cover-imageWermut.png

Kathrin Hanke / Claudia Kröger

Wermutstropfen

Der erste Fall für Victor Bucerius

Impressum

Ausgewählt von Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Oksana Churakova – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5118-8

Widmung

Für Paul – ich werde dich immer im Herzen behalten.

Kathrin Hanke

Für Tiger – kratzbürstig aber unvergessen.

Claudia Kröger

Zitat

Wenn der Gärtner schläft, sät der Teufel Unkraut.

(Redensart)

1. Kapitel

Im ersten Moment denke ich, ich bin auf fünf Nacktschnecken gleichzeitig getreten. Zumindest fühlt es sich unter meinen nackten Füßen genau danach an. Unwillkürlich bleibe ich stehen und sehe an meinen blau-weiß gestreiften Pyjamahosenbeinen herunter. Augenblicklich wird mir ganz anders: keine Nacktschnecken. Ich stehe mit meinen bloßen Füßen in einer Lache Erbrochenem! Ich bin wie erstarrt, so sehr widert mich das an, und trete erst Sekunden später auf den vom Morgentau noch feuchten Rasen. Wer in Herrgottsnamen hat sich in meinem Garten übergeben? Vielleicht war es Pascal, der neuere unserer beiden Medikamentenausfahrer … Ihm würde ich das irgendwie zutrauen. Aber was hatte der hinter dem Haus im Garten zu suchen? Darüber hinaus müsste er dann in der Nacht hier herumgestromert sein, denn das Erbrochene sieht relativ frisch aus, und jetzt ist es erst sechs Uhr in der Früh. Es gibt also eigentlich keinen Grund für mich, ihn zu verdächtigen, außer dem, dass er mir irgendwie suspekt ist.

Langsam gehe ich weiter, jetzt jedoch nicht mehr ziellos, sondern in Richtung Teich, in dem ich meine Füße abspülen möchte, denn der feuchte Morgentau reicht mir nicht.

Der Garten ist eigentlich gar kein Garten, sondern eher ein kleiner Park. Wie lang es wohl her ist, dass ich hier das letzte Mal gegärtnert habe? Ich komme nicht drauf. In den letzten fünf Jahren, seit ich wieder hier lebe, auf jeden Fall nicht. Wozu auch? Das hier ist Julias Revier, sie macht das immer und vor allem gern. Meine Schwester hat mich auch noch nie gebeten, ihr zu helfen. Sie liebt unseren Park, seit ich denken kann, und hat hier ihre Kräuter- und Pilzstellen, die sie hegt und pflegt und natürlich erntet. Sie hat auch einen akkurat angelegten Kräutergarten direkt beim Haus, aber sie meint, vor allem die wildwachsenden Sträucher und Büsche in den Ausläufern des Parks oder auch in den umliegenden Wäldern und auf Wildwiesen haben eine besondere Qualität, da sie sich ihren Wuchsort selbst ausgesucht haben und nicht künstlich angelegt wurden. Ich nicke dazu dann immer. Mir soll es recht sein, solange Julia weiterhin in der Küche mit ihren gesammelten Kräutern herumhantiert und selbst aus den einfachsten Gerichten die reinsten Gaumenfreuden auf den Esstisch zaubert. Ich muss daran denken, wie es dazu gekommen ist, dass ich mit meiner nur um knapp ein Jahr jüngeren Schwester hier in unserem Elternhaus wieder zusammen lebe so wie in unserer Kindheit. Auf jeden Fall waren die Anlässe nicht schön, aber inzwischen kann ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen. Ich lebe hier, weil ich geschieden bin, und Julia, weil sie verwitwet ist. Beides ist ungefähr zur gleichen Zeit geschehen. Das Haus hatte bis dahin nach dem Tod unserer Eltern schon zwei Jahre leer gestanden – wir hatten keinen Käufer gefunden. Das heißt, es hätte schon den einen oder anderen Interessenten gegeben, aber im Gegensatz zu meiner Schwester hatte ich sowohl diese als auch die Preise, die sie zahlen wollten, nicht für angemessen gehalten, zumal unser Haus kein 08/15 Haus ist, sondern ein kleines, ehemaliges Kloster. So haben wir uns damals zusammengetan, das erschien uns beiden zweckmäßig. Fremde halten uns in der Regel für ein Ehepaar, aber das kümmert uns nicht. Selbst Julia lässt immer mal wieder fallen, dass wir uns wie ein Ehepaar aufführen – ein altes Ehepaar, das schon so einiges miteinander erlebt hat. Eines, das nicht mehr nach Liebe fragt, sondern wie selbstverständlich nebeneinander her lebt.

