nicht einmal genug Geld und Einfluss besaßen, um in einer Herberge Unterschlupf zu finden? Überhaupt, lehrte der Prophet nicht ausdrücklich, dass nur Gott selbst angebetet werden durfte? Welch ein Unsinn zu behaupten, der Allmächtige hätte sich herabgelassen, als Mensch unter Menschen zu leben, um dann als Aufrührer einen schmählichen Tod am Kreuz zu sterben! Welch eine Vermessenheit, dass ausgerechnet die Franken glaubten, sie hätten mit diesem Märchen ein Anrecht auf die Herrschaft über die Welt!

Lilaque verachtete die Franken fast noch mehr als die Männer ihres eigenen Volkes. Warum wurden Frauen entweder unterdrückt oder derart verehrt, dass sie unwirklich erschienen? Die Realität führte beide Ansichten ad absurdum. Frauen arbeiteten hart, um den Lebensunterhalt zu sichern, sie gebaren Kinder, zogen sie auf und sahen sie oft genug sterben, bevor das sechste Lebensjahr erreicht war. Sie schickten ihre Männer und Söhne in den Krieg oder in die Minen, und sie beweinten ihren Tod - aber sie gaben niemals auf. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Würde jemand die wirkliche Identität von Lilaque entdecken, wäre ihr ein grausamer Tod gewiss - ebenfalls auf der einen wie auf der anderen Seite.

Still und unauffällig betrat sie das Selamlik, in dem Roger von Tours und Hadschi Mahmut al Daud gemeinsam residierten. Rund ein Dutzend Assassinen befanden sich im Raum, jeder vollständig bewaffnet und eingehüllt in wärmende Kleidung. Bis auf die Augen waren die Gesichter verborgen, niemand kannte die Identität des anderen.

Lilaque wunderte sich ein wenig; welch ein Auftrag mochte es sein, der eine so große Anzahl Mörder notwendig machen konnte? Absolute Stille trat ein, als Hadschi Mahmut aufstand. Seine dunklen Augen glühten fanatisch. Er hatte die Elite der Assassinen vor sich, doch es war fraglich, wie viele von ihnen von diesem Auftrag zurückkehren würden. Einige der hier Anwesenden kannte er tatsächlich persönlich, von den meisten war ihm jedoch nur bekannt, welche Arbeit sie bisher geleistet hatten und unter welchem Namen sie in den Schriftrollen verzeichnet waren. Kaum jemand gab seinen wirklichen Namen bekannt, berühmt wurde nur der Nome de guerres, der Kriegsname, mit dem in der Regel der Tod vieler Menschen verbunden war.

An den blassen Augen konnte er Murad ed Din erkennen, der als Markenzeichen für einen erledigten Auftrag stets den kleinen Finger der linken Hand abschnitt. Der Blick des Hadschis fiel auf Lilaque, der für ihn ein einziges Rätsel war. Der Mörder war ein Naturtalent im Kampf, beherrschte das lautlose Töten ebenso gut wie die unbemerkte Annäherung, pflegte aber keinen Kontakt zu anderen und nahm nur ganz bestimmte Aufträge an. Dabei wäre es möglich, dass ausgerechnet Lilaque zu einer Legende in der Gilde werden konnte. Die absolute Zuverlässigkeit, dazu die Kunst des Tötens auf so viele verschiedene Arten und die Fähigkeit, sich in jeder Gesellschaft unauffällig zu bewegen, waren die besten Voraussetzungen dafür. Aber Lilaque umgab ein Geheimnis, und der Hadschi hätte viel darum gegeben, dieses Geheimnis zu ergründen. Nun, es war gut möglich, dass dieses Geheimnis mit ins Grab genommen wurde, falls Lilaque diesen Auftrag annehmen sollte.

Der Hadschi blieb stehen, sein Blick schweifte über die Anwesenden, dann begann er mit der Erklärung des Auftrags.

