Mami 1819 – Mein Traummann hat drei Kinder

Mami –1819–

Mein Traummann hat drei Kinder

Roman von Sina Holl

  »Kathrin, hilfst du mir bitte?« erklang eine Stimme hoch oben von der Leiter. Kathrin Berger drehte sich erschrocken um.

  »Um Himmels willen, Marion! Du darfst doch nicht mehr da hinauf! Dafür bin ich jetzt da.« Kathrin ließ den leeren Schuhkarton fallen, dessen Inhalt sie gerade in ein Regal der Kinderschuhabteilung des Schuhhauses ›Kremer‹ einsortiert hatte.

  Die Leiter am Hochregal des Lagers stand zwar fest, aber auf Kathrins Gesicht zeichnete sich ernsthafte Sorge ab. Vorsichtig stieg eine junge Frau die Sprossen herunter. An ihrem weiten Kleid war zu erkennen, daß sie schwanger war. Sie lächelte ein wenig verlegen und strich sich dann über ihren mittlerweile beträchtlichen Bauchumfang.

  »Ich vergesse es immer wieder, weil ich mich doch so wohl fühle«, erwiderte Marion. »Aber du hast recht, ich sollte es nicht übertreiben. Wir brauchen noch die Sportschuhe von dort oben.« Sie wies mit der Hand auf die oberste Regalreihe.

  »Kein Problem!« Behende erklomm Kathrin die Leiter und zog einen Karton nach dem anderen aus dem Fach. Sie stapelte sie übereinander und drückte das Kinn auf den obersten Karton. So tastete sie sich die Sprossen wieder herunter.

  Marion schüttelte mißbilligend den Kopf. »Das sieht aber auch gefährlich aus. Nimm lieber nicht so viele Kartons auf einmal. Dir darf nichts passieren, damit ich pünktlich in den Wochenurlaub gehen kann.«

  »Keine Sorge, ich bin ein sehr sportlicher Mensch«, winkte Kathrin lachend ab und stellte den Stapel Kartons auf den Boden.

  Die Ladenglocke schellte. Eine Frau mit einem Mädchen an der Hand betrat das Geschäft und blickte sich suchend um.

  »Geh nur und bediene die Kundin, ich sortiere in der Zwischenzeit die Sportschuhe ein«, sagte Kathrin.

  Bereitwillig nahm Marion das Angebot an. Sie arbeitete gern in der Kinderschuhabteilung, aber bald schon würde sie die ersten winzigen Schuhe für ihr eigenes Kind aussuchen können. In dem Gedanken daran lächelte sie still. Dann fragte sie die Frau nach ihren Wünschen.

  Ein wenig neidisch betrachtete Kathrin Marions stilles Glück. Einerseits wünschte sie sich ebenfalls die Harmonie einer Familie und glückliches Kinderlachen, andererseits gab es so viele schöne Dinge im Leben, von denen sie träumte: weite Reisen, modische Kleidung, teurer Schmuck – und elegante Schuhe, Schuhe, wie sie sie bisher in der Damenabteilung ›Elegant‹ des Schuhhauses verkauft hatte. Wenn nicht Marion und ihr Baby gewesen wären, würde sie auch jetzt noch diese wunderschönen Schuhe an elegante Damen mit viel Geld verkaufen…

  Der melodische Klang des Türgongs riß sie aus ihren Träumen. Gleichzeitig hörte sie zwei aufgeregte Kinderstimmen, die sich gegenseitig zu übertönen versuchten. Stirnrunzelnd wandte sich Kathrin um. Der hochgewachsene Mann mit dem dunkelblonden Haar hob abwehrend die Hände, als müsse er sich gegen einen Schwarm wilder Bienen schützen.

  »Bitte, Paps, du hast uns versprochen, daß wir diesmal selbst wählen können.«

  »Jawohl, ich bin Zeuge«, krähte der kleinere der beiden etwa sechs und acht Jahre alten Buben. »Ich habe mir schon im Schaufenster welche ausgesucht.«

  »Der Jens aus meiner Klasse hat auch solche Leucht-Turnschuhe, die sind echt cool. Warum dürfen wir nicht soetwas haben? Bitte, Paps, im Winter haben wir auch die ollen dunklen Stiefel genommen, die du uns gekauft hast. Jetzt will ich wählen.«

  »Ich will aber auch wählen!« schrie der kleinere Junge dazwischen.

