Oft hilft es, wenn man sich auf die Ober- und die Unterlippe beißt

Gregory stand mitten auf einer Verkehrsinsel und hatte ein wenig die Orientierung verloren. Er stand fest im Leben, hatte aber diese Eigenart, dass ihm Dinge passierten, die sonst keinem Menschen widerfuhren. Er brauchte jemanden, eine Frau, die auf ihn aufpassen würde. Diese Gedanken breiteten sich gerade in seinem Hirn aus, als er eine wunderschöne, blonde Frau erblickte. Sofort war er ihr verfallen.

Er malte sich die Zukunft mit ihr in allen möglichen Farben aus. Vor lauter Malen wäre sie ihm fast davon gerannt. Als er hinter ihr her hechelte, sah er sofort, dass sie 1,75m groß war. Gregory war hochtalentiert, wenn auch ein wenig verschroben. Eine seiner wenigen Künste war es, die genaue Größe eines Lebewesens sofort bestimmen zu können.

Gregory stammelte vor sich hin: „Sie sieht so schön aus, wie eine helle Flamme in einem dänischen Kaminofen am Silvesterabend auf der Insel Römö.“ Das hatte sich Gregory tatsächlich in diesem Augenblick ausgedacht. Als er sich gerade entschlossen hatte, sie anzusprechen verschwand sie in einer Arztpraxis.

Nach vier Stunden war sie noch immer nicht herausgekommen, so dass er vermutete, sie sei entweder schwer krank oder Arzthelferin. Er schloss seinen Mund wieder, ging hinein und begab sich zur Anmeldung. Er wollte schon loslegen mit „Vor vier Stunden ist hier eine bezaubernde Frau hereingekommen und ...“, aber er biss sich aus Versehen auf die Unterlippe. Und zwar so fest, dass sie anfing, heftig zu bluten. Er zeigte auf seine Lippe und schaute sich dabei nach seiner blonden Schönheit um. Die Arzthelferin schnappte sich ihn und betrat das Behandlungszimmer.

Als er eingetreten war, sah er sie: seine Traumfrau! Sie saß im Stuhl der Ärztin. Sie war die Ärztin! Er war so glücklich. Er hatte auf einen Schlag seine Traumfrau und seine neue Hausärztin gefunden. Und Halsschmerztabletten musste er jetzt auch nicht mehr bezahlen. „Was ist denn mit Ihnen los?“, fragte Frau Dr. Peitschen-Prügel, so musste er enttäuscht auf ihrem Schild lesen. Er hasste Doppelnamen. Und außerdem bedeutete es, dass sie verheiratet war.

„Ich liebe Sie“, hätte er am Liebsten gesagt. Aber durch seinen blutverschmierten Mund konnte er nur „Ich blute an der Unterlippe“ nuscheln. Etwas Intelligenteres war ihm einfach nicht eingefallen.

„Das sehe ich, ich bin Ärztin!“, schmunzelte sie immerhin, wie er beobachtete.

„Ja, also ...“, begann er nicht gerade vielversprechend, „mögen Sie ehrliche Männer?“ Sie schaute Gregory genau an und er sah, wie es in ihrer rechten Hirnhälfte arbeitete. So stark, dass er fast Angst bekam, ihr würde gleich Qualm aus den Ohren dringen. Dann flüsterte sie fast: „Ja, dann mal raus mit der Sprache.“

Und Gregory erzählte die ganze Geschichte seines Vormittages, das lange Warten auf sie und warum er sich auf die Unterlippe gebissen hatte. Sie lächelte und sagte: „Ich schreibe Ihnen etwas für Ihre Lippe auf, aber jetzt muss ich los“ und reichte ihm ein Rezept.