Ich weiß, warum Julia mir unser vermeintliches Ehepaarleben gern mal unter die Nase reibt: Ihrer Meinung nach verschanze ich mich viel zu oft in meinem Labor, wenn ich nicht gerade in unserer Apotheke hinter dem Tresen stehe. Die Apotheke haben wir auch von unseren Eltern geerbt, besser gesagt von unserem Vater, der sie wiederum von seinem Vater übernommen hat und so weiter. Wir können unsere Familie, in der es von Apothekern nur so wimmelt, bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Unsere Apotheke ist im vorderen Teil des ehemaligen Klosters untergebracht. Im hinteren Teil befinden sich unsere Wohnräume, und der Park war einmal ein Klosterpark, umrahmt von dicken moosbewachsenen Mauern. Und in der Mitte befindet sich eben jener inzwischen recht zugewachsene Teich, in dem ich jetzt meine Füße abwaschen will. Ich bin schon lange nicht mehr hier gewesen, ich nutze – wenn überhaupt – nur den vorderen Teil des Gartens. Umso mehr bin ich überrascht, wie schön und friedlich es hier ist. Eigentlich würde ich gern nach Julia rufen – sie muss doch hier irgendwo sein – aber ich möchte diese besinnliche Idylle nicht zerstören. Der Teich glitzert in der frühen Morgensonne und die Insekten umflirren die Pflanzen, ohne sich durch mich behelligt zu fühlen. Warum auch? Ich setze behutsam einen Fuß nach dem anderen durch den so schön blühenden Wiesenknöterich, der am Rande des Teiches ungezwungen wuchert. Mit seinen rosafarbenen Blüten ist er ein hübscher Anblick und steht im interessanten Kontrast zu den üppigen Teichrosen, die das Wasser bedecken, als ob sie es vor Menschen wie mir, die sich ihre Füße darin waschen wollen, verstecken möchten. Inzwischen habe ich mir meine Füße fast wieder sauber gelaufen, dennoch habe ich das Gefühl, sie unbedingt abwaschen zu müssen, so sehr ekle ich mich noch immer. Ich stehe schon leicht im Wasser und hebe mein linkes Bein an, um mir die Pyjamahosen hochzukrempeln, was durchaus eine Herausforderung für meinen nicht gerade gut geschulten Gleichgewichtssinn ist. Dabei sehe ich, dass zwischen meinen Zehen doch noch kleine Brocken von Erbrochenem kleben, und muss würgen. Glücklicherweise habe ich noch nicht gefrühstückt. Schnell wende ich den Blick ab und kippe dabei fast um. Ich kann mich gerade eben noch fangen. Wenn ich nur wüsste, wer sich da in unserem Garten erleichtert hat … Bestimmt würde es mir auch ein wenig von dem Ekel nehmen, wenn ich es wüsste. Zumindest, wenn es eine Person ist, die ich mag, was Pascal, den neuen Medikamentenausfahrer schon einmal ausschließt … Als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen, flattert eine Libelle dicht an meiner Nase vorbei und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich folge dem in allen möglichen Rottönen schimmernden Insekt fasziniert mit den Augen und beobachte, wie es sich auf einer Sumpflilie etwa zwei Meter von mir entfernt niederlässt. Irgendetwas ist da noch. Ich verenge meine Augen zu Schlitzen, um besser zu erkennen, was hinter der Sumpflilie am Teichufer zwischen dem Wasserhahnenfuß liegt. Auch jetzt, mit schärfer gestelltem Blick, glaubt mein Kopf nicht, was ich da sehe: Was macht Julias Kleid da? Das Kleid, das ich so gern an ihr mag und das sich farblich wunderbar den bunten Teichpflanzen anpasst? Ich bin eher ein Morgenmuffel, und gestern ist es im Labor mal wieder spät geworden, darum dringt jetzt nur langsam in mein Bewusstsein, dass das Kleid ausgefüllt ist und ich meine Schwester gefunden habe. Dann reagiere ich endlich.

»Julia!«, rufe ich. »Julia, was ist mit dir? Julia!«

Von Julia kommt kein Laut, und ich stürze ungeachtet meiner Pyjamahosen und der Pflanzen, die unseren Teich säumen, zu ihr. Meine Schwester liegt auf dem Bauch, mit dem Kopf im Wasser. Sie regt sich nicht. Ich gehe in die Knie und drehe sie auf den Rücken. Ihr Kopf fällt schlaff zur Seite, ihre Augen sind geschlossen.

»Julia, Julia, mach die Augen auf! Ich bin es, Victor!«, rufe ich und rüttle sie, doch noch immer zeigt sie keinerlei Regung. Ich erhebe mich, packe sie im Rettungsgriff unter den Schultern und ziehe sie rückwärts vom Teich weg auf die Wiese. Ich muss mich anstrengen, da Julia nicht gerade ein Fliegengewicht ist und zudem wie ein schlaffer Sack in meinen Armen hängt. Und so wie mein Gleichgewichtssinn nicht trainiert ist, so sind es auch meine Muskeln nicht, obwohl ich mir Letzteres immer wieder vornehme. Jetzt ist wieder so ein Moment, in dem ich mir schwöre, in den nächsten Tagen wenigstens mit Joggen anzufangen, obwohl das auch keine direkten Auswirkungen auf meine Muskeln haben wird, aber es wäre immerhin ein Anfang.

Plötzlich bemerke ich eine Bewegung hinter dem Flieder, und gleich darauf springt mich etwas an, sodass ich Julia beinahe vor Schreck fallen lasse.

»Tiger«, zische ich und bleibe stehen, »hör auf mit deinen Spielchen, die passen jetzt grad gar nicht.«

Tiger, der Kater meiner Schwester und nicht eben mein Freund, steht vor mir und fixiert mich aus seinen grünen Augen. Dann nähert er sich meiner Schwester und streicht ihr um die am Boden liegenden Beine. Ich beachte Tiger nicht weiter und setze meinen Weg fort. Tiger folgt mir in einiger Entfernung.

Ich lege Julia auf der Wiese ab und mustere sie für einen kurzen Augenblick. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Tiger etwa zwei Meter entfernt wie eine Statue sitzt und mich arglistig beäugt. Es kommt mir vor, als ob er sein Frauchen bewachen möchte, allerdings ist mir das im Moment ziemlich egal. Julia, was ist nur mit dir? Was ist passiert? Ich beuge mich über meine Schwester. Entweder sie atmet gar nicht mehr oder aber so flach, dass ich es nicht hören geschweige denn sehen kann. Ich beginne mit den Wiederbelebungsmaßnahmen. Ich zähle: 30 Mal Herzdruckmassage, dann zweimal Beatmen. Ich weiß nicht, wie lange ich das im Wechsel mache. Ich habe kein Zeitgefühl mehr, weil die Panik mich schier übermannt. Was ist mit meiner Schwester? Mein Herz klopft so schnell und heftig, dass ich es in meinem Hals spüre. Viel lieber würde ich es jedoch unter meinen Händen bei meiner Schwester spüren. Dann dringt die Erkenntnis langsam bis hinauf in mein Hirn und ich breche über dem leblosen Körper meiner Schwester zusammen: Julia wird sich nie wieder regen – sie ist tot.