  »Du bist still, Martin, ich bin der ältere!« herrschte der größere den kleinen an.

  »Jetzt ist Schluß!« sprach der Vater ein Machtwort und lächelte gleichzeitig verlegen zu Kathrin. Diese hatte erstaunt und schweigend dem lauten Streit zugehört. Nun trat sie einen Schritt vor. Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie den Mann.

  »Ich hoffe es, ich hoffe es!« stöhnte er. »Ich suche…«

  »Wir wollen Leucht-Turnschuhe!« fiel der ältere Junge seinem Vater ins Wort.

  »Kai, jetzt ist es genug!« Entnervt winkte der Mann mit dem Arm, als müsse er einen dicken Vorhang beiseite schieben. Kathrin zwinkerte ihm schmunzelnd zu und legte begütigend ihre Arme um die Schultern der Jungs.

  »Nicht, wer am lautesten schreit, ist der Sieger«, sagte sie. »Wir sind nämlich nicht auf dem Fischmarkt, sondern in einem Schuhgeschäft. Zum Schuhkauf braucht man Zeit und Ruhe…«

  »… die ich beides nicht habe«, warf der geplagte Vater ein.

  »Wie wäre es, wenn sich euer Papa eine schöne Tasse heißen Kaffee genehmigt, den es im Wartebereich gibt, und wir suchen uns ganz in Ruhe ein Paar Schuhe aus, die ihr dem Papa dann vorführen könnt?«

  Verblüfft schwiegen die drei und nickten. Während der Vater der beiden etwas zögernd hinüber zu den einladenden Polstersesseln ging, wo auch ein Kaffeeautomat stand, führte Kathrin Kai und Martin zwischen die Regalreihen.

  »Soso, Leucht-Turnschuhe müssen es unbedingt sein«, sagte sie. »Ihr meint sicher diese, die hinten aufleuchten, wenn man auftritt?«

  »Jaaa!« antworteten die Jungs wie aus einem Mund.

  »Und warum unbedingt Leucht-Turnschuhe?«

  »Damit man im Dunkeln gut erkannt wird«, erwiderte Kai.

  »Aha! Das leuchtet mir ein. Aber das ist doch nicht der einzige Grund.«

  »Die sind einfach cool«, rief Kai und Martin nickte. »Ja, die sind cool«, echote er.

  »Und bei wem habt ihr diese Schuhe gesehen?« wollte Kathrin wissen.

  »Bei dem Jens aus meiner Klasse. Seit er diese Schuhe trägt, ist er der King. Alle wollen nur mit ihm zusammen sein. Sie laufen dann neben ihm her, wenn er beim Laufen blinkt. Das ist geil!«

  »Ja, das ist geil«, wiederholte der kleine Martin.

  Kathrin unterdrückte ein Schmunzeln. »Und was ist an dem Jens noch dran, wenn er die Schuhe ausgezogen hat?«

  Die beiden Jungs blickten verständnislos zu ihr auf.

  »Was ist, wenn er diese Schuhe nicht trägt, weil sie kaputt gegangen sind? Hat er dann noch so viele Freunde? Ist denn der Jens auch sonst so ein cooler Typ?«

  Kai schob die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern.

  »Eigentlich nicht«, gab er etwas kleinlaut zu.

  »Das heißt, er hat seine angeblichen Freunde nur wegen dieser albernen Turnschuhe? Ist das nicht ein bißchen wenig?«

  »Na ja«, etwas unbehaglich trat Kai von einem Fuß auf den anderen. »Kann sein.«

  »Ich denke, das ist so. Aber Freunde gewinnt man mit dem Herzen, nicht mit albernen Turnschuhen.«

  »Ich habe mir schon lange solche Schuhe gewünscht«, wagte Martin einzuwenden. »Ich bin doch noch so klein und werde morgens im Dunkeln nicht gesehen.«

  »Oh, vielleicht kann ich trotzdem eurem Wunsch entsprechen. Schauen wir doch mal, was es alles in den Wunderkartons so zu entdecken gibt.« Kathrin setzte eine geheimnisvolle Miene auf und senkte die Stimme.