Er nahm es, stand benebelt auf und verließ das Sprechstundenzimmer und die Praxis. Erst im Bus sitzend kam er etwas zu sich und las den Zettel, auf dem Folgendes stand: „Ich heiße Sophia, meine Eltern nannten mich so, nach der Loren und ich bin nicht verheiratet!!! Der Doppelname ist nur Quatsch, ich hasse Doppelnamen. Ich habe aber gemerkt, dass mehr Patienten zu Ärztinnen mit Doppelnamen kommen. Mein wahrer Name ist Doren, Sophia Doren. Ich finde dich süß. Meine Privatnummer lautet 60 63 271. Ruf mich heute Abend an, ja?“

„Ja, natürlich!“, brüllte er wie ein glückliches Schwein, dass gerade von der Schlachtbank gesprungen war. Der gesamte Bus drehte sich um, leider auch der Busfahrer. Man hörte nur noch den Aufprall des Busses auf etwas sehr Großes.

Gregory hatte Glück, er wurde mit einer aufgeplatzten Oberlippe ins Krankenhaus gebracht. Das aber auch nur, weil der Bus mit den anderen Fahrgästen sowieso am Krankenhaus, ohne die Route zu ändern, halten musste. Gregory dachte etwas verwirrt, dass jetzt wenigstens beide Lippen, die Ober- und die Unterlippe, bluten würden.

In der Empfangshalle des Krankenhauses traf er wieder auf Sophia. Die empfing ihn mit den Worten: „Na, so schnell sehen wir uns wieder? Diesmal die Oberlippe?“

„Wenn schon, denn schon“, erwiderte er, „ich heiße übrigens Gregory, Gregory Beck. Meine Eltern mochten Gregory Peck am Liebsten.“ Sie lächelte ihn an. „Was machst du hier?“, fragte er.

„Ich habe Notdienst im Krankenhaus und habe in vier Stunden frei“, antwortete sie.

„Dann warte ich auf dich, gibt es hier ein Café?“, hauchte Gregory.

Sie lächelte wieder dieses unglaublich schöne Lächeln. Sie öffnete diesen bezaubernden Mund und er sah, dass sie keine einzige Zahnfüllung hatte. Jetzt hörte er sie sagen: „Das ist schön! Warte doch gegenüber vom Krankenhaus im Café ‚Endstation 4‘, ich komme dann zu dir. Vielleicht kann ich mich schon vorher freimachen.“

Bei dem Wort „freimachen“ schluckte er, als hätte er eine Riesenportion tschechische Obstknödel im Mund. Im wurde ganz heiß und er stotterte: „Ja, ich, also, ich gehe dann mal!“ – und blieb stehen. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und schwebte davon, so nahm er es auf jeden Fall wahr.

Er wollte über die Straße zum Café gehen, als in ein Auto auf die Hörner nahm. Er hatte verdammtes Glück: a) war es ein Krankenwagen und b) geschah dies alles, wie wir wissen, vor dem Krankenhaus. Sophia hörte den Bumms, drehte sich um und sah zwei Pfleger mit Gregory auf der Trage in ihre Richtung kommen. Es musste alles sehr schnell gehen. Es ging ab in den OP-Saal 4, das sah er mit verschwommenen Augen. ‚Hoffentlich ist das nicht die Endstation 4‘, dachte er umnebelt.

Er bekam nur mit, dass man ihn betäubte. Schon schlief er und hatte einen schönen Traum: Er trug diese bescheuert aussehende Patientenbekleidung, vorne zu, hinten auf. Sophie und er lagen am Strand und küssten sich, während sie von der schäumenden Gischt umspült wurden. Neben ihnen stand ein Schild auf dem groß „Strand in der Nähe von Nieblum auf Föhr – Personen: Sophia und Gregory“ zu lesen war.

Er hatte eine bizarre Art etwas zu träumen, denn er träumte von Orten, Personen und sah deren Namen gleichzeitig auf Schildern angebracht. So konnte er sich, in seinem bisherigen Leben, oft seine Träume selbst im Nachhinein erfüllen. Und komischerweise träumte er nur von europäischen Orten. Zuerst überlegte er sich, ob er darüber traurig sein sollte, aber er war froh, denn so blieb die Erfüllung seiner Nachtträume immer erschwinglich. Er wusste, dass er seinen nächsten Urlaub mit Sophia in Nieblum auf Föhr verbringen würde.