„Die Franken werden nächste Woche ihr Weihnachtsfest feiern, und zu diesem Fest wird der oberste Führer der Kreuzritter in Jerusalem anwesend sein. König Balduin VI, den wir wegen seiner Lepra-Erkrankung nur den Widerlichen nennen, wird an der feierlichen Zeremonie teilnehmen. Man hat der Gilde den Auftrag gegeben, den König zu töten. Jedem von euch wird klar sein, dass dieser Auftrag nur schwer auszuführen ist, wenn nicht gar unmöglich. Ich frage trotzdem, ob einige unter euch bereit sind, diesen Tod in die Hände zu nehmen.“

Stille trat ein, während jeder für sich selbst überlegte, ob er diesen schier aussichtslosen Auftrag annehmen wollte. Einer der Männer meldete sich zu Wort.

„Jeder von uns wird in seinem letzten Willen festlegen, wer das Honorar für diesen Auftrag erhalten soll“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Einige von uns haben feste Bindungen und daher mehr zu verlieren als die anderen. Sie sollten sich gut überlegen, ob sie ihr Leben tatsächlich für einen aussichtslosen Kampf einsetzen wollen. Ich gehe davon aus, dass wir selbst bei einem Erfolg keinen Weg zur Rückkehr finden werden. Wer sich freiwillig meldet, ist dem Tode geweiht.“

„Du hast alles zusammengefasst, was es zu wissen gibt“, erklärte der Hadschi zufrieden. „Es dürfte Probleme bereiten, mehr als sechs oder sieben Leute unterzubringen, man sieht uns auf den ersten Blick an, dass wir keine Franken sind. Die religiösen Veranstaltungen der Christen werden von den meisten Rittern wahrgenommen, zu dieser Feier sind sogar die Frauen eingeladen. Ich rate jedem von euch, die Rituale zu lernen, mit denen man Zugang zu den religiösen Feierlichkeiten bekommt, anders wird es kaum möglich sein, die Kirche überhaupt zu betreten. Wie viele von euch sind nun bereit?“

Drei Hände schossen sofort in die Höhe, etwas zögernd folgten zwei weitere, dann hob auch Lilaque die Hand. Sie bemerkte, dass der Blick des Hadschis etwas wehmütig auf ihr ruhte. Sie wusste, dass sie zu den Besten gehörte, sie rechnete sich insgeheim tatsächlich eine Chance aus, das bevorstehende Massaker zu überstehen. Ihr hochintelligentes Gehirn hatte bereits einen Plan geschmiedet, doch der war unter Umständen noch gefährlicher als das, was die übrigen Gildenmitglieder vorhatten. Nun erhob sich auch Roger von Tours, der bisher schweigend zugehört hatte. Obwohl von Geburt her Franzose und einer ersten Kreuzritter in diesem Land, war seine Loyalität der Gilde gegenüber über jeden Zweifel erhaben.

„Ich danke euch, Brüder, dass wir auch in diesem Fall genügend Freiwillige zur Verfügung stellen können“, sagte er mit weicher Stimme und fremdländischem Akzent. „Ich bin gern bereit, jedem von euch all das beizubringen, was euch hilft, als vermeintliche Christen in die Kirche zu gelangen. Danach seid ihr allerdings auf euch allein gestellt. Möge Gott euren Seelen gnädig sein.“

Die Versammlung löste sich in aller Ruhe auf, die sechs Auserwählten machten Anstalten, ihre letzten Tage auf Erden zu genießen und alles zu ordnen, was sie hinterlassen wollten.

Als Lilaque aus der Tür treten wollte, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Entsetzt zuckte sie zusammen.

„Berühre mich nicht, bitte“, sagte sie und war froh, dass ihre Stimme der eines Mannes ähnlich war. Der Hadschi stand neben ihr und blickte sie mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen an.

„Es betrübt mich, dass auch du den Tod suchst, Lilaque. Es ist noch Zeit, von diesem Auftrag zurückzutreten. Niemand wird ein Wort darüber verlieren. Du bist wichtig für die Gilde, du solltest dein Leben noch nicht wegwerfen.“

„Wenn es so geschrieben steht, werde ich zurückkehren“, erwiderte Lilaque mit einem gewissen Fatalismus. Sie verneigte sich kurz und lief davon.