*

Ich stehe vor unserem Haus an der Straße und sehe zum inzwischen wohl 20. Mal auf meine Armbanduhr. Wann kommt denn bloß der verdammte Rettungswagen? Acht Minuten ist es inzwischen her, dass ich den Notruf gewählt habe, denn vielleicht habe ich mich geirrt, und Julia ist doch nicht tot. Ich bin Apotheker und weiß es eigentlich besser, aber bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt.

Ich musste Julia allein im Garten lassen – nur Tiger hält nach wie vor bei ihr Wache. Sie zum Haus zu tragen, hätte ich nicht geschafft, aber dort war das Telefon. Ich sehe erneut auf die Uhr und dann wieder auf die Straße. Ich bin noch immer im Pyjama, aber das stört mich nicht. Zehn Minuten, und noch immer höre ich keine Sirene. Ich möchte zurück zu Julia, aber ich muss hier warten, denn der Notarzt würde uns hinten im Park niemals finden. Endlich höre ich ein Motorengeräusch, und da kommt auch schon ein Rettungswagen die Auffahrt hochgerast. Allerdings ohne Sirene. Ich winke hektisch und laufe los. Nicht zum Rettungswagen, sondern zurück in den Garten. Ich weiß, die Sanitäter sind fitter als ich, sie werden mich schnell einholen, und so ist es auch. Während zwei junge Sanitäter und der Notarzt neben mir herlaufen, versuche ich zu schildern, wie ich Julia vorgefunden habe. Es fällt mir schwer, denn ich bekomme kaum Luft. Endlich sind wir da, doch mein letzter Funke Hoffnung schwindet sofort beim Anblick meiner Schwester. Sie liegt noch genauso regungslos da, wie ich sie vor einer knappen Viertelstunde zurückgelassen habe. Ihr Gesicht ist kalkweiß. Stumpf. Ihren Kater sehe ich nirgendwo, ich gebe mir aber auch keine Mühe, ihn zu entdecken. Er ist mir herzlich egal – im Moment noch mehr als sonst. Ich beobachte den Notarzt und die Sanitäter genau, sie wissen, was sie tun. Mein Vertrauen in die Medizin ist immer groß gewesen. Ursprünglich wollte ich selbst Medizin studieren und Arzt werden, doch während eines Praktikums musste ich feststellen, dass ich kein Blut sehen kann. Ich habe damals einiges versucht, um dieses Problem in den Griff zu bekommen, aber nichts hat geholfen. Da war es dann ein logischer Umkehrschluss, auf Pharmazie umzustellen und so meine Fähigkeiten in den Dienst der Menschheit zu stellen. Mein Vater hat sich damals sehr darüber gefreut, zumal meine Schwester gerade angefangen hatte, Ökotrophologie zu studieren, und er sonst keinen Nachfolger aus der Familie für die Apotheke gehabt hätte.

Der Notarzt wendet sich mir zu und sieht mich ernst an. Ich glaube ein zögerliches Kopfschütteln zu erkennen.

»Es tut mir leid, wir können ihr nicht mehr helfen«, höre ich ihn sagen. Starr bleibe ich stehen und betrachte meine Schwester. Dann muss ich es also doch einsehen. Julia ist tot. Weg. Für immer.

»Herr Bucerius!« Die Stimme des Notarztes dringt verzögert zu mir durch. »Herr Bucerius, verstehen Sie mich? Ich muss die Polizei informieren. Die Todesursache ist nicht eindeutig.«

Verwirrt wende ich mich von Julias Anblick ab und sehe den jungen Arzt an, der mich am Arm hält. Er hat recht. Auch ich habe keine Vorstellung, was mit ihr passiert sein könnte. Julia war rundlich, aber nicht schwer übergewichtig, ein entspannter Mensch, also auch kein typischer Herzinfarkt-Kandidat. Und ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals an mehr als einer kleinen Erkältung erkrankt war. Sie war immer kerngesund. Was also war passiert? Ich nicke dem Mann stumm zu, der bereits sein Handy am Ohr hat, meinen Arm aber nach wie vor nicht loslässt. Ich mag es nicht, von fremden Menschen angefasst zu werden, und will seinen Griff abschütteln, doch sofort merke ich, wie mir schwindlig wird. Klar, ich habe noch immer nichts gegessen. Mein Körper ist an ziemlich genaue Regeln gewöhnt, was bestimmte Dinge angeht. Dazu gehört das Frühstück. Eine Tasse schwarzer Kaffee, eine Scheibe Toast mit Marmelade und ein Joghurt mit Früchten. Jeden Morgen, eine halbe Stunde nach dem Aufstehen, ganz gleich, wann das ist. Kein Wunder, dass er sich jetzt vernachlässigt fühlt. Vor allem aber stehe ich unter Schock. Das sagt mir mein rationales Denken, das sich ganz kurz hinter einem Nebel aus Gefühlen wie Verzweiflung, Panik, Wut, Einsamkeit und vor allem absoluter Hilflosigkeit hervorgearbeitet hat. Ich merke, wie ich unkontrolliert beginne zu zittern, und dann ist nur noch Rauschen in meinem Kopf. Ich lasse zu, dass einer der Sanitäter mich zum Haus zurückführt, der Notarzt an unserer Seite. Der zweite Sanitäter ist bei Julia zurückgeblieben.

*

Eine Beruhigungsspritze habe ich abgelehnt. Ich habe mich auf meine Art ein klein wenig gefangen: Inzwischen habe ich meinen Pyjama gegen eine Hose und ein Hemd – beides hing vom Vortag noch über meinem Stuhl im Schlafzimmer – getauscht. Darüber hinaus haben eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Toast zumindest meinen gewohnten Körperrythmus einigermaßen wieder hergestellt. Trotzdem fühle ich mich wie in einem schlechten Film. Ich kann, nein, ich will das hier alles nicht glauben.

