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Claudia Pietschmann

Good Dreams

WIR KAUFEN DEINE TRÄUME

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Claudia Pietschmann,
1969 in der Mark Brandenburg geboren, verbrachte ihre Kindheit und
Jugend inmitten zahlloser Bücher. Sie studierte in Berlin Betriebswirtschaftslehre
und arbeitete anschließend als Marketingberaterin und Werbetexterin. Mit dem
Träumen beschäftigt sich die Autorin schon lange. Es ist ihr sogar gelungen,
das luzide Träumen zu erlernen, genau wie die Figuren in ihrem
Debütroman GoodDreams.

GoodDreams – Wir kaufen deine Träume ist auch als Hörbuch erhältlich.

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1

Seit dem Morgengrauen sitzt Ben auf seinem Board. Nur ein leichter Wind kommt vom Land, die See kräuselt sich sanft. Noch ist das Wasser weich und streichelt um seine Füße. Doch er kann sie riechen. Die Nackenhärchen stellen sich auf, seine Fingerspitzen kribbeln. Sein Körper spannt sich. Nur noch wenige Minuten, dann ist sie da. Er zieht den Reißverschluss seines schwarzen Neoprenanzugs nach oben und streicht sich die blonden Strähnen, die sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst haben, aus dem Gesicht.

Wenigstens eine von ihnen muss er erwischen. Eine dieser Wellen, die berüchtigt und gefährlich sind. Seit Stunden lauert er auf das Duell mit einer der mächtigsten Naturkräfte, die es gibt. Ben kann sich an die Glücksmomente erinnern, an das Gefühl, wenn es ihm gelang, eine Monsterwelle zu reiten. Groß und mächtig – der Beherrscher der Natur. Und gleichzeitig doch klein und ausgeliefert.

Er atmet tief ein und aus. Saugt die salzige Luft in die Lunge und genießt den letzten Augenblick der Ruhe.

Konzentration. Er muss sich sammeln, seine Mitte finden, denn Zweifel können ihn das Leben kosten. Dieser Zeitpunkt, an dem Panik in ihm aufsteigt – so wie jetzt. Er muss dieses Gefühl kontrollieren. Muss es annehmen und dann abstreifen. Es darf nicht bleiben, sonst zeigt er im entscheidenden Moment Furcht. Obwohl die Furcht nicht real ist. Sie existiert nur in seinem Kopf.

Ein letzter Atemzug, ein letztes Nachdenken, ein letztes geflüstertes Mantra. Dann paddelt er los.

Die Welle rollt auf ihn zu. Eine Wand aus Wasser. Ein Haus. Ein Hochhaus. Sie bäumt sich auf, will gerade brechen, doch er nimmt Fahrt auf, stellt sich ihr. Der Kampf kann beginnen. Ein paar Herzschläge lang schwebt das Board in der Luft. Ben genießt das Gefühl zu fliegen, zu schweben, zu gleiten. Aber dann strauchelt er, fängt sich wieder und gewinnt das Gleichgewicht zurück. Drückt die Kante des Boards ins Wasser, verliert erneut den Halt.

Die Welle bestraft ihn brutal für seinen Fehler. Ein Sturz kann den Tod bedeuten. Er sollte locker und entspannt bleiben, sollte Arme und Beine an den Körper ziehen, sich zu einer Kugel zusammenrollen. Er weiß es, kann es – und doch gehorcht ihm sein Körper nicht. Das Wasser presst ihm die Luft aus der Lunge. Die Angst hilft mit. Es fühlt sich an, als würde er nach einem Sprung aus dem vierten Stock auf knochenhartem Asphalt landen. Wie aus weiter Ferne dringt das Rauschen des Ozeans an sein Ohr, das Wasser kocht. Noch viel lauter – unerträglich laut – ist das Knacken in seinem Körper. Knochen, Sehnen, Muskeln und Gelenke. Alles wird über das Maß der Erträglichkeit hinaus gedehnt. Er kann das nicht überleben, seine Wirbelsäule scheint in zwei ungleiche Teile zu zerbrechen.

Dann ist alles vorbei und Ben kämpft sich wieder an die Oberfläche. Die See ist ruhig, nichts erinnert an den Kampf. Sein Board treibt nur zehn Meter von ihm entfernt. Er schwimmt hinüber, zieht sich hoch und massiert das drückende Gefühl aus seiner Brust.

Wie schwach er sich fühlt. Er weiß, er sollte es nicht tun, sollte an Land paddeln, sich ausruhen und Kraft sammeln, doch er kann nicht anders. Ein Blick nach hinten genügt, um das Adrenalin in sein Hirn zu pumpen. Weit draußen kündigt sie sich an. Eine ganze Abfolge mehrerer Wellen. Eine davon wird ihm gehören.

Er stößt die Hände ins Wasser, legt sich bäuchlings auf sein Board und paddelt los, treibt das Brett voran. Kein Gedanke daran, was vor wenigen Minuten passiert ist, was schiefgehen könnte, welchen Preis er zahlen würde.

Ben kneift die Augen zusammen. Mit seinem Blick sucht er genau den richtigen Punkt. Warten, warten, Geduld haben. Die Welle darf noch nicht brechen oder umschlagen. Sie muss einen steilen Hang formen. So hoch, dass es sich lohnt, sie zu reiten, an ihr hinabzugleiten, sie zu beherrschen. Ein wenig noch, nur einen Augenblick.

Jetzt!

Die Welle ist hoch wie ein Turm. Er zieht noch einmal Kraft aus allen Fasern seines Körpers, leert seinen Geist, paddelt schneller. Dann drückt er sich auf dem Brett nach oben.

Seine Haare glitzern in der Sonne. Salzkristalle auf den Lippen. Die Muskeln spannen sich, er springt hoch, steht auf dem Brett – und gleitet in die Tiefe. Hinter ihm bäumt sich die Welle, gigantisch, gewaltig und unglaublich schön.

Er verlagert sein Gewicht, legt sich nach links in die Kurve und tanzt quer an der gläsernen Wasserwand entlang. Und wieder droht das Ungetüm ihn zu überrollen. Doch er ist schneller. Diesmal ist Ben der Sieger. Er gewinnt das Duell und gleitet seitlich aus der Welle hinaus.

***

Aus einer kleinen schwarzen Lederbox entnimmt Jeanne den Schmuck und beginnt andächtig, ihn anzulegen. Erst der Ring für die linke Augenbraue, schmal und aus glänzendem Silber. Genauso die Zwillinge für die rechte Braue. Ganz außen fädelt sie noch einen weiteren Ring durch die Haut. Etwas größer ist er – und ein winziger Büffel hängt daran. Es ist ein Geschenk ihres Vaters. Sie streichelt das Tier sanft. Menschen, die im Jahr des Büffels geboren sind, sind sehr beliebt, fleißig, geduldig und schweigen lieber, bevor sie auch nur ein Wort zu viel sagen. Allerdings sind sie leicht erregbar und neigen zu Hartnäckigkeit und Eigensinn.

Bei diesen Gedanken atmet sie tief durch. Der Büffel beschützt sie, er ist ihr Glücksbringer. Und das kann sie brauchen, auch wenn sie alles bis ins kleinste Detail geplant hat. Mit der Yakuza ist nicht zu spaßen.