  »Ja, hast du denn solche Schuhe für uns?« fragte Martin flüsternd und blickte sich scheu um.

  »Vielleicht, wenn ich mal ganz im hintersten Winkel suche, dann finde ich möglicherweise diese Zauberschuhe, die mir einmal dieser geheimnisvolle Mann verkauft hat, der behauptete, er sei ein ganz berühmter Magier.«

  Martin starrte Kathrin voller Ehrfurcht an, Kai schüttelte den Kopf. »Ist doch jetzt Quatsch, oder wie?«

  »Nein, ganz bestimmt nicht. Warum sollte ich euch Märchen erzählen? Auch in einem Schuhladen geschehen manchmal seltsame Dinge. Wenn ich euch erzählen würde…« Kathrin kletterte auf die Leiter und wühlte im obersten Regalfach des Schuhlagers. Beeindruckt blickten sich die Jungs um. »Wo sind sie denn nur… ich hatte sie doch… Moment mal… na, bitte, wußte ich es doch!«

  Triumphierend zog Kathrin zwei Kartons hervor. Neugierig reckten die Jungs die Hälse, während Kathrin von der Leiter herunter kletterte. Sie öffnete die Deckel. Enttäuscht blickten die Kinder auf zwei Paar blaue Ledersportschuhe mit hellen Streifen.

  »Was ist daran so Besonderes?« wollte Kai wissen.

  »Es sind Leuchtschuhe«, antwortete Kathrin.

  »Niemals!« Kai winkte geringschätzig ab.

  »Niemals!« echote Martin.

  »So? Ihr glaubt mir nicht?« Die Kinder schüttelten entschlossen die Köpfe. »Dann will ich es euch beweisen.« Kathrin knipste eine kleine Lampe an, die nun das fensterlose Lager erhellte. Dann zog sie den Vorhang zu, der das Lager von der Verkaufsabteilung trennte. »Und nun paßt mal gut auf!« Sie drückte den kleinen Knopf der Lampe und das Licht erlosch. Im Lager wurde es dunkel. Erschrocken faßte Martin nach Kais Hand. Auf dem Tisch aber leuchteten plötzlich die hellen Streifen der Schuhe in einem fast unwirklichen Schein.

  »Was ist denn das?« flüsterte Martin.

  »Das sind Reflektoren«, erklärte Kai altklug.

  »Irrtum, junger Mann, Reflektoren werfen nur Licht zurück, mit dem sie angestrahlt werden, so wie die Rückstrahler am Fahrrad. Diese Streifen leuchten auch ohne Licht. Sie fangen das Licht ein, speichern es und leuchten im Dunkeln.«

  »Eh, cool!« Kais Stimme klang begeistert.

  »Cool«, hauchte Martin. Kathrin zog den Vorhang wieder auf. »Und bei Licht sind es ganz normale Schuhe. Keiner weiß, daß es geheimnisvolle Zauberschuhe sind.«

  »Die nehmen wir«, riefen die beiden aus einem Munde.

  Kathrin hielt die beiden Jungs an den Schultern zurück. Dann legte sie den Zeigefinger auf die Lippen. »Ich denke, das sollte unser Geheimnis bleiben. Eurem Vater braucht ihr es ja nicht unbedingt zu verraten. Vielleicht entdeckt er das Geheimnis von allein?«

  Verschwörerisch nickten die Jungs. Dann stürmten sie durch den Verkaufsraum hinüber zum Wartebereich. Jubelnd hielten sie die blauen Schuhe hoch. Erstaunt erhob sich der Mann und betrachtete die Schuhe. »Ja, aber, das sind doch ganz normale… ich dachte…« Irritiert blickte er erst auf seine Kinder, dann zu Kathrin. Die Jungs kicherten, und Martin hielt sich prustend die Hand vor den Mund.

  Kathrin lächelte und hob ein wenig die Augenbrauen. Gut sah er aus, dieser Mann in seiner Hilflosigkeit. Er hatte wunderschöne blaue Augen, die jetzt geradewegs in Kathrins Augen blickten. »Wie haben Sie denn das bloß gemacht?« wollte er wissen.