Zusammen mit dem Arzt und dem einen Sanitäter sitze ich in meiner Küche, als eine Frau eintritt. Sie nickt erst den anderen beiden, dann mir zu. Die anderen nicken zurück, ich nicht. Ich mustere die Frau erst einmal. Sie ist vielleicht zehn Jahre jünger als ich, um die 40 vermute ich. Eine dieser typisch modernen Frauen, in Jeans steckend, mit einem schlichten T-Shirt bekleidet und Turnschuhen an den Füßen. Da ist Julia anders … war anders. Sie hat sich noch wie eine Frau gekleidet, fast immer Kleider oder Röcke getragen. Ich verdränge die Gedanken an meine tote Schwester und sehe der fremden Frau, die ruhig abgewartet hat, in die Augen.

»Was wollen Sie hier?«, sage ich ohne aufzustehen und nicht gerade höflich. Vermutlich ist es eine Pharma-Vertreterin, die einfach das Wohnhaus durch die offen stehende Haustür betreten hat. Diese Vertreter werden wirklich immer dreister …

»Mein Name ist Stine Jessen«, sagt die Frau und wedelt mit einem Ausweis herum, den sie mir jetzt auch noch direkt die Nase hält. »Ich bin von der Kriminalpolizei und müsste Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Irritiert starre ich sie an. »Sie sind von der Kriminalpolizei?«, rutscht es mir heraus, bevor ich es verhindern kann.

»Allerdings«, sagt sie, und ich sehe ihr an, dass mein Kommentar ihr nicht gefallen hat. Sei es drum. Ist mir egal.

»Ich war bereits hinten im Park und habe mit Ihrem Kollegen gesprochen«, sagt sie zum Arzt und dem Sanitäter, deren Namen ich vergessen habe, wie mir gerade auffällt.

»Sie haben die Tote gefunden?«, fährt Frau Jessen jetzt an mich gewandt fort, und es hört sich eher wie eine Feststellung als eine Frage an. Dabei setzt sie sich zu mir an den Küchentisch, ohne dass ich sie dazu aufgefordert hätte.

»Ja, ich habe meine Schwester im Park gefunden«, antworte ich und höre selbst meine brüchige Stimme. Ich muss das hier möglichst schnell hinter mich bringen. Sachlich und emotionslos, sonst breche ich noch vor den Augen dieser ganzen Fremden in meinem Haus zusammen.

»Ach, die Tote ist Ihre Schwester? Mein Beileid, Herr Bucerius.« Ohne eine Pause zu machen oder meine Antwort abzuwarten, fährt sie direkt fort: »War sie zu Besuch hier?« Interessiert beugt sie sich vor. Respekt oder Mitgefühl scheinen dieser Frau offensichtlich fremd zu sein.

Bevor ich ihr antworte, räuspere ich mich. Dann sage ich mit leidlich fester Stimme: »Nein, ähm, also ja. Ja, Julia ist meine Schwester. Und nein, sie lebt … hat hier gelebt. Mit mir. Also mit mir zusammen.«

Frau Jessen zieht eine Augenbraue hoch, sodass ich auf ihre großen blauen Augen aufmerksam werde, die mich jetzt so mustern wie ich sie eben – nicht unbedingt freundlich. Unsere Blicke begegnen sich, und ich halte ihrem stand. Was will diese Kommissarin von mir? Ich habe eben meine Schwester verloren, ist ihr das eigentlich bewusst? Ich schiebe meine Hände unter den Tisch und balle sie zu Fäusten. Reiß dich zusammen, Victor, sage ich stumm zu mir selbst. Gleich bist du allein, dann kannst du dich gehen lassen.

Entweder nimmt diese Frau meine von Trauer getriebene Wut ihr gegenüber nicht wahr oder sie ignoriert sie gekonnt. Vermutlich ignoriert sie sie, schließlich ist sie Polizistin. Sie ist mir suspekt, ohne dass ich weiß, warum. Mir wäre es lieber, die Polizei hätte einen Mann hierher geschickt. Ich kann besser mit Männern umgehen. Die stellen in der Regel nicht so viele Fragen, oder wenn, dann solche, die eindeutig sind. Frauen denken und reden meist um Ecken, die ich nicht nachvollziehen kann. Das verunsichert mich. Diese Frau Jessen verunsichert mich. Dabei habe ich keinen Grund zur Verunsicherung. Ich bin nur unendlich traurig und schockiert. Wie soll ich ohne Julia hier weiterleben? Sie hat in meinem Leben immer eine Rolle gespielt, auch als wir noch nicht zusammengelebt haben, sondern beide in verschiedenen Städten mit unseren Ehepartnern. Julia war einfach immer da, wenn ich sie gebraucht habe. Und auch sonst. Mitten in meine Gedanken platzt die Kommissarin hinein: »Es ist ungewöhnlich, dass Geschwister zusammenleben. Jedenfalls in Ihrem Alter. Andererseits, dieses Haus ist ja recht groß. Leben sie hier zu viert, also Sie beide mit Ihren Partnern? Ich habe an der Hand der Tot… Ihrer Schwester einen Ehering gesehen.«

Ich räuspere mich ein weiteres Mal. Muss ich mich etwa rechtfertigen, weil ich mit meiner Schwester in einem Haus lebe? Offensichtlich fehlt dieser Frau wirklich jeglicher Respekt und Anstand. Ich setze mich gerade hin, bevor ich mit diesmal tatsächlich einigermaßen fester Stimme sage: »Eigentlich ist dieses Haus, unser Elternhaus, nicht groß, sondern eher klein. Es ist nämlich kein normales Haus, sondern ein ehemaliges Kloster, und es sind nicht alle Räume ausgebaut und bewohnbar.« Ich spüre, wie genau sie mich beobachtet, während ich spreche, darum sehe auch ich ihr wieder direkt in die Augen, bevor ich mit meiner Erklärung, die ich immer noch völlig überflüssig finde, fortfahre. Ich mache das lediglich, um sie möglichst schnell loszuwerden: »Meine Schwester ist seit sechs Jahren Witwe. Ich bin seit sieben Jahren geschieden. Dieses Haus stand leer, seit unsere Eltern verstorben sind. Also haben wir uns zusammengetan. Was genau ist daran nun so ungewöhnlich?« Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, zumindest in die abschließende Frage eine gewisse Arroganz oder besser Überlegenheit zu bringen. Frau Jessen lächelt. Ich kann dieses Lächeln aber nicht einordnen.