Der Ring an der Oberlippe macht größere Schwierigkeiten. Sie muss nah an den Spiegel treten, um ihn schmerzfrei einzufädeln.

Verträumt schaut sie in ihr Gesicht. Makellos wie ihr Körper. Kein Leberfleck, kein Pickel, nicht die winzigste Pigmentstörung. Schwarzroter Lippenstift, smokey eyes. Sie ist so zufrieden mit sich, dass sie sich nur schwer vom Spiegel losreißen kann.

Selbstvergessen wechselt sie die Spitzenunterwäsche gegen ein Bustier aus schwarzem Leder und einen nahtlosen Slip. Darüber zieht sie eine schwarze enge Lederhose, die sich wie eine zweite Haut über ihre Beine legt. Der Bund sitzt so tief, dass ihre spitzen Hüftknochen ungeniert hervorschauen.

Sie wühlt ein wenig, bis sie die lackschwarzen Slingpumps gefunden hat, und ist etwas unschlüssig, ob die zehn Zentimeter hohen Absätze die richtige Wahl sind. Gut, sie kann darin laufen, ohne dass sie herumstöckelt wie ein neugeborenes Fohlen. Aber falls sie sich beeilen muss, wird sie Schwierigkeiten haben. Unbewusst leckt ihre Zunge über die Oberlippe und spielt mit dem Silberreif. Schon beugt sie ein Bein, um den Schuh wieder auszuziehen, doch sie entscheidet sich anders. Sie wird nicht rennen müssen. Nicht einmal schneller laufen. Nein, sie nicht.

Jeanne verstaut ihren Laptop im Koffer und klemmt ihn unter den Arm. Ein kurzer Blick, ob sie auch wirklich nichts vergessen hat. Sie wird dieses Zimmer nie wieder betreten.

Als sie mit durchgestrecktem Rücken die Treppe hinunterkommt, spürt sie die Blicke des Paares an der Rezeption. Jeanne rümpft die Nase und kräuselt die Lippen – sie sieht dem Mann an, dass er zu gern einen Blick unter das glänzende Bustier werfen würde. Sie geht ein wenig langsamer, wackelt mit ihrem kleinen Hintern und blickt ihm tief in die trüben Augen. Er wendet den Blick erst ab, als seine Frau wütend die Luft durch die geblähten Nasenlöcher ausstößt.

Die Straße draußen ist regennass, Leuchtreklamen spiegeln sich in den Pfützen. Und obwohl die Rushhour schon vorbei sein sollte, ist der Verkehr mörderisch. Es wird nicht einfach sein, ein Taxi zu bekommen, doch sie hat diesen Zeitbedarf einkalkuliert. Ein kurzer Check der Uhrzeit. 21 Uhr 15. Ihr bleiben noch dreißig Minuten.

Wider Erwarten steht sie nur wenige Augenblicke am Straßenrand, geschützt durch das Vordach des Hotels, als eine der gelben Limousinen hält. Der Fahrer hat blondierte Dreadlocks und riesige Kopfhörer auf den Ohren, die er ein wenig zur Seite schiebt, um ihr Ziel zu erfragen. Sie lehnt sich zurück und beobachtet, wie er sich im Takt der stummen Musik hin und her wiegt. Alles läuft perfekt. Er wird keine Schwierigkeiten machen und die fünfhundert Yen akzeptieren, die sie abgezählt in ihrer Hand hält.

Zwanzig Minuten später steigt Jeanne aus dem Auto, lässt den Koffer darin und bittet den Fahrer, auf sie zu warten. Dann überquert sie die Straße. 21 Uhr 35 – etwas zu früh. Kurz denkt sie darüber nach, ob es besser ist, noch ein wenig Zeit vergehen zu lassen, entscheidet sich dann aber spontan dagegen. Es wird gut sein, etwas zu früh dort aufzutauchen. Vielleicht wird sie die Männer damit sogar ein wenig aus dem Konzept bringen. Jeanne macht ein paar kurze Dehnübungen, probiert einige Sidekicks, die mit der engen Hose nicht einfach sind, aber sie hat es trainiert.

Ein Stoßgebet zum Himmel, dann klopft sie an die schmale grüne Tür, die zwischen einer Reinigung und einem Telefonladen wie eingeklemmt wirkt. Erst passiert nichts, doch sie ist sich sicher, dass man sie längst gesehen hat. So schmutzig diese Gegend auch ist, so unscheinbar diese Holztür auch wirkt. Dahinter befindet sich der meistgesuchte Yakuza in der größten Opiumhöhle Tokios. Und er wartet auf sie. Er ist der Mann, vor dem sich in Japan alle fürchten. Mit dem schon Schulkindern gedroht wird, wenn sie ihre Aufgaben nicht erledigen. Dann holt dich der Yakza, sagen die Väter. Und die Mütter schelten ihre Ehemänner dafür. Mach ihnen nicht solche Angst, sagen sie. Nicht mit diesem Mann, der sich berauscht an den Qualen seiner Opfer, dem nichts mehr Vergnügen bereitet, als Menschen leiden zu sehen.

Fast lautlos öffnet sich die Tür und niemand ist zu sehen. Niemand verlangt ein Codewort von ihr. So etwas gibt es nur in schlechten Thrillern und B-Movies. Niemals würden die Yakuza jemanden in ihr Reich lassen, nur weil er eine Parole kennt. Sie haben andere Methoden, diejenigen zu testen, mit denen sie Geschäfte machen.

Als Jeanne die Stufen herabsteigt, weiß sie, dass sie die Kleidung niemals wieder tragen kann. Keine Reinigung der Welt ist in der Lage, den fettigen Opiumgeruch zu entfernen. Er kriecht in die Poren des Leders, bohrt sich in ihre Haut.

Erhobenen Kopfes durchquert sie den Raum voller Männer, die auf Sofas sitzen und das Gift aus Pfeifen saugen. Erbärmliche Geschöpfe, die sich das letzte bisschen Hirn aus den Schädeln rauchen. Sie blicken sie aus bewölkten Augen an, heben die Brauen und schauen durch sie hindurch. Aus ihren offenen Mündern ertönt eine Art Bellen oder Grunzen. Sie rufen nach Nachschub, der sofort von einem jungen Angestellten in akkurater Uniform gebracht wird.

Ein stiernackiger Glatzkopf tritt auf Jeanne zu. Ohne Aufforderung stellt sie sich breitbeinig hin und lässt sich von seinen groben Händen nach Waffen absuchen. Stumm nickt er und geht voran in das Hinterzimmer. Sie folgt ihm und schert sich nicht um das anzügliche Grölen der Opiumraucher, das ihre Schritte begleitet.

