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Über die Erhabenheit toter Katzen und das Umwerben trauriger Mädchen




Eine Detektivgeschichte von

Philipp Multhaupt



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PHILIPP MULTHAUPT: „Über die Erhabenheit toter Katzen und das Umwerben trauriger Mädchen“ Eine Detektivgeschichte

1. Auflage, Juli 2016, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege
© 2016 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen oder realen Personen wären rein zufällig.

Lektorat: Sarah Strehle (www.lektorat-strehle.de)
Cover: Nicole Altenhoff (www.nicoletta-illustration.de)
Satz und Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-013-7
epub ISBN: 978-3-95996-014-4




Für meinen Bruder

 

 

I was a child and she was a child

In this kingdom by the sea.


E. A. Poe: Annabel Lee






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1
Familienporträt mit Antiquaren
und Sandwiches

Als ich vierzehn war oder so, ging ich mit meiner Kamera auf Streifzüge durch die Nachbarschaft und schoss Fotos von toten Katzen. Die meisten waren unter die Räder geraten und lagen in der Mitte leerer Sommerstraßen, ihre Eingeweide über den Asphalt verteilt. Manchmal schon in angegrauten Farbtönen, manchmal noch schimmernd in den blauen und grünen und metallenen Chitinfarben der Schmeißfliegen, die die Kadaver umschwärmten, darauf aus, sich zu paaren, ihre Eier abzulegen und Leben zu schaffen. Andere waren wohl einfach verhungert, manche zu Tode gekratzt, gebissen, getreten worden, Opfer feliner Bandenkriege oder menschlicher Reizbarkeit. Nur in einigen Fällen schien es keine feststellbare Todesursache zu geben und die betreffenden Tiere blieben ein Rätsel und bewahrten sich damit ihre Würde im Tod. Das waren diejenigen, bei denen ich mir die Mühe machte, sie zu beerdigen.

Die Kamera war gestohlen. Ich hatte sie bei meinem Onkel Giorgio auf dem Dachboden gefunden, wo ich nach der Schule einen guten Teil meiner Zeit damit verbrachte, die Krimis und Detektivromane zu lesen, die dort dutzendweise eingelagert waren, mit fusseligen Bastschnüren zu Paketen zusammengebunden.

Mein Vater, ein Universitätsprofessor und Sammler wertvoller Bücher, hätte das nicht gutgeheißen, hätte er davon gewusst. Er verbrachte die meiste Zeit zu Hause in seinem Studierzimmer und ging dort seine neuesten Erwerbungen Seite für Seite durch, um ihren Zustand zu evaluieren. Zu diesem Zweck hatte er ein spezielles Brillengestell für sich anfertigen lassen, das ihm erlaubte, ein Vergrößerungsglas in eine vor der rechten Linse angebrachte Fassung zu montieren. Und er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, das Vergrößerungsglas dort zu belassen, ganz egal, ob er gerade Bücher evaluierte oder nicht.

Ich erinnere mich, wie er mich über den Esstisch hinweg anzuschauen pflegte, sein rechtes Auge zu grotesk zyklopischen Proportionen erweitert, ohne ein Wort zu sagen. Ich bekam dabei immer das Gefühl, dass er direkt in meinen Kopf und mein Herz sehen konnte, dass er mich beobachtete, wo ich auch hinging und was ich auch tat, und dass er alles über mich wusste, mehr noch, als ich mir selbst bewusst war.

Tatsächlich wusste er aber überhaupt nichts von mir oder von dem, was mich bewegte, noch zeigte er gesteigertes Interesse daran. Er saß den ganzen Tag in seinem Studierzimmer und las, oder er empfing hagere Antiquare mit Drahtbrillen und verlegenen Grübchen um die Mundwinkel. Einer oder zwei waren fast immer zugegen in unserem Haus; manchmal besetzten sie eine halbe Stunde lang das Badezimmer, weil sie auf der Toilette lasen, oder man erwischte sie lange nach Mitternacht in der Küche, wo sie sich einen Löffelvoll Marmelade einverleibten.

Währenddessen ging meine Mutter zur Arbeit. Ich wusste damals nicht – und bin mir noch heute nicht sicher – in welchem Berufsfeld sie tätig war, nur, dass ihre Tätigkeit Unmengen von Büroklammern und Kugelschreibern verschlang, dass sie genug Zeit hatte, geschäftliche Anrufe entgegenzunehmen, selbst wenn sie zu Hause war, und dass ihr keine Zeit blieb, irgendetwas anderes zuzubereiten als Sandwiches.