  »Berufsgeheimnis«, lachte sie. »Sind Sie einverstanden mit diesen Schuhen?«

  »Ja, ja, natürlich.« Ihm war die Erleichterung anzusehen und sein Gesicht entspannte sich. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

  »Gern geschehen«, erwiderte Kathrin. Insgeheim jedoch hätte sie schon gewußt, wie sich dieser gutaussehende Mann bei ihr bedanken konnte. Mit einem Blick auf die beiden Jungs schüttelte sie jedoch

energisch den Kopf und deutete zur Kasse.

  Glücklich verließen Kai und Martin, jeder mit seinem Schuhkarton unter dem Arm, gemeinsam mit ihrem Vater das Geschäft.

  »Die Verkäuferin war echt cool, Mann«, sagte Kai zu seinem Vater, als sie auf der Straße standen.

  »Kai, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dich bitte anders ausdrücken«, rügte der Vater seinem Ältesten.

  »Ist doch wahr, Paps«, verteidigte Martin seinen Bruder. »Eine coole Braut.«

*

  Kathrin stöhnte verhalten. Eigentlich war ihr keine Arbeit zuviel, aber seit Marion nicht mehr da war und sie allein die Kinderschuhabteilung betreuen mußte, kam sie kaum noch zum Luftholen. Wieso brauchten Kinder nur so viele Schuhe? Klar, die kleinen Füße wuchsen schnell, und Kinder gehen oft nicht sehr sorgsam mit ihren Schuhen um, aber daß sie so viel zu tun hatte, hätte Kathrin nicht erwartet.

  Herr Kremer versprach zwar, ihr eine Hilfskraft zur Seite zu stellen, aber nur zum Einsortieren der Schuhe. Der Verkauf war allein Kathrins Sache.

  Zuerst nahm sie keine Notiz von dem kleinen Blondschopf mit dem großen Schulranzen, der etwas verloren zwischen den Regalreihen stand und Kathrin versonnen betrachtete.

  »Nun, wo ist denn deine Mutti?« wollte Kathrin wissen, als sie den Kleinen beinahe umgestoßen hätte. Sie blickte in zwei strahlend blaue Augen. Kathrin stutzte. Wo hatte sie schon einmal solche blauen Augen gesehen? Der Kleine schwieg und lächelte sie an. Plötzlich fiel es Kathrin wie Schuppen von den Augen. Dieser gutaussehende Vater mit seinen beiden Buben, die Zauberschuhe!

  »Bist du nicht der Martin mit den Zauberschuhen?« fragte Kathrin.

  Der Junge nickte und blickte sie weiter unverwandt an. »Was ist denn, sind die Schuhe kaputt?«

  Der Kleine schüttelte den Kopf, ohne die Blicke von ihr zu wenden. Kathrin blickte sich suchend um. Sie konnte den Vater des Jungen aber nirgendwo entdecken. »Bist du ganz allein hier?« Der Junge nickte wieder. »Ja, aber was tust du hier?« Wieder strahlte sie der Junge an, als brächte er ihr gerade ein Weihnachtsgeschenk. »Mußt du nicht nach Hause gehen?« bohrte Kathrin etwas beunruhigt weiter. Der Kleine nickte, dann stapfte er schnurstracks zur Tür und verschwand.

  Kathrin blickte ihm kopfschüttelnd nach. Das hatte sie nun davon, wenn sie den Kindern solche Märchen auftischte. Sicher wollte der Kleine schauen, ob wieder Zauberschuhe im Regal standen.

  Kathrin blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, neue Kundschaft stand im Geschäft. Es wurde Zeit, daß der Chef ihr endlich eine Aushilfe zur Seite stellte.

  Kathrin war nicht wenig erstaunt, als sie am nächsten Tag wieder Martins Blondschopf entdeckte. »Ja, Martin, was suchst du denn hier? Brauchst du wieder neue Schuhe?« Martin blickte sie treuherzig an und ergriff ihre Hand. Kathrin erschrak. Irgend etwas war mit dem Jungen nicht in Ordnung. Sie zog ihn in den Wartebereich und hob ihn auf einen der Sessel. »Nun erzähl mir mal, was du auf dem Herzen hast, Martin. Wenn du keine neuen Schuhe haben willst, was möchtest du dann?« Martin blickte sie mit den blauen Augen seines Vaters an, und in Kathrins Magengegend spürte sie einen kleinen verräterischen Stich. Aber der Junge schwieg.