Man führt sie an einen Tisch. Der, den sie sucht und der hofft, dass sie diesen Raum nicht lebend verlassen wird, hockt scheinbar völlig unbeteiligt, aber kerzengerade auf einem kleinen Schemel. Auf beiden Seiten wird er flankiert von Männern in schlecht sitzenden Anzügen und Maschinenpistolen vor der Brust. Sie zählt kurz durch. Yakza ist ein alter Mann und scheint sich dennoch sehr sicher zu sein. Sie kann es kaum glauben. Er lässt sich nur von vier Männern bewachen, die ihr fasziniert auf den Brustansatz starren, solange der Alte nicht hinschaut. Fast unmerklich schüttelt sie den Kopf. Es läuft besser, als sie dachte. Ein unauffälliger Blick in die Runde. Es gibt keinen weiteren Ausgang, nicht einmal ein Fenster. Aber das hat sie gewusst, sie hat ihre Quellen. Menschen, die sind wie sie. Die es genießen, unterschätzt zu werden. Und die dafür leben, die Blicke ihrer Gegner zu sehen. Die letzten Blicke kurz vor dem Tod, in denen das Begreifen zu lesen ist. Die Feststellung, erst jetzt zu wissen, dass man sich mit jemandem angelegt hat, der in einer ganz anderen Liga spielt.

Jeanne ist einen Moment unkonzentriert und wird aus ihren Gedanken gerissen, als der Alte sich nach vorn beugt und drei tiefe Schlucke aus dem Glas nimmt, das vor ihm steht. Eine helle Flüssigkeit, Sake wahrscheinlich oder Wodka.

Er richtet sich auf und mustert sie. Dann streckt er die Hand aus, ohne etwas zu sagen. Das ist auch nicht nötig, sie weiß, was er will. Jeanne zieht das Ende der silbernen Kette aus dem Bustier, an dem ein winziger USB-Stick hängt, löst ihn geschickt und reicht ihn über den Tisch. Doch der Alte nimmt die Hand zurück und schaut sie scharf an.

Plötzlich spürt sie, dass etwas nicht stimmt. Sie will etwas sagen. Muss etwas sagen, doch die Zunge klebt schwer an ihrem Gaumen. Was nun? Was soll sie tun? Sie schaut den Alten an. Er hält ihrem Blick stand. Die Männer werden langsam nervös. Einer von ihnen beginnt, mit dem Abzug der Maschinenpistole zu spielen.

Sie weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Abwarten? Abhauen? Niemals werden sie sie gehen lassen. Doch dann besinnt sie sich und streift die Panik ab. Sie ist Kamikaze Kaito Jeanne. Nichts kann ihr passieren. Gar nichts. Sie kommt, wann sie will, und geht, wann sie will. Niemand kann sie davon abhalten.

Sie ringt sich ein Lächeln ab und ein heiseres Krächzen gurgelt in ihrer Kehle, doch dann hat sie auch ihre Stimme im Griff.

»Ich habe das, was Sie wollten. Also erfüllen Sie Ihren Teil der Abmachung und bezahlen mich.«

Erneut hält sie ihm den Stick hin. Doch er schüttelt den Kopf und macht eine Handbewegung nach hinten. Einer der Bodyguards legt einen Laptop mit Aluminiumgehäuse auf den Tisch, klappt ihn auf und fährt ihn hoch.

In Jeannes Kopf wirbeln die Gedanken. Sie hat alles genau durchgespielt. Doch mit dieser winzigen Kleinigkeit hat sie nicht gerechnet. Es war ihr klar, dass er das Material überprüfen muss, doch dass sie selbst den Stick anschließen soll … Verdammt. Warum ist ihr diese Möglichkeit nicht eingefallen?

Die Männer sind still. Entsetzlich still. Nur der Lüfter des Computers ist zu hören. Ein Rauschen, dann ein Kichern des Alten.

»Auf geht’s, mein Mädchen«, sagt er. »Zeig uns, was du hast.«

Ihre Hände sind nass. Vor Angst, vor Panik, vor Ärger, dass ihr Plan misslingt. Sie hat einen Fehler gemacht und die Opiumhöhle in dem Glauben betreten, dass sie die Kontrolle über die Situation behalten wird. Doch das stellt sich nun als Trugschluss heraus. Jetzt ist alles egal. Noch ist der Laptop nicht bereit. Jeanne setzt alles auf eine Karte und beginnt, die Herausforderung zu genießen.

Kurz flackert der Bildschirm, dann zeigt sich das Menü. Der Bildschirmschoner ist ein Foto. Ein Bild von einem Grabstein. Sie kneift die Augen zusammen, um im Halbdunkel des Zimmers lesen zu können, was darauf steht. Als sie begreift, füllt sich jede Pore ihrer Haut mit Angstschweiß, der aus ihr herausbricht. Sie kennen ihren Namen. Kamikaze Kaito Jeanne. Das Todesdatum: heute.

Sie ist das perfekte Spielzeug für die Yakuza. Schön, jung und selbstverliebt. Und jetzt ist sie wehrlos. Schutzlos. Und bald zerschmettert.

Jeanne wiegt den Stick in ihrer Hand und überlegt, ob es besser ist, sich erschießen zu lassen oder in ihre eigene Falle zu tappen. Sie entscheidet sich für die winzige Chance, die sie noch hat, und rammt den Stick in den Port. In Gedanken zählt sie rückwärts. Sie weiß genau, wie viel Zeit ihr noch bleibt.

Der Alte schaut sie ungläubig an. Auf seiner Stirn pulsiert eine blaue Ader. Er winkt seine Männer heran und alle vier gehen auf Jeanne zu. Sie wartet. Sie muss den richtigen Zeitpunkt abpassen. Gegen eine Kugel aus ihren Pistolen richtet auch ihre ganze Kampfkunst nichts aus. Noch ein Moment, ein winziger Lidschlag, dann ist einer der Männer nur einen halben Meter von ihr entfernt. Sie sagt etwas, ein Flüstern nur. Unverständlich. Und er fällt darauf rein. Tut das, was sie ihn tun lassen will. Er beugt sich vor, um sie besser verstehen zu können. Kurz zieht sie ihren Kopf zurück, dann schnellt er nach vorn. Stirn an Stirn. Schädel an Schädel. Er geht zu Boden. Doch sie wartet nicht ab. Wirbelt herum, hebt blitzschnell das rechte Bein und tritt aus der Hüfte zu. Der andere Mann zuckt zurück, doch sie trifft ihn an der Schläfe, gleichzeitig erledigt sie den dritten mit einem gezielten Faustschlag unter das Kinn.

Die Männer haben wohl mit allem gerechnet, nur nicht mit ihrer Gegenwehr. Doch der Moment der Überraschung ist vorbei und der letzte Mann bringt die Maschinenpistole in Anschlag. Ohne zu zielen, verballert er das gesamte Magazin. Eine Kugel trifft ihren linken Oberschenkel. Die Wut umschlingt sie, setzt in ihr neue Kräfte frei. Sie duckt sich und rennt mit gesenktem Kopf auf den Kerl zu. Fassungslos reißt er die Waffe nach oben. Ein Fehler, denn sie rammt ihm ihren Kopf in den Magen. Der Mann stöhnt, geht in die Knie. Mit der Handkante trifft sie die Halsschlagader. Er sackt zusammen.

Jeanne schaut auf die Uhr. Sie muss hier raus. Yakza starrt sie an wie jemand, der mitten in der Nacht aufwacht und überlegt, was ihn geweckt haben könnte. Sein Gesicht ist blass und angespannt. Jeanne nickt ihm zu und schleudert den Laptop über den Tisch. Als sie sieht, dass er in seinem Schoß landet, stürmt sie nach draußen. Niemand hält sie auf.