Doch erst musste er durch diese Operation kommen. Dachte er? Träumte er?

Draußen in der wahren Welt kämpften sie um sein Leben. Sophia hoffte, weinte und lachte, als Gregory schließlich aufwachte. „Warum weinst du?“, waren seine ersten Worte nach der Operation, „Ich liebe, ich meine, ich lebe dich!“

„Schon gut mein Süßer“, sagte Sophia und drückte ihm ganz vorsichtig einen Kuss auf seinen Mund, „Ich glaube, auf dich muss mal jemand richtig gut aufpassen.“

„Ja, das glaube ich auch“, sagte Gregory, als ihm das Essenstablett der Krankenschwester, die gerade das Zimmer betreten hatte, aufs Gesicht fiel.

Das Geheimrezept der Liebe

Nachdem der Fallschirm sich endlich geöffnet hatte, trudelte Sergej Sarow langsam gen Boden. Der KGB hatte ihn ins kapitalistische Ausland geschickt, um das Geheimrezept von Coca Cola herauszubekommen. Er selbst mochte diese braune Plörre nicht: „Klebrig, komisches Geschmack, viel zu siß, wie Pappe!“

Der russische Geheimdienstler landete auf einem freien Feld, dicht bei einer Kleinstadt im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika. Er befreite sich schnell von seinem Fallschirm und stopfte ihn in seinen Rucksack.

„Endlich Boden unter Fißen!“, grummelte Sergej vor sich hin, als ein Farmer auf seinem Traktor vor ihm zum Stehen kam. Es war der Bauer Willy McKenzie, der an diesem Herbsttag seine Rosenkohlernte einfahren wollte.

„Hey, was machen Sie auf meinem Feld?“, fragte McKenzie.

Sarows Züge verspannten sich und entgleisten. Er zog schnell seine Waffe hervor und richtete sie auf den Farmer: „Hände hoch, Kapitalist!“

McKenzie zuckte zusammen und sagte ängstlich: „Sie können ihn haben, wenn Sie ihn unbedingt haben wollen.“

Sarow verstand den Bauern nicht. „Was ich soll chaben wollen?“

Jetzt wiederum war es an der Reihe von McKenzie, nicht zu verstehen. „Na ja, Sie können ihn haben, den gesamten Rosenkohl, wenn Sie wollen. Nur tun Sie mir nichts, bitte! Ich habe 34 Kühe, 22 Schweine, 115 Hühner, drei Gänse, fünf Hunde, eine Tochter, eine Frau und einen Enkelsohn.“

Sarow, über die Bandbreite der Lebewesen, die auf dem Hof McKenzies lebten, verwirrt, antwortete: „Du mir helfen!“

„Gerne, aber hier sind Sie falsch, Sie wollen bestimmt in die Stadt, da wird heute gefeiert. Heute ist der ‚Coca Cola Day‘. Da gibt es alles rund um unsere einzigartige Koffeinbrause“, sagte der tierliebende Farmer mit stolz geschwellter Brust.

Sarow zuckte zusammen, als er den Namen Coca Cola hörte, und sprach ganz andächtig: „Coca Cola!“ Dann fügte er voller Eifer, aber nicht gerade geschickt, hinzu: „Du mir geben Geheimrezept!“

Der Farmer spürte sofort, dass sein Heimatland in Gefahr war. Man schrieb das Jahr 1962, der Kalte Krieg befand sich auf dem Höhepunkt. ‚Jetzt muss ich souverän handeln‘, dachte der 98-jährige Bauer, der im gesamten Süden der Vereinigten Staaten für die Durchschlagskraft seines Rosenkohls bekannt war. Berühmt war er auch für seinen Mut. Und so schrie er fast: „Sie werden das Geheimrezept …“ Schon wollte er rufen: „Nie bekommen!“ Doch er besann sich in der Mitte des Satzes und vollendete: „... von mir bekommen. Schließlich hat die Welt ein Anrecht darauf, unser Glück, Coca Cola zu trinken, zu teilen!“

Sergej Sarow dachte: ‚Ist er so blöd wirklich, wie ich das denke, oder er tut nur so?‘

McKenzie tat wirklich nur so und hatte stattdessen einen Entschluss gefasst. Er dachte: ‚Irgendetwas werde ich tun, aber ich weiß noch nicht was!‘ Unser russischer Freund jedoch folgte dem Rosenkohlfarmer Richtung Stadt.