*


Das Läuten einer Glocke rief die Franken in die Grabeskirche, um dort in einem feierlichen Ritual ihren Gottesdienst zu begehen. Die Ritter kamen in ihrer besten Kleidung, aber nicht einer von ihnen hatte seine Waffen zuhause gelassen. Die wenigen fränkischen Frauen, die überhaupt in Jerusalem lebten, kamen tief verschleiert und befanden sich ausnahmslos in der Begleitung ihrer Ehemänner oder Brüder. Das einfache Volk war leicht daran zu erkennen, dass die Kleidung einfach und grob gewirkt war, außerdem war es ihnen untersagt, Waffen zu tragen. Und dann gab es noch die Konvertierten; Sarazenen, Muslime, dazu einige Reisende aus fernen Ländern, die ebenfalls dem Christentum angehörten. Es gab Ritter, die ihre Sklaven und Bediensteten gezwungen hatten, den fränkischen Glauben anzunehmen, und es gab einige wenige, die für sich selbst entschieden hatten, dass das Christentum den eigenen Vorstellungen entgegenkam. Ebenso wie das einfache Volk mussten jedoch auch sie vorlieb nehmen mit den Plätzen ganz hinten und an der Wand entlang. Die vornehmen Kreuzritter und ihre Begleitung befanden sich in der Nähe des Altars, und die wenigen Sitzplätze waren für die edlen Damen vorgesehen, die eine so lange Zeremonie nicht stehend ertragen konnten.

Auch Lilaque war mittlerweile in der Kirche und kämpfte darum, den durchdringenden Geruch nach Schweiß, Leder, Pferden, aufdringlichem Parfüm und Weihrauch zu ignorieren. Verstohlen und doch aufmerksam hatte sie das Volk gemustert und festgestellt, dass ihre fünf Kollegen ebenfalls in der Menge standen. Sie versuchten unauffällig in die Nähe des Altars zu kommen, was inmitten der dicht gedrängten Menschenmenge nicht ganz einfach war. Der Altar befand sich auf einem Podest, und der Bischof von Jerusalem stand dort mit hoch erhobenen Händen und zeigte dem Volk die Monstranz, rechts und links flankiert von den so genannten Messdienern, deren Sinn und Zweck für Lilaque ein Rätsel blieb. Der König selbst befand sich in einer Sänfte, aufgrund seiner Erkrankung konnte er weder reiten noch längere Zeit laufen oder stehen. Rechts und links von ihm befand sich als eine Art Leibgarde jeweils ein schwer bewaffneter Ritter. Es würde fast unmöglich sein, an ihn heranzukommen.

Das Kyrie Eleison klang durch die gefüllte Kirche. Obwohl lateinisch die Sprache der Gebildeten war und selbst das niedere Volk zumindest Grundkenntnisse davon besaß, wurde in der Kirche eine seltsame Mischung aus Griechisch und Latein benutzt, die Lilaque noch mehr verwirrte als die Handlung am Altar.

Plötzlich entstand Unruhe, drei Männer drängten sich rücksichtslos nach vorne, Lilaque warf, wie meisten anderen auch, einen Blick auf die Ruhestörer. Doch es handelte sich ihrer Meinung nach nicht um Assassinen. Augenblicklich griffen die beiden Ritter neben dem König zu ihren Schwertern, andere Ritter hielten plötzlich ebenfalls Waffen in der Hand, um ein mögliches Attentat zu vereiteln. Doch es handelte sich nur um ein Ablenkungsmanöver.

Fast alle Leute verrenkten neugierig die Hälse, um nur ja nichts zu verpassen. Das war der Augenblick, den die fünf Mörder wählten, um ihren Auftrag in Angriff zu nehmen. Je zwei hatten mittlerweile strategisch günstige Plätze erreicht und stürzten sich auf die beiden Ritter neben dem König, der fünfte warf sich todesmutig auf die Sänfte, einen vergifteten Dolch in der Hand. Selbst die kleinste Verletzung würde den Tod herbeiführen. Blut spritzte, als die Leibgarde und weitere Ritter gegen die Angreifer kämpften, Frauen schrien entsetzt auf, Menschen drängten sich zusammen, und vom Altar brüllte der Bischof Worte in die Menge, auf die niemand reagierte.

Es dauerte nur Sekunden, bis die fünf Assassinen selbst den Tod gefunden hatten, in den sie jedoch mindestens sechs weitere Franken mitnahmen. Einer der Leibwächter lag ebenfalls im eigenen Blut, roter blutgetränkter Schaum trat aus seinem Mund, er hatte nur noch Sekunden zu leben.