Sie steigt ins Taxi und bittet den Fahrer, sie zum Flughafen zu bringen. Da erfüllt eine Welle von Lärm die Luft. Ein Tosen und Kreischen lässt den Wagen erzittern. Jeanne schaut durch die Heckscheibe auf die parkenden Autos, die von der Druckwelle einen halben Meter in die Höhe gehoben werden und scheppernd wieder auf der Straße landen. Hinter ihr herrscht das tobende Chaos.

Die Opiumhöhle ist Geschichte.

Ab jetzt ist auch Yakza nur noch eine Legende.

2

Leah konnte ihren Blick kaum vom Monitor lösen. Wie kam jemand nur auf solche Ideen? Sie stützte den Kopf in die Hände und umwickelte gedankenverloren ihre Finger mit dunklen Locken. Um Zeit zu schinden. Um nichts sagen zu müssen. Endlich blickte sie auf und Mikas erwartungsvoller Blick traf sie.

»Na, habe ich dir zu viel versprochen? Was sagst du?« Er grinste schief und in seinem Blick steckte wie immer eine Herausforderung.

Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Diese Filme waren so … perfekt. So durchdacht und professionell. Sie musterte ihren Bruder. In seinen Augen funkelte pure Begeisterung. Begeisterung, die Leah, wie sie wusste, seiner Meinung nach ohnehin nicht in angemessene Worte fassen konnte. »Die sind … toll?«

»Toll? Die sind der Hammer! Und überhaupt, echt mal, ein wenig mehr Begeisterung, bitte! Das sind zwei der bekanntesten und beliebtesten Profiträumer … und du klingst nicht gerade geflasht. Was ist los mit dir?« Er atmete demonstrativ laut aus, als wäre er mit seiner Geduld am Ende.

»Ja, und? Was willst du denn hören?« Leah zog die Schultern nach oben und senkte genervt den Blick. Ihrem Zwillingsbruder konnte sie selten irgendetwas recht machen, vor allem nicht, wenn es ums Träumen ging.

»Seit Tagen zwingst du mich dazu, diese abgefahrenen Träume anzuschauen. Du weißt doch genau, dass … dass ich das eh nicht kann! Falls du also damit bezwecken wolltest, dass ich es auch versuche, dann herzlichen Glückwunsch: hat nicht geklappt!« Leah strich sich ihre kaum zu bändigenden Haare aus der Stirn. Sie ahnte, dass die Diskussion noch nicht beendet war.

Mika funkelte sie an und schüttelte den Kopf. »Aber es hat dir doch gefallen. Hast du selbst gesagt.«

Leah nickte. »Ja, klar. So zu träumen, das muss wirklich … einfach großartig sein. Aber ich kann das nicht, nicht wie dieser Ben oder diese Jeanne. Und auch nicht wie der Snowboarder gestern und nicht wie der Zauberkünstler vorgestern. Ich kann das einfach nicht.«

Mika zog seine Augen zu Schlitzen zusammen. »Aber was ist denn dein Probl…«

Leah seufzte und unterbrach ihn. »Ich weiß, dass du mir Mut machen willst. Dass du mir Ideen zeigen willst und was alles möglich ist. Danke, okay?« Sie holte tief Luft. »Mein Problem ist aber die Tatsache, dass man Talent braucht, um mit Träumen Geld zu verdienen. Ta-lent. Das hat nun mal nicht jeder und ich am allerwenigsten!« Sie knetete ihre Fingerknöchel und überlegte, wie sie das Gespräch abbrechen könnte. Einfach aufstehen und gehen? Oder besser endlich das sagen, was ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge lag und rauswollte?

Mika ließ nicht locker. »Aber du bist meine Schwester, meine Zwillingsschwester, verdammt! Ich weiß, dass du es kannst. Ich weiß es. Du musst einfach Talent haben. Die Sache mit dem Träumen ist einfach. Jetzt gib dir einen Ruck und versuch es wenigstens mal.« Mikas Stimme und sein Blick waren flehentlich und sanft geworden. So zerbrechlich zeigte er sich selten, erst seit einigen Wochen. Sicher weil auch er langsam verzweifelte. Wie sollte es nur mit ihnen und ihrem Vater weitergehen, wenn sich nichts änderte?

»Uns steht das Wasser bis zum Hals und du kannst uns da rausholen. Du allein! Jetzt gib dir doch endlich mal einen Ruck, verdammt.«

Das klang nun überhaupt nicht mehr flehend und Leah konnte nicht anders, als zu antworten: »Wenn es so verdammt leicht ist, warum träumst du dann nicht mehr?«

***

Yuna gab sich der aussichtslosen Tätigkeit hin, die Ringe wegzuschrubben, die Flaschen und Gläser anderer Generationen auf dem gelblichen Kunststoff der Rezeption hinterlassen hatten. Es war ihre Art, noch vor dem Frühstück Beschäftigung vorzutäuschen. Sie blickte sich im Empfangsraum des Hostels um und hätte damit anfangen können, all die leeren Getränkedosen in einen Müllsack zu stopfen. Und es wäre auch noch ein zweiter da, um die unzähligen Snacktüten aufzunehmen, die sich in den Ecken zu bizarren Skulpturen auftürmten. Sie könnte auch endlich beginnen, diesen Fleck auf der Bastmatte vor der Eingangstür zu entfernen.

Es hieß, sie sei der letzte neue Gast gewesen, der das Hostel betreten hatte. Nun lebten hier die Gestrandeten, die irgendwann für ein paar Urlaubswochen gekommen und hiergeblieben waren. Die meisten unfreiwillig, so wie sie. Yuna blies sich eine schwarze Strähne aus der Stirn und schüttelte den Kopf. Ich könnte alles noch heute putzen. Aber was dann? Dann habe ich keine Legitimation mehr hierzubleiben und er schmeißt mich raus. Wo soll ich dann hin?

Sie tauchte den Putzschwamm in den Wassereimer zu ihren Füßen und schrubbte weiter den Tresen. Der schmutzige Schaum bildete Schlieren, die sie gebannt betrachtete, bis sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung des Vorhangs wahrnahm, der den Empfangsraum vom schmalen Treppenhaus trennte. Sie wappnete sich innerlich, schob den Unterkiefer nach vorne, straffte die Schultern und flötete: »Guten Morgen, Hayashi-san. Haben Sie gut geschlafen?«

Der glatzköpfige Mann, der sich ihr schlurfend näherte, sah sie aus rot geränderten Augen an und streckte die behaarten Arme nach ihr aus. Yuna zuckte zurück, nur um sich einen Lidschlag später bewusst zu machen, dass sie das ihren Job kosten konnte. Schnell trat sie einen Schritt vor und lief genau hinein in diese Arme. Hayashi tätschelte ihr mit seiner fettigen Hand das Gesicht. »Mein Täubchen. Und schon wieder fleißig, wie ich sehe. Da können die Gäste ja kommen.«

Ja, da könnten die Gäste kommen. Aber es kamen kaum noch Reisende auf die Insel. Nicht, seitdem die Flüge unerschwinglich geworden waren und die Schiffe nur noch für wichtige Transporte genutzt werden durften. Niemand kam mehr und niemand vermochte, die ehemalige Touristeninsel Okinawa zu verlassen. Yuna am allerwenigsten.