Es gab Sandwiches zum Frühstück, Sandwiches zum Mittag und Sandwiches zum Abendbrot. Und obwohl ich nicht behaupten kann, dass es besonders schlechte Sandwiches waren, fürchte ich, ich kann meiner Mutter weder kulinarischen Ideenreichtum noch Ideenreichtum irgendeiner anderen Art zubilligen.

Als Akt der Rebellion gegen die häuslichen Zustände kaufte ich also nach Schulschluss gern einen Schokoriegel oder eine Tüte Erdnüsse am Zeitungskiosk gegenüber der Schule und schlenderte dann zu Onkel Giorgios Haus, erklomm die große Ulme im Vorgarten und gelangte durch ein kleines Viereck von Fenster, das immer offenstand, auf den besagten Dachboden.

Onkel Giorgio musste das Fenster einmal geöffnet, aber dann wohl vergessen haben, es wieder zu schließen, bevor er zurück nach unten ging. Seither hatte er den Dachboden anscheinend nicht mehr betreten; vielleicht hatte er Angst, dort in einen Hinterhalt zu geraten. Wenn es regnete, kam der Regen durchs Fenster und weichte die Stapel alter Zeitungen und Schundhefe auf, und wenn es windig war, kam der Wind herein und durchblätterte die vergilbten, welligen Seiten. Wenn aber die Sonne schien, kam ihr Licht niemals so ganz herein, und das machte Onkel Giorgios Dachboden zu einem perfekten Ort für das Lesen von Detektivromanen.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle ein Wort oder zwei in eine Erklärung der Tatsache investieren, dass ich mich auf diese Art in das Haus meines armen Onkels schlich, anstatt die Vordertür zu nutzen und ihn mit einem ordnungsgemäßen Besuch zu erfreuen. Es war nicht so, dass ich ihn nicht mochte, er war eine gute Seele auf seine Art, das sagte jeder, aber wie es so ist mit guten Seelen, war er trotzdem nicht gerade ein vergnüglicher Umgang. Er war alt und einsam und paranoid, und bei jedem Klopfen an der Tür oder auch nur beim Geräusch eines Briefes, der in seinen Briefkasten fiel, begann das Adrenalin durch seine Venen zu pumpen und er vermutete Gangster und Auftragsmörder und die Polizei da draußen, oder eine Briefbombe von einer der beiden erstgenannten Parteien, oder einen Haftbefehl von der dritten.

„Ich höre die Sirenen, Junge“, sagte er einmal in fatalistischem Ton zu mir, als ich neben ihm auf der Wohnzimmercouch saß, während eines Familienbesuches, an dessen Anlass ich mich nicht erinnere, und darauf wartete, dass meine Mutter oder mein Vater, ich weiß nicht wer, aus dem Badezimmer zurückkommen würde. Und ich nickte mit tiefstem Ernst und bat ihn nicht um eine Erklärung dieser kryptischen Bemerkung, weil ich stolz auf das Vertrauen war, das er offenbar in mich setzte, zu verstehen, wovon er sprach.

Vielleicht waren diese paranoiden Anwandlungen die Folgen des Älterwerdens, und auch der Unmengen an Kriminalgeschichten, die er auf dem Dachboden einlagerte und einst selbst mit größter Begeisterung gelesen haben musste. Um ihm die Aufregung zu ersparen, und mir selbst das Unbehagen, damit umgehen zu müssen, kam und ging ich unsichtbar über seinem Kopf. Vermutlich hätte er einen sofortigen Herzschlag erlitten, wäre er jemals auf den Dachboden gestiegen und hätte mich dort vorgefunden.

Aber ich hatte einen Plan für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich jemals seine Schritte auf der Dachbodentreppe hören würde: Ich würde mich dann unter dem Haufen Frauenkleider verstecken, den meine Tante Felicia hinterlassen hatte; dünne, seidige, schleierartige Kleider und Blusen und Tücher, die Art Gewandung, in die die Phantasie einen Geist kleidet.

Wahrscheinlich war das der Grund, warum mir mein eigener Entschluss nicht behagte, und ich hoffte, ich würde ihm niemals folgen müssen. Ich hielt mich für gewöhnlich fern von dem Kleiderhaufen, denn er pflegte mir den melancholischen Schauer über den Rücken zu jagen, den alte Geistergeschichten hervorrufen können.

Meine Tante Felicia war Jahre zuvor gestorben. Selbst die wenigen Erinnerungen, die ich an sie hatte, waren verschwommen und traumartig und verschleiert, was den unheimlichen Eindruck, den ihre abgelegten Kleider auf mich machten, noch verstärkt haben mochte.