Die Frau neben Lilaque murmelte mit dumpfer Stimme etwas vor sich hin. Lilaque lächelte hinter ihren Schleier. Sie war eine Meisterin der Verkleidung und lebte schon lange in einer männlichen Domäne, ohne aufzufliegen, ihr konnte niemand etwas vormachen. Nur für den heutigen Tag war sie zurückgekehrt zum Weiblichen, sie hatte einen der veramten Ritter großzügig bezahlt, um in seiner Begleitung in die Kirche zu kommen. Die Frau neben ihr hatte vermutlich nicht bezahlen müssen, benahm sich allerdings auch nicht wie eine typische Frau.

„Der König ist tot“, schrien einige Leute, und Tumult kam auf.

Lilaque drehte sich um und schaute die Person neben sich direkt an. „Das Volk wird unruhig, Majestät, Ihr solltet dafür sorgen, dass das Missverständnis keinen Bestand hat.“

Kurzes heftiges Luftholen antwortete ihr, dann spürte sie durch den Schleier einen stechenden Blick. „Habe ich meine Rolle so schlecht gespielt?“, kam die deutliche Frage.

„Keine Frau geht in dieser Welt vor einem Mann, nicht einmal in die Kirche“, erklärte Lilaque bitter und spielte auf den Fehler an, den König Balduin in seiner Verkleidung gemacht hatte. „Aber ein Mann wie Ihr sollte sich trotzdem vor einer Frau in Acht nehmen.“ Wie durch Zauberei hielt sie plötzlich einen Dolch in der Hand. Mit einer raschen Bewegung schlug König Balduin den Schleier hoch, Lilaque starrte in ein Gesicht, das von der Lepra zerfressen war. Der Mann besaß nur noch ein Auge und leere Nasenhöhlen, außerdem zeigten die Lippen ein groteskes Grinsen, und die Hand, die den Schleier zurückgeschlagen hatte, wies nur noch drei Fingerstümpfe und einen Daumen mit einem Glied auf. Der König war ein bedauernswertes Wesen, die Qual durch die Krankheit war vermutlich schon so groß, dass er den Tod begrüßte.

Lilaque stieß den Dolch vor, hielt dann aber inne, bevor die Spitze den Stoff vom Wams durchstoßen konnte.

„Es ist Weihnachten“, sagte König Balduin leise. „In unserem Glauben ein Fest der Liebe, an dem man sich Geschenke macht. Ich werde den Tod als Geschenk von Euch annehmen, edle Dame, und ich danke Euch dafür.“

Lilaque schüttelte plötzlich heftig den Kopf. „Dieses Geschenk kann ich Euch nicht machen, Majestät. Ich töte niemanden aus Mitleid.“ Sie ließ den Dolch fallen und drängte sich durch die Menschenmenge davon. König Balduin jedoch gab sich zu erkennen und verschaffte Lilaque auf diese Weise die Möglichkeit, unbemerkt zu verschwinden.


*


Einige Tage später machte sich eine Karawane auf, Jerusalem mit unbekanntem Ziel zu verlassen. Eine tief verschleierte Frau saß in einer Sänfte, eine ganze Gruppe bewaffneter Wächter übernahm die Sicherung, und die schwer bepackten Tiere deuteten an, dass jemand mit viel Vermögen unterwegs war.

In der Gilde der Assassinen trauerte man um sechs Tote, die bei dem missglückten Attentat ihr Leben gelassen hatten. Der Name Lilaque ging in die Geschichte ein, doch nicht einmal ihm war es gelungen, den König in seiner Verkleidung zu erkennen und zu töten. Es handelte sich um die erste Niederlage der Gilde, und für die Zukunft wurden Lehren daraus gezogen.

Lilaque war tot, aber Lilian lebte. Und Lilian machte sich auf, einen Ort zu finden, an dem eine Frau leben konnte, ohne sich einem Mann unterzuordnen oder eine Lüge leben zu müssen. Im christlichen Glauben war es Weihnachten, und manche Geschenke sind so groß, dass ihre Auswirkungen über Jahre hinweg reichen. Lilaque hatte ein Geschenk verweigert, aber Lilian hatte eines bekommen, das für den Rest ihres Lebens ausreichte.


ENDE