Hayashi legte seine Hände auf ihre Schultern und bat sie um eine Rückenmassage. Das ist zu viel. Wenn er schon vor dem Frühstück mit diesen Sprüchen anfängt, ist das zu viel. Sie atmete tief ein, verschloss sich vor dem, was er sagte, und ließ ihre innere Jalousie herunter. Eine Jalousie von der Art, bei der man durch die heruntergeklappten Lamellen nur noch einen ausgewählten Teil der Welt sehen konnte. Er redete weiter und sie hörte sein Geschwätz. Aber die Worte kamen bei ihr nicht an, sie ließ sie einfach nicht rein, sie hatte ihre Ohren verschlossen.

Ein Blick auf die Uhr. Endlich war es zehn. Zeit für eine Pause. Sie drehte sich zu Hayashi um und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. »Ich muss weg.«

Er grinste und leckte über die Oberlippe. »Wo willst du hin, meine Schöne? Der Tag beginnt erst.«

Yuna verschränkte die Arme vor der Brust. »Meiner hat schon vor Stunden begonnen. Ich brauche eine Pause.«

Die Ungeduld zog sie magisch zu Akira. Vor drei Stunden hatte sie mit seinem Computer ihren neuesten Erfolg gepostet. Sie wollte unbedingt nachsehen, wie viele Likes er ihr schon gebracht hatte. Sie brauchte Geld. Viel davon, um endlich von dieser verfluchten Insel verschwinden zu können.

***

Ben schlug beim Erwachen wild um sich, seine Beine zuckten und stießen das zerknitterte Laken fort, das sich um seine Knie geschlungen hatte. Seine Finger krampften sich um den Traumrekorder, den er fest an die Brust gedrückt hatte. Er hielt die Augen geschlossen und hinter seinen Lidern tanzten die verblassenden Bilder des Traums. Meer und Wellen und er mittendrin auf seinem Brett. Im Traum ritt er jede Welle, egal, wie groß sie war. Das Wasser war sein Freund, sein Diener – es ordnete sich ihm unter.

Er wollte an diesem Traum festhalten, wollte, dass sich die Bilder einbrannten in sein Hirn und ihn stark machten für das, was dieser Tag bringen würde. Was jeder Tag brachte. Im Traum war die Welt schön, das Wasser glitzerte und das Salz brannte auf seiner Haut.

In der Realität sah sein Leben anders aus. Ben rieb sich den Schlaf aus den Augenwinkeln. Er sollte sich beeilen und den Traum posten.

Er öffnete die Lider und kniff sie sofort wieder zusammen. Die Sonne schickte gleißende Helligkeit durch die geborstenen Fensterscheiben. Ihre Strahlen malten weiße Muster auf den staubigen Boden des alten Schulbusses. Langsam erhob er sich, rollte dabei einen Wirbel nach dem anderen auf wie eine Katze. Die durchgelegene Matratze war dunkel vor Feuchtigkeit, denn das Morph verursachte ihm Schweißausbrüche. Er durfte nicht vergessen, sie später draußen in der Sonne trocknen zu lassen.

Mit spitzen Fingern zupfte er die Elektroden von seiner Stirn und legte sie in das weiße Kästchen zurück. Dann stöpselte er den Traumrekorder an seinen alten Microsoft-Rechner, überspielte den Traumfilm auf die Festplatte und lud ihn wenige Minuten später auf sein Profil bei GoodDreams. Er war gespannt, wie die User ihn finden würden. Für ihn war der Traum perfekt, er würde nichts editieren, nichts glattbügeln. Wahre Perfektion war langweilig, jedenfalls vertrat er diese Ansicht und der Erfolg gab ihm recht. Blieb zu hoffen, dass er mit vielen Likes belohnt würde. Schon jetzt gehörte Ben zur Träumerelite, hatte Fans und Follower und viele Likes. Und viele Likes brachten Geld. Geld für Lebensmittel und Brandy für seine Mutter.

Ben fuhr sich mit den Fingern durch die glatten hellen Haare, band sie zu einem Pferdeschwanz zurück und zog sich an. Das helle Shirt mit dem grünen Aufdruck »Fuck you all«, die abgeschnittene, verblichene Jeans und die Turnschuhe, die er seit Jahren trug. Gelber Wüstensand rieselte aus den Profilsohlen, als er hineinschlüpfte. Sie hatten schon damals nicht gepasst, als er sie einem der vorbeifahrenden Touristen abgeschwatzt hatte. Aber er hatte ein Messer genommen und die Kappen abgeschnitten. Das gab seinen Zehen Bewegungsfreiheit und der heiße Wüstensand verbrannte ihm nicht die Fußsohlen.

Auf den Stufen vor der Fahrertür saß seine Mutter und hielt das Gesicht in die schon jetzt gleißende Sonne. Durch die Jahre in der Wüste waren ihre Haare weißblond und ihre Haut braun und fest geworden, sodass sie fast schon ledern wirkte. Der Alkohol machte es nicht besser. In der Hand hielt Abby eine leere Brandyflasche. Ben ließ sich neben ihr nieder und starrte mit leerem Blick auf seine Heimat. Slab City, die Stadt in der Wüste Kaliforniens. In keiner Karte verzeichnet. Eine verrottete Wohnwagensiedlung, in der selbst die Bewohner langsam die Farbe des Sandes annahmen, der alles bedeckte, alles durchdrang und alles verschlang.

Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, dann hätte er gelacht. Slab City, die Stadt in der Wüste, hatte nie einen Stromanschluss gehabt. Und gerade jetzt, da die ganze Nation unter der Energiekrise litt, kam ihnen dieser Umstand zugute. Jeder Wohnwagen, jedes noch so brüchige Zelt und auch ihr Bus hatten genug Solarzellen auf dem Dach, um dank der harten Wüstensonne ausreichend Strom zu produzieren. Und das Funknetz war stabil genug, um eine Internetverbindung herzustellen.

»Wohin gehst du? Besorgst du dir wieder diese verdammten Drogen?« Ihre Stimme klang rau, als hätte sich auch in ihrem Hals längst der Sand eingenistet. »Ich will nicht, dass du dieses Zeug nimmst. Das macht dich kaputt. Ist nur eine Frage der Zeit.«

Diesen Dialog führten sie jeden Tag und er gab stets dieselbe Antwort. Er ging nach Niland, vier Meilen in südwestliche Richtung. Er joggte, und wenn er sich beeilte, dann schaffte er die Strecke in etwa dreißig Minuten. Mit besseren Schuhen wäre er viel schneller. In Niland würde er den Ratten vor der Tür des Drugstores einen Tritt versetzen und den dunklen Laden betreten. Emy Thomson würde auf ihn warten und ihm ein schmutziges Tuch in die Hand drücken. Er würde die Regale abstauben und auf Kunden warten, die selten kamen. Doch Ben freute sich auf Emy und sie war vermutlich ebenso froh, dass es ihn gab. Sie erzählte Geschichten aus der alten Zeit und zum Dank dafür, dass sie einen aufmerksamen Zuhörer hatte und er ihr im Store aushalf, durfte er ihren alten Rechner benutzen, dessen Gehäuse mit silbernem Klebeband zusammengehalten wurde. Sie mochte seine Träume, war sogar ganz heiß darauf und unterhielt sich gern mit ihm darüber. Manchmal gab sie ihm auch eine Packung Morph, damit er schlafen und träumen konnte. Ben würde stündlich die Likes für seinen Traum zählen und sie drei Blocks weiter in Gutscheine für Lebensmittel einlösen und für eine Flasche von Abbys Brandy.