»Sie müssen sich nicht angegriffen fühlen, Herr Bucerius«, sagt sie, und ich glaube, sie meint es tatsächlich so, wie sie es sagt. »Ich versuche einfach, mir einen ersten Eindruck zu verschaffen. Wenn Ihre Schwester – und das wird im Zweifel erst die Obduktion zeigen – keines natürlichen Todes gestorben ist, dann bin ich gezwungen zu ermitteln.«

»Gegen mich?«, frage ich verwundert. »Julia ist … war meine Schwester!« Ich fasse es nicht. Wann gehen diese Leute endlich?

»Hören Sie«, beginne ich, »ich habe gerade meine Schwester verloren. Es geht mir nicht besonders gut, und ich wäre jetzt wirklich gern allein.«

»Das kann ich verstehen«, sagt Stine Jessen. Stine – was ist das überhaupt für ein merkwürdiger Name? »Ich muss Sie aber noch um etwas Geduld bitten. Der Gerichtsmediziner ist bereits auf dem Weg hierher. Er wird die … Ihre Schwester selbst in Augenschein nehmen. Sollte er doch feststellen, dass ein gewaltsamer Tod auszuschließen ist, dann sind Sie uns schnell wieder los, Herr Bucerius.«

Ich atme auf, werde von der Kommissarin jedoch gleich eines Besseren belehrt. »Falls er allerdings Anzeichen erkennen sollte, die auf ein Tötungsdelikt hinweisen, dann wird sich außer mir auch die Spurensicherung hier umsehen müssen.«

Ich lache. Wer sollte Julia ermorden? So ein Quatsch! Gerade als ich das dieser offensichtlich wenig empathischen Frau erklären will, betritt ein weiterer Fremder meine Küche. Ein Mann.

»Hallo, Stine«, grüßt er die Kommissarin und scheint sich sehr zu freuen, sie zu sehen. Zumindest entnehme ich das seinem etwas übertriebenen Lächeln in ihre Richtung. »Wo muss ich hin?«

»Hallo, Gerhard. Nach hinten in den Garten«, antwortet sie. Dann wendet sie sich an den Sanitäter und den Notarzt. »Vielleicht können Sie Dr. Wichmann den Weg zeigen und Ihren Kollegen auch gleich abholen. Wir brauchen Sie dann hier nicht mehr.«

Die beiden Männer nicken wortlos, stehen auf und verlassen gemeinsam mit diesem Gerhard oder Dr. Wichmann, den man mir ja auch mal hätte vorstellen können, den Raum. Mir werfen sie dabei nur einen, wie ich finde, mitleidigen Blick zu. Dann bin ich mit der Frau allein, deren Gesellschaft ich alles andere als angenehm empfinde.

»Herr Bucerius«, beginnt sie und rückt dabei auf einen der Plätze, auf denen zuvor die Männer gesessen haben, wodurch sie mir noch näher kommt. Intuitiv rutsche ich ein Stück zur Seite, weg von ihr. Ich mag es generell nicht, wenn mir Fremde zu nahe kommen, und gerade jetzt finde ich es besonders unerträglich. Unangemessen außerdem.

»Vielleicht erzählen Sie mir ein bisschen was über Ihre Schwester«, sagt die Kommissarin, und ich weiß, das ist keine Frage, sondern eine Aufforderung. »Wie war sie, wie hat sie gelebt, was hat sie beruflich gemacht?«

Okay, das ist nicht so schwierig. »Ihr Mann ist an einem Herzinfarkt verstorben. Er hat ihr ein stattliches Vermögen hinterlassen, sie musste nicht mehr arbeiten. Sie war eine äußerst liebenswerte Person. Ein Gutmensch, wenn Sie wissen, was ich meine.« Froh, die Fragen alle beantworten zu können und vor allem über Julia zu sprechen, sehe ich die Kommissarin an.

»Was ist mit Freunden? Bekannten? Gab es einen neuen Mann im Leben Ihrer Schwester? Oder irgendjemanden, mit dem sie Schwierigkeiten hatte?«

Mein Gott, was will diese Frau? Ich denke nach. »Schwierigkeiten mit irgendjemandem hatte sie bestimmt nicht. Nicht Julia. Jeder mochte sie. Und ansonsten, nein! Da gab es niemanden. Sie brauchte niemanden. Wir brauchten niemanden.«

Jetzt sieht Stine Jessen mich verwundert an. »Aber Ihre Schwester, beziehungsweise Sie beide, Sie werden doch Bekannte haben. Was hat Ihre Schwester denn den ganzen Tag gemacht?«

Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her. Ich kann die Frage nicht wirklich beantworten. Eigentlich habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wie Julia ihre Tage gestaltet hat.

»Sie hatte einen großen Bekanntenkreis, aber ich habe das nicht so mit Namen, tut mir leid … Na, und ansonsten hat sie sich hier um den Park gekümmert, um das Haus. Sie hat für uns beide gekocht. Mittags und abends haben wir zusammen gegessen.« Ehrlich gesagt, ist das nicht ganz korrekt. Julia hat jeden Tag gekocht, das stimmt so weit. Allerdings bin ich in den letzten Monaten oft von der Arbeit, ganz gleich ob mittags oder abends, direkt hoch in mein Labor unter dem Dach gegangen. Darum weiß ich auch nicht, mit wem meine Schwester genau zu tun hatte. Gut, zwischendurch habe ich meist kurz einen Blick in unsere gemeinsame Küche geworfen, in der ich jetzt mit der Kommissarin sitze, und mir mein Essen mitgenommen, das Julia mir dort bereitgestellt hat. Aber gesehen haben wir uns dabei nicht immer, geschweige denn viel Privates ausgetauscht. Eigentlich haben wir in den letzten Monaten sogar ziemlich wenig Zeit miteinander verbracht. Aber das würde diese Kommissarin vermutlich nicht verstehen. Sie weiß nicht, wie wichtig mir meine Forschungen sind, und dass ich glaube, kurz vor einer entscheidenden Entdeckung für ein neues Medikament zu stehen. Und ich habe nicht den geringsten Bedarf, ihr das zu erklären.