Es hieß, mein Onkel Giorgio habe sie nie geliebt; es hieß, mein Onkel Giorgio liebte Männer in engen Badehosen. Vielleicht war das der Grund für die Paranoia, die er in den späten Tagen seines Lebens hegte, und dafür, dass jedes Klopfen an der Tür ihn vermuten ließ, man werde ihn mitnehmen oder an Ort und Stelle erschießen. Vielleicht fühlte er sich einer Sache schuldig, die er selbst nicht benennen konnte.

Die Kamera war eine dieser alten Kameras, eine schwarze Montag; nicht ganz das, woran man denkt, wenn jemand von alten Kameras spricht, aber nah dran. Ich hatte sie in einem muffig riechenden Karton gefunden, in der Erwartung, er werde noch mehr Schundliteratur enthalten, aber von der Kamera abgesehen war er bis zum Rand gefüllt mit linken Socken. – (Ich bin mir heute noch sicher, dass es irgendwo auf dem Dachboden einen Karton voller rechter Socken gegeben haben muss, so wie alles im Leben sein Gegenstück hat.)

Ich nahm an, dass mein Onkel die Kamera nicht vermissen würde; es scheint unwahrscheinlich, dass ein unter einem Haufen Socken vergrabener Gegenstand von irgendjemandem vermisst werden könnte. Also nahm ich sie mit nach Hause. Und während mich mein Vater an diesem Abend über den Esstisch hinweg mit seinem allwissenden Zyklopenauge musterte, während meine Mutter einen Anruf im angrenzenden Raum entgegennahm und einer der stets präsenten Antiquare mich schüchtern bat, ihm ein Gurkensandwich zu reichen; während all dessen dachte ich an meine Montag, die oben in meinem Zimmer unter dem Bett versteckt lag, und fühlte den Triumph über meinen Vater, als mir klarwurde, dass er von ihrer Existenz nichts wusste.

Ich ging nicht davon aus, dass die Kamera noch funktionstüchtig sei, aber ein paar Tage später kaufte ich bei Herrn Beckett, dem Besitzer des einzigen Fotoladens unserer Stadt, einen Film und legte ihn ein und fand heraus, dass sie es war.

Und dann passierte die Sache mit Frau Dillingers Katze und setzte andere Dinge in Bewegung, die ich mir durch den Bericht, den zu geben ich mich jetzt anschicke, zu erklären versuche.

Frau Dillinger war unsere Nachbarin, eine Witwe, deren Bild in meinem Kopf irgendwie mit der Erinnerung an meine Tante Felicia zusammengeflossen war. Alles hat, wie gesagt, sein Gegenstück im Leben; und als ich vierzehn war oder so, waren in meinem Denken immer noch Spuren der kindlichen Logik verblieben, die intuitiv Verbindungen auf einer Ebene weit jenseits des Rationalen herstellt.

Ich konnte mir nicht helfen, ich sah eine unsichtbare Linie, die quer durch die Stadt verlief, zwischen Frau Dillingers Haus und Onkel Giorgios Dachboden, und diese beiden Orte auf mystische Art und Weise miteinander verband: einen Mann, der seine Frau verloren hatte, mit einer ihres Mannes beraubten Frau. Selbstverständlich waren sich die beiden in ihren abgeschiedenen Lebenssphären niemals begegnet und begegneten sich auch später nie, aber dennoch, meine störrische Erinnerung malt sie sich als ein in Trauer vereinigtes Paar aus, weil jene unsichtbare Linie, die ich durch die Stadt laufen sah, einen so starken Eindruck bei mir hinterließ.

Frau Dillinger hielt sich eine Katze namens Sankt Thomas, ein mageres Biest mit gelben Augen, die ihren Glanz verloren hatten, und in Bezug auf sein Geschlecht wie auf die suggerierte Heiligkeit hätte es nicht unpassender benannt sein können. Sankt Thomas war eine weibliche Katze. Ein richtiges altes Miststück war sie, boshaft und aggressiv, von der geringsten menschlichen Präsenz verleitet, nach der ganzen Welt zu fauchen und zu funkeln und zu kratzen. Wenn man sie in Ruhe ließ allerdings, zeigte sich wenig von dieser aggressiven Energie, die unter ihrer lethargischen Oberfläche brannte; dann lag sie nur da, auf der Veranda oder im Gras oder wo auch immer. Ihre trüben gelben Augen wanderten in langsamem Tempo – links-rechts, rechts-links – wie müde, ausgebrannte, ziellose Soldaten. Vielleicht, denke ich manchmal, habe ich Sankt Thomas damals falsch beurteilt, vielleicht war sie gar kein altes boshaftes Miststück. Vielleicht hegte sie nur einen gerechtfertigten Groll gegen die Menschheit, weil man ihr die Einsamkeit, die sie einforderte, nicht zugestehen wollte. Wenigstens ihr Tod stand im Einklang mit diesem Bedürfnis.

Eines Tages nach der Schule, es war die Zeit, als ich meine neue Kamera überall in der Nachbarschaft ausprobierte, fand ich Sankt Thomas hinter dem alten Postamt. Gott weiß, auf welches lohnenswerte Motiv zu stoßen ich dort gehofft hatte, in meiner neuen Funktion als Stadtfotograf. Vielleicht lag es einfach daran, dass ich gern an stille Orte ging, und ein solcher war der Hinterhof des Postamts, zur Mittagszeit beschattet von dem grauen Zementgebäude und vom Lärm der Hauptstraße abgeschottet. Nicht einmal Vögel konnte man singen hören.

Frau Dillinger pflegte zu sagen, Sankt Thomas habe sich ihr Leben lang nicht viel daraus gemacht, hinter Vögeln herzujagen; es war, als sähe sie den Sinn darin nicht. Als ich sie an diesem Nachmittag hinter dem Postamt sitzen sah und ihre Gestalt erkannte, war mein erster Instinkt, einfach abzuhauen, bevor sie sich auf mich stürzen und mir ohnehin Grund zum Abhauen geben würde. Aber auf den zweiten Blick bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte, und im Lauf der adoleszenten Entdeckungsgeschichte hatten Dinge, mit denen etwas nicht stimmte, stets eine unwiderstehliche Anziehungskraft für Vierzehnjährige-oder-so. Sankt Thomas saß einfach da, aufrecht und mit weit geöffneten Augen – was ungewöhnlich für sie war – aber bewegungslos, wie versteinert. Sie sah aus wie eine dieser Katzengöttinnen, die man in ägyptischen Grüften findet, und wirkte dadurch tragisch fehlplatziert in ihrer gegenwärtigen Umgebung. Es schien, als habe sie sich niedergelassen und beschlossen zu sterben.

Als ich genug Mut aufgebracht hatte, an sie heranzutreten und meine Hand auszustrecken, fühlte sie sich kalt und steif an, und ich wusste Bescheid. Obwohl ich noch nie etwas vormals Lebendiges berührt hatte, das zum Tod übergetreten war, wusste ich Bescheid.

Und ich war überwältigt vom Anblick des Todes und davon, wie er sich anfühlte. Ich verspürte keine Angst, keine Melancholie, keinen Ekel, weder Genugtuung noch Erleichterung – schließlich war es Sankt Thomas, die klauenbewehrte Nemesis meiner Kindheit, die hier ihr Leben ausgehaucht hatte. Ich spürte nichts als ein erhabenes Gefühl der Überwältigung, fern jeder banalen Emotion niederdrückender wie ausgelassener Natur. Das Foto zu schießen war nur eine Art Besiegelung dieser Überwältigung, keineswegs ein Versuch, sie bildlich einzufangen, denn mit der gleichen Instinkthaftigkeit, mit der ich beim Berühren des steifen Körpers den Tod erkannt hatte, wusste ich, dass ich die vorüberziehende Stimmung dieses Augenblicks genauso wenig konservieren konnte, wie sich der Verfall des Körpers selbst verhindern ließ, der selbst hier in der kühlen Abgeschiedenheit hinter dem Postamt schließlich eintreten würde.

Ich schoss das Foto und ging nach Hause.

Als ich am nächsten Tag wiederkam, ohne die Kamera und von reiner Neugier getrieben, war Sankt Thomas immer noch da. Ich hatte erwartet, sie würde inzwischen vornübergekippt und von Fliegen umschwärmt sein, ich hatte mit dem Gestank gerechnet und allem, aber es ging kaum ein Geruch von ihr aus und die Fliegen ließen sie in Ruhe, wie sie ihr ganzes Leben lang die Vögel in Ruhe gelassen hatte. Ihre Augen wanderten nicht länger. Sie sah würdevoll aus im Tod. An diesem Tag schloss ich Frieden mit ihr und beschloss, sie zu begraben, während diese erhabene Würde noch bestand, bevor der Gestank kommen würde und die Fliegen. Die Frage war nur, wie ich sie vom Hinterhof des Postamts bis hinaus in den Wald kriegen sollte, ohne unnötiges Aufsehen zu erregen.

Ich habe den Wald noch nicht erwähnt. In unserer Stadt musste der Wald nicht erst erwähnt werden, er war die offensichtliche Lösung, die sich anbot, wann immer etwas verschwinden musste. Schulkinder gingen dorthin, um ihre schlecht benoteten Aufsätze zu vergraben, rechtschaffene Männer, die daran interessiert waren, den Anschein ihrer Rechtschaffenheit aufrechtzuerhalten, vergruben die pornographischen Zeitschriften ihrer Jugendtage, frisch verheiratete Mädchen kamen, um sich der Liebesbriefe früherer Liebschaften zu entledigen, und es müssen noch tausend andere geheime Objekte dort im Boden versteckt gelegen haben, denen nicht allen der Grund für Scham und Heimlichkeit auf den ersten Blick anzusehen war.

Als Kind war ich gern durch den Wald geschlendert, mit einer kleinen Plastikschaufel aus dem Gartenschuppen, und auf Schatzsuche gegangen. Unter anderem fand ich damals einen leeren Vogelkäfig, ein Marmeladenglas voller Kleingeld, einen zerbrochenen Teppichklopfer, ein Sommerkleid mit Blumenmuster und ein unvollendetes Manuskript, maschinengeschrieben, halb verrottet und voller Wörter, die ich nicht verstand. Ich suchte in kindlicher Zuversicht auch nach der zugehörigen Schreibmaschine, aber ich hatte kein Glück. Wahrscheinlich gab es sie gar nicht.

Jahre später also ging ich selbst in den Wald, um etwas zu vergraben, vielleicht sogar jemanden, oder vielleicht war es ein Jemand gewesen und war jetzt ein Etwas, ich konnte mich nicht entscheiden. Ich wollte Sankt Thomas nicht verschwinden lassen, um jede Spur ihrer Existenz auszulöschen. Ich wollte, dass man sie in Frieden ruhen ließe, und es war ungeschriebenes Stadtgesetz, dass das, was im Wald begraben lag, in Frieden gelassen wurde. Dieses ungeschriebene Gesetz hielt natürlich Kinder nicht davon ab, mit ihren kleinen Plastikschaufeln auf Ausgrabungsexpeditionen zu gehen, aber wenige ungeschriebene Gesetze gelten für Kinder, und wenige Geheimnisse außer ihren eigenen sind vor ihnen sicher.

Der heikle Teil war, dass ich, um Sankt Thomas vom Fleck zu bewegen, sie anfassen musste. Als ich im Hinterhof des Postamts stand und mir der Problematik dieser Notwendigkeit gewahr wurde, wünschte ich, ich hätte wenigstens ein Paar Handschuhe dabei, aber es war Sommer und ich hatte keines. In meiner Not half ich mir schließlich folgendermaßen: Ich zog mein T-Shirt aus und wickelte es vorsichtig um Sankt Thomas, noch immer halb in der Erwartung, eine gekrallt zu kriegen. Selbst durch den Stoff fühlte sie sich kalt und steif an. Mit dem Bündel in den Händen schließlich, barbrüstig wie ein Holzfäller, verließ ich den Hinterhof und lief in den Wald. Mit bloßen Händen hob ich unter einem Baum, den ich nicht benennen konnte – denn schon damals konnten Kinder keine Bäume mehr benennen – ein Loch aus. Ich legte Sankt Thomas hinein, eingewickelt in mein T-Shirt wie in ein Leichentuch, und bedeckte das Loch wieder mit der Erde, die daneben aufgehäuft lag. Das alles dauerte bis zum Einbruch der Dunkelheit. (Die Leute neigen dazu, das zu vergessen, wenn sie der Kindheit einmal entwachsen sind, aber ein Loch zu graben ist wirklich nicht einfach.)

Als ich fertig war, stand ich dort über dem Grab, in der kirchenartigen Dämmrigkeit des Waldes, der Geruch der frisch aufgeworfenen Erde erinnerte mich an Weihrauch und ich zog in Erwägung, ein Gebet für die ägyptische Katzengöttin zu sprechen, nicht, weil ich an so etwas glaubte, sondern, weil es sich richtig anfühlte. Vielleicht brachte ich sogar eins zustande, aber wenn mir das gelang, erinnere ich mich nicht, wie es ging. An das T-Shirt allerdings erinnere ich mich. Es war grau, und ein Bild von einem Motorrad war darauf, und unter dem Motorrad stand TRIUMPH MOTORCYCLES in großen Lettern, wie man sie in den Kapitelüberschriften wichtiger Bücher findet.