3

Diese Bücher finden Sie ganz oben links, in der griechischen Abteilung. Sie können sie nicht verfehlen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Leah bedankte sich und stieg die Treppe empor. Sie war nicht das erste Mal hier, mochte den Lesesaal der Bibliothek. Der Raum war in seiner Anmutung an ein griechisches Amphitheater angelehnt. Bücherregale und Sitzreihen bildeten einen Halbkreis um eine Art Bühne, die mit Mikrofon und einer Beamerleinwand ausgestattet war. Deckenlampen in konzentrischer Anordnung tauchten den Saal in ein künstliches Tageslicht. Das beruhigende Weiß der Einrichtung wurde ergänzt durch die bunten Farbtupfer: die Bücher und Magazine in den Regalen und auf den Tischen.

Noch waren alle Plätze leer, also warf sie ihre Tasche auf einen der Schreibtische in der zweiten Reihe und ging mit ihrem Zettel auf die Suche nach den Büchern.

Schwer keuchend unter der Last der fünf mächtigen Bände, allesamt unterschiedliche Übersetzungen von Homers Ilias, kehrte Leah zum Tisch zurück, legte ihre Schätze vorsichtig darauf ab und setzte sich in den mit weißem Leder bezogenen Freischwinger. Sie überlegte kurz, mit welchem Werk sie beginnen sollte, und entschied sich dann für die jüngste Übersetzung aus dem Jahr 2012, von der es hieß, dass sie in einem allgemein verständlichen Deutsch gehalten war. Sollte sie nicht fündig werden, konnte sie immer noch auf die komplizierteren Versformen zurückgreifen. Sie schlug den Einband auf, blätterte über den Vorsatz hinweg bis zum ersten Kapitel und versank augenblicklich in der Geschichte der Reise des Odysseus.

Leah merkte kaum, dass sich der Lesesaal füllte, nahm nur von Zeit zu Zeit Schatten wahr, die an ihr vorbeihuschten, oder das leise Rücken der Stühle. Sich durch die Abenteuer auf der Zyklopeninsel und bei den Sirenen lesend, stellte sie sich vor, wie entsetzlich es sein musste, gefangen gehalten zu werden, abgeschnitten zu sein von allen Angehörigen und Freunden.

Ein Mann saß zu ihrer Rechten. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sich jemand neben sie gesetzt hatte. Sämtliche Schreibtische um sie herum waren frei. Warum hatte er gerade diesen Platz gewählt? Leah musterte den Mann verstohlen von der Seite. Hager war er, etwa sechzig Jahre alt und groß, selbst im Sitzen. Bekleidet mit einem dunkelgrauen Anzug, balancierte er den passenden Zylinder auf seinen Knien. Über eine zierliche silberne Brille, die auf seine Nasenspitze hinuntergerutscht war, blinzelte er sie aus klaren blauen Augen an. Sie schluckte die unwirsche Bemerkung hinunter, als er ihr freundlich zunickte und seine Hand auf ihre legte. Es fiel ihr seltsamerweise nicht ein, die Hand zurückzuziehen. Seine Berührung war leicht wie ein Hauch und sie starrte fasziniert auf die Haut des Mannes: makellos, von der Farbe Pergaments, ohne jegliche Falten oder Flecken. Von seinem gestärkten weißen Hemd stieg ein sauberer Duft auf. Sie nickte ihm ebenfalls zu und beschloss, sich nicht von diesem seltsamen Herrn stören zu lassen. Noch immer lag seine Hand auf ihrer und sie hatte kaum den Blick wieder auf die Ilias gesenkt, da nahm er die Brille ab, klappte das Gestell sorgfältig zusammen und klatschte in die Hände wie ein Kind.

Leah musterte ihn mit festem Blick. Sie zog ihre Hand zurück, nun doch leicht verärgert.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Er schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Ich habe bereits gefunden, was ich suchte.«

Das war gut, denn sie hatte keine Lust auf ein Gespräch. Es war Zeit für eine Pause in der Cafeteria, besser früher als später. Sie räusperte sich, schob den Stuhl nach hinten und wollte sich gerade erheben, als er seine Hand auf ihren Arm legte.

»Aber nicht doch, Werteste. Lassen Sie sich durch mich nicht stören. Ich warte ab, bis Sie fertig sind. Ich habe alle Zeit der Welt.«

Er wartete ab? Er hatte Zeit? Gut, dann sollte er ausharren. Sie zog den Stuhl wieder an den Tisch und las. Nach einigen Minuten gab sie auf. Der stumme Beobachter an ihrer Seite machte sie nervös.

»Sie haben gewonnen. Sagen Sie, weshalb Sie hier sind, und dann lassen Sie mich in Ruhe.« Sie besann sich und setzte ein »Bitte« hinzu.

»Wie Sie wünschen.« Sein höfliches Auftreten, seine Kleidung und die Art, wie sich sein Kopf bedächtig hob und senkte, während er langsam die Hände vor der Brust faltete, erinnerte sie an Phileas Fogg. Sie sann darüber nach, wann sie das letzte Mal Jules Verne gelesen hatte, doch der Mann sprach bereits weiter: »Nun ja, es ist mir ausgesprochen unangenehm. Ein Gentleman redet nicht über Geld, nicht gern auf jeden Fall. Jedoch, es ist so weit.« Er richtete seine Augen auf den Besucherausweis, der an ihrem Shirt befestigt war. »Ich bin gekommen, um mit Ihnen über den Preis zu reden.«

Sie dachte kurz nach. »Der Besuch der Bibliothek ist kostenlos. Jeder kann jede Bibliothek kostenlos benutzen.«

»Ich meine die Goldmünze«, raunte er und senkte den Blick auf seine Gamaschenschuhe.

»Ich verstehe nicht. Was für eine Goldmünze? Wer sind Sie überhaupt?« Leah fühlte sich unwohl. Der Mann sah in keiner Weise gefährlich aus. Er war makellos. Seine Kleidung, seine Bewegungen, sogar seine Stimme hatten genau die richtige Temperatur. Und dennoch …

»Ich spreche von der Goldmünze für den Fährmann. Dem Obolus.«

»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Ich werde jetzt gehen. Und wenn Sie mir folgen, werde ich den Sicherheitsdienst rufen.« Sie stand so abrupt auf, dass der Stuhl mit einem lauten Scheppern auf den Marmorboden kippte. Einige Leser hoben ihre Köpfe und sandten ihr mahnende Blicke. Leah senkte den Blick, hob den Stuhl wieder auf und flüsterte: »Lassen Sie mich bitte in Ruhe.«

Der Mann sah sie voller Verständnis an. »Setzen Sie sich. Ich bin sicher, dass das, was ich Ihnen zu sagen habe, Ihr Interesse finden wird.«

Als sie zögerte, sprach er weiter: »Wir kennen uns. Wir sind uns schon begegnet.«

Wie unter Zwang ließ sie sich in den Freischwinger zurückfallen, ohne ihren Blick von ihm lösen zu können.