Das Gespräch – eigentlich komme ich mir allmählich eher vor wie bei einem Verhör – zieht sich in die Länge. Stine Jessen stellt mir immer wieder Fragen zu Julia, von denen ich nur wenige gut beantworten kann. Ich will das auch gar nicht. Es geht sie nichts an, wie wir hier gelebt haben. Ob es Kontakte zu Nachbarn gab und so. Warum ist das wichtig? Ich zumindest habe keine. Ich habe meine Arbeit, die füllt mich zur Genüge aus.

Plötzlich steht dieser Gerhard wieder im Raum.

»Stine? Auf ein Wort!«, sagt er knapp.

»Bitte warten Sie hier, ich bin gleich wieder da«, weist die Kommissarin mich in meinem eigenen Haus an, steht auf und verlässt mit ihrem Kollegen das Zimmer. Wie versteinert bleibe ich hocken. Wann ist diese Tortur endlich vorbei? Ich muss etliche Dinge regeln, ich habe Durst, ich muss … Voller Panik fällt mein Blick auf die Wanduhr. Es ist bereits zehn Uhr durch – ich muss in die Apotheke! Längst hätte ich das Geschäft öffnen müssen! Erschrocken springe ich auf und laufe vor der Tür direkt in die Arme von Stine Jessen, die mich fragend ansieht.

»Ich muss rüber in die Apotheke«, fahre ich sie an. »Weil Sie mich so lange aufgehalten haben, habe ich vergessen, die Apotheke zu öffnen!«

Die Frau legt mir ihre Hand auf die Schulter, und ich zucke unwillkürlich zurück. »Ganz ruhig, Herr Bucerius. Ich fürchte, das müssen Sie Ihren Angestellten heute überlassen.«

Verwirrt blicke ich sie an. »Ich habe keine Angestellten. Ich muss in die Apotheke!«

»Dann wird Ihr Geschäft wohl heute geschlossen bleiben müssen«, erwidert Stine Jessen emotionslos. »Unser Gerichtsmediziner Dr. Wichmann hat den begründeten Verdacht, dass Ihre Schwester an einer Vergiftung gestorben ist. Wir sind hier also noch nicht fertig.«

»Vergiftet?« Freiwillig gehe ich zurück und setze mich wieder an den Tisch. Die Kommissarin folgt mir. »Aber wieso vergiftet?«, frage ich fassungslos. »Womit?«

»Das wissen wir noch nicht«, erklärt sie. »Wir werden Ihre Schwester jetzt in die Gerichtsmedizin bringen lassen. Ach ja, und die Spurensicherung wird auch gleich hier eintreffen.«

*

Endlich bin ich in meinem Labor. Hier fühle ich mich von allen Orten auf der Welt am wohlsten, zumal es der perfekte Rückzugsort ist, denn hier stört mich niemand. Bei dem Gedanken bildet sich ein Kloß in meiner Kehle, und ich fühle Tränen in mir aufsteigen. Wer soll mich jetzt auch hier stören? Julia ist tot. Scheinbar vergiftet, hat die Kommissarin gesagt. Wer macht so etwas? Und warum? Oder hat Julia sich selbst vergiftet?

Es ist Abend, und mein Haus ist wieder leer. Vor einer halben Stunde ist die Kommissarin samt der Spurensicherung abgezogen, nachdem sie den ganzen Tag lang nichts Besseres zu tun hatten, als mein Haus und den Garten auf den Kopf zu stellen. In die Apotheke durfte ich zwar doch irgendwann noch, aber ich habe sie dann nach zehn Minuten wieder geschlossen. Ich habe es einfach nicht ausgehalten, so zu tun, als sei nichts geschehen. Stattdessen habe ich mich in die Küche gesetzt und gewartet, bis alle wieder weg waren. Julias private Räume, ihr Büro und ihr Schlafzimmer, sind versiegelt, und ich darf sie nicht betreten. Niemand darf sie betreten, außer Stine Jessen erlaubt es. Den gesamten Garten hat sie auch absperren lassen. Dort wollen sie morgen noch weiter machen. Zum Glück habe ich dieser übereifrigen Kommissarin nicht erzählt, dass Julias wahres Reich die Küche war. Dann hätte sie die auch noch versiegeln lassen, und ich müsste mir womöglich noch eine Pizza liefern lassen, um etwas in den Magen zu bekommen.