Zur gleichen Zeit im nahegelegenen Ort Fair City, im Büro des Bürgermeisters.

„Haben Sie alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um das Geheimrezept unseres …“, und jetzt schmunzelte der Bürgermeister, „... geliebten Bräuschens zu hüten?“

Der Sheriff des Ortes lächelte unsicher: „Ja Chef, da Sie nicht wollten, dass das Rezept im Safe der Bank verstaut wird, weil das zu offensichtlich ist, habe ich es bei meiner Mutter unter dem Kopfkissen versteckt.“

Der Bürgermeister nickte zufrieden: „Das ist gut, Sheriff, schließlich hat nicht jede Stadt unseres stolzen Vaterlandes die Möglichkeit, das Geheimrezept von Coca Cola auszustellen!“

Der Sheriff war verunsichert. Er grübelte in sich hinein: ‚Wenn ein Rezept geheim ist und man stellt es öffentlich aus, dann ist es nicht mehr geheim!‘ Seine Frau würde ihm vorhalten: „Du denkst zu viel nach, Schatz, das sage ich dir immer!“

Der Bürgermeister unterbrach seine Gedanken: „Bringen Sie das Rezept um 15 Uhr, nach der Tombola und vor dem Hulahoop-Wettbewerb, zu mir an die Bühne.“ Dann ließ er den überforderten Sheriff stehen.

Es war warm für einen Herbsttag. Sarow und McKenzie schnauften laut, als sie die Straße nach Fair City entlanggingen. Der Traktor des Farmers hatte zwischendurch den Geist aufgegeben. „Mit russische Traktor von Kolchose, das wäre passiert nicht!“

Der 98-jährige McKenzie stöhnte unter dem Gewicht des Russen. Der hatte ihn gezwungen, ihn Huckepack zu nehmen. Musikgeräusche drangen an die Ohren der beiden. „Bleib stehen, amerikanisches Bauer. Ich kenne Musik, das ist ‚O wenn se seints go martchin in‘, amerikanische Dudelmusik.“

Die Tombola ging ihrem Ende zu. Der Bürgermeister vergab gerade den Hauptpreis: „Ich verlose hiermit ein Wochenende auf der Farm des Sheriffs mit …“, hier ließ er nicht nur eine Pause, auch die Dixieland-Kapelle spielte einen Tusch, wobei nur das Waschbrett ein wenig dazwischen schubberte, „... mit seiner Mutter!“, vollendete er seinen Satz. Der Bürgermeister zeigte auf den Stuhl neben sich. Dort saß die wirklich bezaubernd schöne Mutter des Sheriffs, der es sichtlich peinlich war, dort oben zu sein.

Sarow, dem McKenzie gerade erklärt hatte, was eine Tombola war, hatte sich eben zehn Lose gekauft. Er starrte gebannt auf die Bühne und wechselte ständig mit seinen Blicken zwischen den Lippen des Bürgermeisters und den Augen der Mutter des Sheriffs. Sie hatte Sarow auch schon entdeckt und flüsterte: „Um Baumwollenswillen ist das ein stattlicher Mann!“

Das Geheimrezept schien für Sarow mit einem Male unwichtig geworden zu sein. „Jetzt es zählt nicht mehr Liebe zu alte Mütterchen Russland, sondern zu scheene imperialistisches Frau dort auf Bihne!“

Der Bürgermeister bat die Frau des Sheriffs, die Losnummer für den Hauptpreis zu ziehen. Langsam glitt ihre Hand in das ehemalige Bonbonglas. Sie zog ein kleines Zettelchen heraus und hielt es in die Luft. Stolz verkündete sie: „Es ist die 57!“

Zwei Menschen wünschten sich in diesem Moment das Gleiche. Nämlich dass Sarow die 57 auf einem seiner Lose stehen hatte. Das war er selbst, er dachte: ‚Ich möchte 57 haben, weil ich bin so alt wie diese Zahl und ich möchte scheene Sheriff-Mutter.‘

Und auch die attraktive Mama des Gesetzeshüters flüsterte: „Hoffentlich hat der Fremde dort unten die 57, ich bin schon viel zu lange Witwe.“

Sarow schaute gespannt auf seine zehn Lose. Der Bürgermeister und die Menge vor der Bühne wurden schon unruhig, als Sarow seine Stimme erhob: „Ich haben 57!“

Alle starrten den Fremden voller Argwohn an. Doch die Mutter des Sheriffs, Catherine McKenzie, und Tochter des 98-jährigen Farmers Willy McKenzie, stieß einen Glücksschrei aus: „Heilige Baumwolle, er hat die 57!“

Und wieder einmal hatte die Liebe gesiegt und ein erster Schritt in Richtung Ost-West-Entspannung war getan worden. Auch wenn es noch ein paar Jahrzehnte dauern würde, bis die Mauern zwischen Ost und West endgültig fallen sollten.

Ein Briefschlitz kann das Leben verändern

Dennis, Peter, Waldemar und Marc saßen jeden Mittwoch um 20 Uhr zusammen an ihrem Stammtisch im Gasthaus „Zur krummen Birke“. Der Wirt hatte keine Lust, sein Gasthaus auch „Zur Linde“ zu nennen, wie Tausende anderer Wirte in diesem Lande. Es stand zwar genau neben einer Linde, aber aus Protest hatte er im letzten Jahr eine Birke vor sein Haus gepflanzt, die immerhin schon 50 Zentimeter hoch und natürlich krumm war.

Alle vier Stammtischler waren in den 40ern ihres Lebens und alleinstehend, außer man bezeichnete Fische, eine sehr große Briefmarkensammlung, ein Elchmuseum oder ein Sammelsurium von Steinen jeder Farbe und Größe als Lebenspartner. Die vier hatten die Suche nach einer Frau jedoch noch nicht aufgegeben. An jedem Mittwoch versammelten sich die Freunde am einzigen runden Tisch in der „krummen Birke“ und setzten immer ein Thema fest, um „nicht nur zu essen und zu trinken und blödes Zeug zu quatschen“, wie Dennis feststellte. Er war der Einzige unter den Freunden, der Universitätsluft geschnuppert hatte, damals, als er sich im Sekretariat für ein Semester Zoologie immatrikulierte, danach hatte er die Unigebäude nie wieder betreten.

Heute stand, wie alle vier Wochen wiederkehrend, das Thema Erotik auf dem Plan. Nur das Unterthema wechselte. „Also“, eröffnete Dennis vielversprechend das Gespräch, „heute geht es um Erotisches am Morgen. Und bitte verschont mich mit Berichten von eurer morgendlichen Erektion!“ Waldemar wurde rot und seine Kumpels wussten sofort, dass er genau davon erzählen wollte. „Also, wer fängt an?“, fragte Dennis in die Runde.

Langes Schweigen bis Marc den Finger leicht in die Luft hob und sich räusperte. Es war ein eisernes Gesetz, dass in dieser wöchentlichen Runde nicht gelacht werden durfte, egal, was jemand sagte. Marc räusperte sich noch einmal, als der Wirt zum Tisch trat: „Na, heute wieder das Thema Erotik, Marc?“

Marc wurde sofort rot, röter konnte ein Gesicht nicht werden. Als der Wirt den Tisch verlassen hatte, wechselte Marcs Farbe ins leichte Rosa und er begann endlich zu erzählen: „Wenn ich morgens um sechs Uhr aufwache, um die Fische zu füttern, trete ich ganz vorsichtig an das Aquarium heran, um die Fische nicht zu erschrecken und beobachte sie dann heimlich. Ich habe einen Zwergbuntbarsch. Wenn der sich so graziös bewegt und so ganz zart die Wasserlilie streift, dann“, er räusperte sich mehrfach und schaute auf die Tischplatte, „dann finde ich das erotisch. Ja! Und du Waldemar?“, wollte Marc schnell von sich ablenken.