Als Antwort auf ihre stumme Frage zog er ein altes Notizbuch aus seiner Brusttasche. Schwarzer, brüchiger Ledereinband, geknickter Umschlag und fleckige Seiten, stellte sie fest, als er es aufschlug. Zärtlich blätterte er eine Seite nach der anderen um, befeuchtete hin und wieder seine Fingerspitze, bis er fand, was er suchte.

»Ah ja, ich war sicher. Aber Kontrolle ist besser.« Er räusperte sich. »Frieda Goldstein?«

Sie nickte. »Das ist meine Großmutter. Also, sie war meine Großmutter.«

»Das ist richtig. Vor vier Jahren, drei Monaten und acht Tagen.«

Bevor sie antworten konnte, blätterte er einige Seiten zurück.

»Hannah Goldstein.«

Ihre Hände wurden plötzlich schweißnass, auch die Haare klebten feucht im Nacken. Warum war es auf einmal so heiß hier? Sie schluckte das unangenehme Gefühl hinunter und antwortete artig. »Das war meine Mutter.« Und bevor er etwas entgegnen konnte, fügte sie hinzu: »Vor zehn Jahren, elf Monaten und zwei Tagen.«

Er lächelte sie an. »Ich sehe, wir verstehen uns. Dann also jetzt zum Anlass meines Besuches.«

Sie konnte es nicht verhindern, die Erinnerung an ihre Mutter schnitt in ihre Brust. Tränen stiegen hoch, die sie nur mit großer Mühe wegblinzeln konnte.

Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Ich verstehe Sie nicht. Bitte sagen Sie mir endlich, was Sie von mir wollen!«

Ohne ihr zu antworten, zog er mit großer Gelassenheit einen Bleistift hervor, leckte die Spitze an und blätterte in seinem Büchlein viele Seiten nach vorne.

»Albert Goldstein.«

Sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Niemals! Nicht ihr Vater. Sie schlug das Buch vor sich mit lautem Knall zu, ohne sich um die Blicke der anderen Besucher zu kümmern, dann hob sie es hoch und legte es auf den Stapel zu den anderen. Seltsam. Die Tischplatte aus poliertem Holz wies Risse auf. War sie nicht eben noch glatt gewesen? Jetzt hatte es fast den Anschein, als hätte jemand mutwillig ein Messer hineingestoßen.

»Die Münze für den Fährmann. Seite 567 in Ihrem Buch sagt Ihnen alles, was Sie wissen müssen. Ich verstehe, dass Sie das alles überfordert. Aber man muss über den Preis reden, solange dies noch möglich ist.« Er erhob sich, steckte Notizbuch und Stift ein, setzte die Brille auf und nahm zögerlich den Zylinder. Dann hielt er inne und fügte hinzu: »Jemand muss den Preis zahlen. Ich lasse Ihnen ausreichend Zeit. Dann jedoch kehre ich zurück und fordere ihn ein.«

Er setzte den Hut auf, legte eine Hand auf seine Brust und deutete eine Verbeugung an. »Ich empfehle mich, Werteste. Auf Wiedersehen.«

Wie in Trance verfolgte sie sein Fortgehen. Schritt für Schritt setzte er in gerader Linie einen Fuß vor den anderen und verschwand durch die Tür.

Erst in diesem Moment bemerkte sie, dass sie den Atem angehalten hatte, und sog zischend Luft in ihre Lunge.

Sie ließ den Kopf zwischen die Knie fallen, schloss die Lider und versuchte, sich zu beruhigen. Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie eine Bewegung neben ihrem linken Turnschuh. Ein kleines graues Tier huschte zwischen ihren Beinen durch und verschwand hinter einem der Regale. War das eine Ratte gewesen? Unmöglich. Nicht hier. Hier gab es nicht einmal Staub auf dem Boden.

Sie erhob sich vorsichtig. Wenn hier eine Ratte war, konnte es dann noch mehr geben? Ekel verschloss ihre Kehle. Sie blickte sich um. Der Raum war leer. Dort, wo eben noch korrekt gekleidete Buchliebhaber an hellen Holztischen gesessen hatten, lagen stapelweise zerrissene Bücher und Papierstöße auf heruntergekommenen Metalltischen. Die Regale, die vorhin stolz die prachtvoll gebundenen Werke der griechischen Dichter präsentiert hatten, waren verschwunden. An ihrer Stelle gab es nichts. Nichts außer aufgeplatzten Müllsäcken, leeren Flaschen und Haufen alter Kleider, aus denen der muffige Geruch von Mottenkugeln zu ihr herüberwehte.

Mit zitternden Fingern nahm sie das oberste Buch vom Stapel und suchte die Seite 567. Doch jedes Mal, wenn sie eine Seite umblättern wollte, zerfiel diese zwischen ihren Fingern zu Asche. Leah hustete und fuhr sich mit den beschmutzten Fingern über die Stirn. Sie stieß die Bücher vom Tisch, doch was zu Boden segelte, war nichts weiter als feiner grauer Staub. Sie musste hier raus. Gleißend helles Licht ergoss sich plötzlich über sie. Zu ihren Füßen lieferten sich Ratten und Kakerlaken einen Wettlauf, um in den Rissen der Wände zu entkommen. Der Boden unter ihr begann, sich zu bewegen. Erst ganz langsam, dann immer schneller bildeten sich Vertiefungen und Erhöhungen. Sie stolperte über die geborstenen Marmorplatten in Richtung Tür. Noch etwa zehn Meter trennten sie vom Ausgang, als der Boden zu kochen begann. Blasen bildeten sich mit glänzender grauer Oberfläche, sie wuchsen weiter, bis sie zerplatzten und sich tiefschwarzes Pech auf die hellen Steine ergoss. Pfützen entstanden, wurden größer und flossen unter ihr zu einem glänzenden schwarzen See zusammen. Leah stand mitten darin, unfähig, auch nur einen Fuß zu heben. Schon begann der Teer, die Gummisohlen ihrer Turnschuhe zu schmelzen. Sie spürte Hitze unter den Fußsohlen. Der beißende Gestank, der den Raum erfüllte, verätzte ihre Schleimhäute. Sie zog den Saum des Shirts nach oben und presste sich den Stoff vor das Gesicht. Dann legte sie ihr gesamtes Gewicht auf das rechte Bein, während sie mit aller Kraft versuchte, das linke aus der klebrigen Masse zu ziehen. Es klappte beim zweiten Versuch. Erst das eine Bein, dann das andere. Keuchend und hustend, mit Tränen in den Augen erreichte sie die Tür, riss sie auf und floh ins Treppenhaus, das sie mit einem muffigen Geruch nach ungelüfteter Wäsche empfing. Sie sah sich um, brüllte um Hilfe, doch da war niemand.