Bevor ich eben hoch ins Labor gegangen bin, habe ich mir eine Scheibe Brot mit Butter und Schinken gemacht und einen Tee aufgegossen. Beides steht jetzt vor mir auf meinem Schreibtisch. Ich spüre in mich hinein, merke jedoch, dass ich keinen Hunger habe. Von Appetit ganz zu schweigen. Dennoch beiße ich von dem Brot ab, weil ich weiß, dass es vernünftiger ist, wenn ich etwas zu mir nehme. Beim Schlucken fühle ich wieder den dicken Kloß in meinem Hals. Ich nehme den Becher Tee, der inzwischen abgekühlt sein dürfte, und trinke etwas davon, um das Brot mitsamt dem Kloß hinunterzuspülen, doch das Gegenteil ist der Fall. Der Kloß nimmt den Tee auf wie ein Schwamm und wird dabei nur noch größer. Gleichzeitig halten meine Tränenkanäle dem Druck nicht mehr stand, was natürlich auch am Tee liegt. Ich hätte es mir denken können, schließlich schmeckt der Tee nach Julia! Sie hat diesen Tee, den sie mir zu Weihnachten geschenkt hat, speziell für mich aus diversen Kräutern zusammengestellt. Welche genau, das weiß ich nicht. Ich habe da nie nachgefragt. Wozu auch? Er schmeckt nicht nur einfach köstlich, er lindert auch meine Magenschmerzen, die mich aus unerfindlichen Gründen in regelmäßigen Abständen quälen. Wer mixt mir jetzt meine Teemischung? Ich verkaufe Julias Kräuterteekreationen auch in der Apotheke, und sie sind ein Kassenschlager. Inzwischen versenden wir sie sogar, weil es sich über die Region hinaus herumgesprochen hat, welch köstliche Wohltat Julias Heilteemischungen sind. Julia hat die verschiedensten Sorten mit den unterschiedlichsten Wirkstoffen zusammengestellt und ihnen dann noch jeweils eine ganz besondere Geschmacksrichtung gegeben, die ihresgleichen sucht. Ich weiß das, denn ich habe natürlich alle durchprobiert. Ich schlucke ein weiteres Mal, und dann kann ich endgültig nicht mehr an mich halten. Aus dem sanften Tränenfluss wird jetzt ein Sturzbach. Ich schluchze mir die Seele aus dem Leib, was in meinen Augen ziemlich unmännlich ist, aber es sieht ja keiner. Und selbst wenn wäre mir das in diesem Moment auch ziemlich egal. Meine Schwester ist heute gestorben. Der einzige Mensch, der mir wirklich etwas bedeutet. Nicht mehr da. Nie wieder. Vergiftet und allem Anschein nach ermordet. Denn dass sie sich das selbst angetan hat, glaube ich keine Minute. Julia war ein lebensfroher Mensch und hatte keinerlei Grund, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Außerdem hätte sie mir dann auf jeden Fall einen Brief, eine Erklärung hinterlassen. Sie kann sich natürlich auch aus Versehen selbst vergiftet haben, aber womit? Mit giftigen Pflanzen kannte Julia sich aus und hätte nie wissentlich welche angerührt. Es muss also wirklich Mord gewesen sein! Ich kann diesen Gedanken oder vielmehr diese Tatsache noch immer nicht glauben. Vielleicht ist das ja alles ein böser Traum, und Julia steht unten in der Küche und probiert gerade ein neues Rezept aus! Wider besseren Wissens erhebe ich mich von dem Laborhocker, auf dem ich die ganze Zeit gesessen habe, und gehe hinunter in die Küche. Hier erwartet mich nichts weiter als eine schwere Stille, und ich habe das Gefühl, kaum mehr atmen zu können, so viel hat sie von diesem Raum eingenommen. Mit einem Mal wird mir mein Alleinsein schmerzlich bewusst. Es ist ein anderes Alleinsein als das, das ich gespürt habe, wenn Julia zu ihrem jährlichen Urlaub nach Frankreich ins Perigor an die Dordogne fuhr und ich drei lange Wochen auf mich allein gestellt war. Es ist ein Alleinsein, das mich ab jetzt stets und überall hin begleiten wird. Mir wird ab jetzt für immer etwas fehlen. Ich weiß, dass ich mich an den Zustand irgendwann gewöhnen werde, aber das wird dauern. Und heute Abend ist er noch so frisch, dass ich keine Ahnung habe, wie ich mit diesem Gefühl klar kommen soll. Vielleicht hätte ich mir doch von dem Notarzt eine Beruhigungsspritze geben lassen sollen. Ich überlege, ob ich in die Apotheke gehe, um mir wenigstens eine Beruhigungstablette zu holen, entscheide mich aber dagegen. Es verstößt schlicht und ergreifend gegen mein Berufsethos, mich an meinem Medikamentenschrank zu bedienen. Außer bei akuten Schmerzen. Die Schmerzen, die ich im Moment habe, werden jedoch durch kein Medikament der Welt verschwinden. Vorübergehend betäubt vielleicht, aber … Mit einem Mal weiß ich, was mir jetzt wenigstens Linderung verschaffen kann. Ich wische mir die Tränen mit dem Handrücken vom Gesicht und ziehe einmal kräftig die Nase hoch – ich nehme mir einfach diese Freiheit anstatt eines Taschentuchs, weil mir im Moment ohnehin fast alles egal ist. Darum gehe ich auch mit zwei kräftigen Schritten zu dem alten Regal, das hinten in der Ecke der Küche steht, und begutachte seinen Inhalt. Meine Schwester hat nicht nur Teemischungen kreiert, sondern auch Schnäpse und Liköre. Die waren natürlich nicht für die Apotheke, sondern für den Hausgebrauch bestimmt. Heute soll mir so ein Gebräu beim Einschlafen helfen, denn ich ahne, dass dies von allein nicht klappen wird. Während die Tränen zurückkehren, greife ich nach einer Flasche Absinth und gehe wieder zurück in mein Labor.

Julias römisches Katertrinkfrühstück

Zutaten:

10 Knoblauchzehen

250 ml Rotwein

So wird’s gemacht:

Knoblauch schälen und grob würfeln. Den Rotwein zusammen mit den Knoblauchstücken zum Kochen bringen. Dann vom Herd nehmen und 20 Minuten mit geschlossenem Deckel ziehen lassen. Anschließend alles durchseihen und von der Flüssigkeit die Hälfte trinken. Eine Stunde später die zweite Hälfte trinken.

2. Kapitel

Ich sehe den Park hinter unserem Haus und Julia, die sich dort mit Hingabe um ihren Kräutergarten kümmert, den einst die Klostermönche angelegt haben. Über ihr schwebt eine tiefgraue Wolke, aus der grelle Blitze zucken, während das Donnergrollen in meinem Kopf dröhnt und mich schaudern lässt. Julia scheint davon nichts mitzubekommen. Ich renne los, aber wie lang meine Schritte auch sind, ich komme einfach nicht voran. Dafür erscheint mir Julias Gesicht immer größer vor Augen. Plötzlich ruft jemand meinen Namen. Julia ist es nicht, sie würde mich bei meinem Vornamen nennen, darüber hinaus hat sie mich noch gar nicht bemerkt, aber abgesehen von uns beiden ist hier niemand. Immer wieder höre ich eine Stimme »Herr Bucerius« sagen, immer lauter, immer schroffer. Und plötzlich werde ich am Arm gepackt, jedoch sofort wieder losgelassen, wahrscheinlich, weil ich vor Schreck aufschreie. Gleichzeitig reiße ich die Augen auf. Mein Herz rast. Ich muss mich orientieren, aber es ist zu hell für meine Augen. Das Licht scheint sich direkt durch meine Augäpfel zu bohren, um dann hinter meiner Stirn gemeine Schmerzen zu verursachen. Ich blinzle ein paar Mal, jetzt geht es langsam. Ohne mich sonst zu bewegen, rolle ich mit meinen Augen und schaue mich auf diese Weise um. Ich bin in meinem Labor – auf dem Fußboden! Jetzt ist da wieder diese Stimme, die laut meinen Namen ruft und mir damit beinahe den Kopf zersprengt. Muss denn das sein? Ich stöhne kurz auf, und während ich meine Augen wieder schließe, wabert mir der Gedanke durchs Hirn, dass die kurze Berührung ebenfalls echt war und nicht zu meinem merkwürdigen Traum gehörte. Ich öffne meine Augen erneut. Was hat das alles zu bedeuten? Wieder höre ich »Herr Bucerius«. Ich versuche mich aufzurichten und drehe meinen dröhnenden Schädel in Richtung Stimme. Tatsächlich erscheint ein Gesicht vor mir – nicht Julias, wie eben noch – und holt mich gnadenlos in die Realität zurück. Vor mir auf dem Boden kniet diese Kommissarin. Wie hieß sie noch gleich? Jessen, genau – Stine Jessen. (Wie ist sie ins Haus gekommen und ihre Mitarbeiter? Stand alles offen?) Ihren Blick deute ich als eine Mischung aus Verärgerung und Sorge, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Lage bin, so etwas momentan beurteilen zu können. Ich richte mich weiter auf und stoße an einen Gegenstand, woraufhin ein klirrendes Geräusch ertönt. Die Flasche Absinth, die ich gestern Abend aus der Küche mit in mein Labor genommen habe, rollt leer über den Fußboden. Mit einem Schlag ist alles wieder da. Julia ist tot. Die Polizei war im Haus. Ist offensichtlich wieder im Haus. Und ich habe mich besinnungslos betrunken.

*

Seit ich auf dem Boden in meinem Labor aufgewacht bin – aufgeweckt wurde – ist ungefähr eine halbe Stunde vergangen. Auf Drängen dieser Frau, Stine Jessen, habe ich mir im Bad eine Menge kaltes Wasser ins Gesicht gekippt, während sie mir einen besonders starken Kaffee gekocht hat. Nun sitze ich mit einer Tasse der schwarzen Brühe, nassen Haaren und schier unerträglichen Kopfschmerzen am Küchentisch.

»Fühlen Sie sich jetzt in der Lage, mit mir zu sprechen?«, fragt die Kommissarin, die mir gegenüber Platz genommen hat. Von Freundlichkeit oder Besorgnis keine Spur.

»Eigentlich nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß, doch mir schwant, dass sie das nicht wirklich ernst nehmen wird.

»Zumindest scheinen Sie aber wieder einigermaßen klar zu sein«, stellt sie fest. Sie hält die leere Flasche in der Hand, in der noch winzige Reste der grünen Flüssigkeit zu erkennen sind, und fuchtelt damit vor meinem Brummschädel herum. Der Geruch des Absinths fährt mir in die Nase und verursacht mir sofort Übelkeit, sodass ich das Gesicht abwende. Von »einigermaßen klar« kann also nicht die Rede sein, aber das muss ich bestimmt nicht jetzt mit der Kommissarin ausdiskutieren.

»Sie haben sich offensichtlich gestern Abend mit dieser Flasche Absinth vergnügt«, konstatiert die Kommissarin überflüssigerweise.

»Wie sind Sie eigentlich ins Haus gekommen?«, frage ich.

»Nachdem Sie auf unser Klingeln nicht reagiert haben, bin ich ums Haus herumgegangen. Die Terrassentür zum Garten stand offen. Sie können froh sein, dass nur wir das entdeckt haben. Passiert Ihnen sowas öfter?«

Ich würde sie gern bitten zu gehen, und bei jedem anderen hätte ich das auch gemacht. Stine Jessen ist jedoch die Polizei und hat mir hoffentlich etwas zu dem Tod meiner Schwester mitzuteilen, zum Beispiel den Grund, warum sie sterben musste, oder gar den Namen des Mörders. Außerdem weiß ich, dass sie sowieso nicht gehen würde. Diese Frau ist zäh und verfolgt ihr Ziel schonungslos, das habe ich gestern bereits erlebt. Außerdem schäme ich mich, dass sie mich in einem dermaßen desolaten Zustand gefunden hat. Trotzdem ärgere ich mich über ihre letzte Frage und entgegne ihr in einem geduldigen, langsamen Ton, den man einem Kind gegenüber anschlägt, das etwas partout nicht verstehen will: »Nein, ganz im Gegenteil. Ich gehe jeden Abend durchs Haus und überprüfe alle Fenster und Türen. Schon allein wegen der Apotheke und trinken tue ich so gut wie nie. Wie Sie aber vielleicht mitbekommen haben, ist meine Schwester gestern gestorben. Ich habe keinen anderen Weg gesehen, damit klar zu kommen und in den Schlaf zu finden.«