Der Angesprochene kämpfte mit einem Lacher. Er gewann den Kampf und auch der Pruster, der eigentlich seinem Mund entfleuchen wollte, blieb ihm in der Kehle stecken.

Waldemar schien selbstbewusst zu sein, als er anfing zu sprechen: „Mein Gott, ich finde so viel erotisch in dieser tollen Welt. Wo soll ich da anfangen?“

„Fang doch mit deinen Steinen an“, sagte der Wirt, als er den vieren ihre erste Runde brachte: drei Kamillentees und eine Apfelschorle.

„Ja, das ist eine gute Idee“, sagte Waldemar, „also, ich habe ja eine sehr große, schöne, wertvolle Steinsammlung ...“ Er sagte das so, als wäre es etwas ganz Neues für die Jungs.

Die stiegen auch prompt mit ironischen Kommentaren darauf ein: „Ach ja, so, so, das ist ja interessant!“

„Und meine gelben und grünen Chrysoberylle sind ja besonders schöne Steine, mit einer glatten Oberfläche. Und die nehme ich Sonntag morgens, da stelle ich mir den Wecker auf sechs Uhr, immer mit in die Badewanne. Und dann liege ich auf und zwischen den Steinen und es fühlt sich ganz toll und sehr erotisch an, also da muss ich dann auch gleich ...“

„Die Stones auflegen“, ergänzte Dennis den Satz.

„Ja“, sagte Waldemar ganz verblüfft, „woher weißt du das?“

„Ach Waldemar, wie lange kennen wir uns jetzt?“, erwiderte Dennis und fragte Peter, ob er fortfahren möchte. Peter schien sich für den Witzbold der Gruppe zu halten, denn er sagte: „Fortfahren, wohin?“

Die anderen zeigten ihr minimalstes Minimalschmunzeln, das sie beherrschten und Peter erzählte von seinem erotischen Erlebnis am Morgen: „Also, ich hatte mal ein erotisches Erlebnis in meinem Leben und das war an einem klaren Morgen in der Wildnis von Schweden. Das war letztes Jahr.“

‚Ach das‘, dachten die anderen.

„Ich war in meinem Jahresurlaub und hatte mir allein eine Blockhütte in Mittelschweden gemietet. Ich wollte einfach mal sehen, wo meine geliebten Elche herkommen und es ihnen auch zeigen. Ich hatte dann auch nur einen kleinen Teil meiner Elchsammlung dabei: circa 300 Tiere. Einen Bollerwagen hatte ich auch mitgenommen und so setzte ich all meine Lieblinge in das Gefährt und fuhr sie zu einem kleinen See in der Nähe meiner Hütte. Die Sonne ging gerade auf, als ich meine Elche aus- und dann zu einem Bad einlud. Ich wusch sie alle, wir badeten und sangen schwedische Volkslieder.

Es war traumhaft und wunderschön, einfach das erotischste Erlebnis meines Lebens. Aber es war auch gefährlich. Immer wieder trieben ein paar Elche weg und ich musste sie zur Gruppe zurückbringen. Als ich mal wieder einen Elch gerettet hatte – es war Hugo, der Elch, den ich am längsten habe und dem ein Auge fehlt – sah ich ein wenig weiter am Strand einen Mann, ungefähr in meinem Alter. Ich winkte ihm und sah, das er mit einer Reihe von Stoffrentieren badete. Wir wurden sofort Freunde und er erzählte mir, dass er es manchmal bereute, sich für Rentiere entschieden zu haben. Es gibt wohl nicht so viele Rentiere aus Stoff, Porzellan oder anderen Materialien.

Und dann wurde er traurig, denn er hatte, bei seinem morgendlichen Bad im See, zwölf seiner Tiere verloren. Sie waren ertrunken und er machte sich große Vorwürfe, denn schließlich hätte er seine Porzellanrentiere nicht einer solchen Gefahr aussetzen dürfen.