Mit unsicheren Schritten stürmte sie auf die Treppe zu, von der nur noch ein Stahlgerippe übrig war, das bedrohlich in seiner Verankerung schwang. Sie schaute sich um. Die Blasen schlagende Teermasse wälzte sich mit bedrohlicher Geschwindigkeit auf sie zu. Es blieb nur die Flucht nach vorn – die Treppe. Sie setzte vorsichtig einen Fuß auf die erste Stufe. Das Quietschen, mit dem die Konstruktion unter ihrer Last ächzte, gellte in ihren Ohren. Noch ein Schritt. Die Treppe hielt. Leah stürzte hinunter, registrierte beunruhigt, dass in der Eingangshalle sämtliches Mobiliar verschwunden war, und rannte auf die große Glastür zu. Sie sprintete vorwärts und ergab sich der Hoffnung, dass wenigstens die Lichtschranke noch funktionierte. Und als tatsächlich die Türflügel aufschwangen, konnte sie ihr Glück kaum fassen.

Sie war entkommen. Ihr Atem ging laut und stoßweise, sie ließ den Oberkörper fallen und die Arme sinken.

***

Leah riss die Augen auf und schleuderte die Angst von sich. Ihr Herz zitterte in der Brust wie ein kleiner Vogel, aber sie war aufgewacht, und das war alles, was zählte. Die Furcht war immer noch da, presste ihren Brustkorb zusammen und raubte ihr fast den Atem. Aber sie war erwacht. Vorsichtig tastete sie nach der Erinnerung an ihren Traum, jederzeit bereit, sich wieder von ihr zu lösen, wenn es zu viel wurde.

Die Bilder der zerstörten Bibliothek verfolgten sie und sie begriff im selben Moment, dass sie Schrott produziert hatte. Ganz großen Mist. Dass das gar nichts brachte, niemand so etwas sehen wollte. Wieder eine vergeudete Nacht, wieder eine vertane Chance. Sie schaute auf den Wecker. Es war halb sieben am Morgen und damit eindeutig zu spät, um es noch einmal zu versuchen. Leah zog die Decke über den Kopf und grub ihr Gesicht ins Kissen. Diese verdammten Elektroden drückten sich in die Haut und der Schmerz ließ sie aufstöhnen.

Aussichtslos. Es hatte keinen Sinn und sie beschloss, an diesem Tag einfach überhaupt nicht aufzustehen. Nichts hören, nichts sehen und mit niemandem sprechen. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie hatte Hunger, aber das alte Brot, die Margarine und die Hafergrütze, die sie in der Küche erwarteten, waren ganz sicher nicht das, was sie wollte. Wie lange war es her, dass sie Nussnugatcreme gegessen hatte? Frische Brötchen, Rühreier mit Speck? Sie konnte sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie Schokolade schmeckte. Oder Mohnkuchen. Alles Geschichte, alles Vergangenheit.

Mit einem Mal ging die Tür auf und jemand näherte sich mit schnellen Schritten. Leah zwang sich, ruhig zu atmen und sich schlafend zu stellen, doch da wurde ihre Decke weggerissen.

»Zeig, was du hast!« Mika bog ihre rechte Hand auf, die sich um das silberne Kästchen krampfte. »Nun gib schon her.«

Sie wollte ihm den Traumrekorder nicht geben, aber er ließ ihr keine Chance.

»Mika. Es hat wieder nicht geklappt. Es funktioniert einfach nicht. Ich kann das nicht, warum siehst du das nicht endlich ein?«

Ihr Zwillingsbruder musste nichts sagen, seinem Gesicht konnte sie deutlich ansehen, was er von ihr hielt. Sie war eine Versagerin. Sie konnte nichts, war zu nichts zu gebrauchen – schon gar nicht dazu, das Überleben ihrer Familie zu sichern.

»Halt den Mund und gib her. Ich schaue es mir an. Irgendwas davon wird doch okay sein. Vielleicht, wenn ich es unter meinem Namen poste …« Er seufzte tief. Leah sah ihm an, dass er längst darüber grübelte, wie er den schrottigen Traum seiner Schwester zu Geld machen konnte. Er murmelte: »Ich werde einfach in die Trickkiste greifen und was richtig Cooles daraus machen. Wir brauchen mindestens zehntausend Likes für Vaters Medizin. Wenn wir mehr kriegen, dann reicht es auch für Obst oder Gemüse.«

»Schokolade?« Sie biss sich auf die Zunge.

»Du bist so …« Mikas Blick zuckte zu ihr, als habe er ganz vergessen, dass sie noch da war. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Falte. »… so was von verdammt egoistisch.«

Leah warf sich auf die Seite und blickte aus dem Fenster, das halb verdeckt war durch einen bunten Vorhang mit Karomuster, aus zerschlissenen Küchentüchern zusammengeflickt. Der Himmel zeigte sich heute in verhangenem Grau. Passend zu ihrer Stimmung. Genauso wie gestern und vorgestern auch. Leah konnte sich gar nicht daran erinnern, wann sie den letzten Sonnenstrahl über Berlin gesehen hatte. An der Wand neben dem Fenster schimmerte an einigen Stellen der nackte Putz durch. Es mochte sein, dass er einmal weiß gewesen war, jetzt jedoch verteilten sich darauf schmutzige Flecken wie Inselarchipele im Weltmeer. Uralte Poster von Popstars, die sie mal gemocht hatte, überlagerten sie. Einige davon lösten sich nicht zum ersten Mal von der Wand und wurden mit Klebeband verzweifelt zum Bleiben überredet.

Leah schloss die Augen und hörte ihren Bruder am Schreibtisch hantieren. Mit einem leisen Surren vermeldete der Computer sein Hochfahren. Jetzt stöpselt er den Rekorder an. Und jetzt nimmt er die Kopfhörer. Jetzt startet er das Programm. Sie zog die Decke über das Gesicht und wusste, dass ihr etwa drei Minuten blieben, bis es krachte. Langsam zählte sie rückwärts. Die monotone Stimme in ihrem Kopf lullte sie ein und gab ihr eine trügerische Sicherheit.

»Du Miststück!«

Sie fuhr empor.

Mika hatte sich auf dem Stuhl zu ihr umgedreht und funkelte sie wütend an.

»Ich hatte dir verboten, es schon wieder in der Bibliothek zu versuchen. Ich hatte es dir verdammt noch mal verboten!«

»Aber …« Leah schluckte.

»Ach, hör auf. Ich weiß genau, was du sagen willst. Aber nur, weil du dich für Bücher interessierst, wird sich niemand solche Träume anschauen. Du musst den Usern etwas bieten, wenn wir klarkommen sollen! Wann begreifst du endlich, dass jetzt du dafür sorgen musst, dass Vater seine Medizin bekommt. Ansonsten werden sie ihn abholen und in ein Heim bringen. Willst du das etwa?«

Leah schluckte noch einmal trocken. Sie träumte automatisch von Büchern, dagegen konnte sie nichts tun. Bücher waren gut, Träume dagegen gefährlich. So einfach war das. Und wer begab sich schon freiwillig in Gefahr?

Mika schlug mit der Faust auf den Tisch, erhob sich und stieß polternd den Drehstuhl von sich. Dann riss er die Kabel aus dem Computer, packte den Traumrekorder und stürzte aus dem Zimmer. Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss.