21686, als Reaktion auf die Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV., verfasste Pierre Bayle seinen Kommentar zu jener Stelle aus dem Lukas-Evangelium, die häufig zur Begründung religiöser Unterdrückung herangezogen wurde: »Nötige sie hereinzukommen«. Bayles Buch ist das radikalste und philosophisch umfassendste Plädoyer für Toleranz, das die Aufklärung hervorgebracht hat, da Bayle anders als seine Zeitgenossen die Toleranz nicht primär auf Basis der Religion oder um des friedlichen Zusammenlebens willen rechtfertigt. Vielmehr entwirft er Grundsätze der Vernunft und der Moral, die jenseits aller Glaubenslehren einsichtig und verbindlich sind. Die so entwickelte neue Lehre des Verhältnisses von Vernunft, Moral und Religion ist heute noch so aktuell wie damals.

Pierre Bayle (1647-1706), französischer Philosoph und Schriftsteller hugenottischer Herkunft, ist einer der einflussreichsten und originellsten Denker der französischen Aufklärung. Vor allem sein Historisches und kritisches Wörterbuch, das der Enzyklopädie von d’Alembert und Diderot als Vorbild diente, fand europaweit große Beachtung.

Eva Buddeberg ist Akademische Rätin a. Z. am Arbeitsbereich für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Sprecher des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen«. Zuletzt sind im Suhrkamp Verlag erschienen: Normativität und Macht (stw 2132), Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse (stw 1962) sowie Das Recht auf Rechtfertigung (stw 1762).

3Pierre Bayle

Toleranz

Ein philosophischer Kommentar

Herausgegeben von
Eva Buddeberg und Rainer Forst

Aus dem Französischen von
Eva Buddeberg unter Mitwirkung
von Franziska Heimburger

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Eva Buddeberg, Rainer Forst

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eISBN 978-3-518-74418-5

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5Inhalt

Eva Buddeberg und Rainer Forst
Zur Einleitung: Pierre Bayles Theorie der Toleranz

Pierre Bayle
Toleranz

Vorrede
Mehrere Bemerkungen, die sich von denen des Kommentars unterscheiden

Philosophischer Kommentar zu folgenden Worten des Evangeliums nach Lukas, Kapitel 14, Vers 23:
Und der Herr sprach zu dem Knechte: Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, auf dass mein Haus voll werde

Erster Teil
Die Zurückweisung der wortgetreuen Auslegung dieser Passage

Erstes Kapitel
Dass das natürliche Licht oder die allgemeinen Grundsätze unserer Erkenntnisse der formgebende und ursprüngliche Maßstab aller Auslegung der Heiligen Schrift, besonders in Bezug auf die Sitten, sind

Zweites Kapitel
Erste Widerlegung der wortgetreuen Auslegung der Worte Nötige sie hereinzukommen mit der Begründung, dass sie den ganz eindeutigen Ideen des natürlichen Lichts widerspricht

Drittes Kapitel
Zweite Zurückweisung derselben wortgetreuen Auslegung mit der Begründung, dass sie dem Geist des Evangeliums widerspricht

6Viertes Kapitel
Dritte Widerlegung der wortgetreuen Auslegung mit der Begründung, dass diese die Grenzen zunichtemacht, die Gerechtigkeit von Ungerechtigkeit trennen, und das Laster in Tugend verkehrt und so zum Zerfall der Gesellschaften führt

Fünftes Kapitel
Vierte Widerlegung der wortgetreuen Auslegung mit der Begründung, dass sie den Ungläubigen einen sehr plausiblen und sehr vernünftigen Vorwand liefert, keine Christen in ihr Land zu lassen und sie aus allen Orten zu verjagen, an denen sie sie finden

Sechstes Kapitel
Fünfte Zurückweisung der wortgetreuen Auslegung mit der Begründung, dass für ihre Umsetzung Verbrechen unvermeidlich sind und dass es keine Entschuldigung ist zu sagen, man bestrafe die Ketzer nur, weil sie gegen Erlasse verstoßen haben

Siebtes Kapitel
Sechste Zurückweisung der wortgetreuen Auslegung mit der Begründung, dass sie der christlichen Religion ein starkes Argument nimmt, dessen sie sich gegen den Islam bedient

Achtes Kapitel
Siebte Zurückweisung der wortgetreuen Auslegung mit der Begründung, dass sie den Kirchenvätern lange unbekannt war

Neuntes Kapitel
Achte Widerlegung der wortgetreuen Auslegung mit der Begründung, dass sie die Klagen der ersten Christen gegen die heidnischen Verfolgungen gegenstandslos macht

Zehntes Kapitel
Neunte und letzte Zurückweisung der wortgetreuen Auslegung mit der Begründung, dass sie die wahren Christen einer dauerhaften Unterdrückung aussetzen würde, ohne dass man irgendetwas anführen könnte, was diese Entwicklung aufhalten könnte, außer dem, was der Grund für den Kampf zwischen den Verfolgern 7und den Verfolgten war, was nichts als eine armselige petitio principii ist, die nicht verhindern würde, dass die Welt ein Ort des Grauens wird

Zweiter Teil
Die Antwort auf mögliche Einwände gegen das oben Bewiesene

Erstes Kapitel
Erster Einwand. Man wendet keine Gewalt an, um das Gewissen zu zwingen, sondern um diejenigen wachzurütteln, die die Prüfung der Wahrheit ablehnen. Der Trugschluss eines solchen Gedankens. Prüfung dessen, was man Verstocktheit nennt

Zweites Kapitel
Zweiter Einwand. Die wortgetreue Auslegung wird dadurch abscheulich, dass man Gottes Wege nach dem Maßstab menschlicher Wege beurteilt: Sobald Menschen aus Leidenschaft handeln, beeinträchtigt das ihr Urteilsvermögen; doch daraus folgt nicht, dass Gott darin nicht durch die wunderbaren Kräfte seiner Vorsehung sein Werk vollbringt. Über die Falschheit dieses Gedankens und über die gewöhnlichen Auswirkungen von Verfolgungen

Drittes Kapitel
Dritter Einwand. Man verschärft die Dinge böswillig, indem man das von Jesus Christus gebotene Nötigen mit der Vorstellung von Schafott, Rad oder Galgen gleichsetzt, statt nur, wie man sollte, von Geldstrafen, von Verbannungen und anderen kleinen Widrigkeiten zu sprechen. Über die Absurdität dieser Ausrede und darüber, dass, wenn man eine wortgetreue Auslegung zugrunde legt, die Todesstrafe plausibler ist als die Misshandlungen, die Plünderungen und die Verhaftungen, von denen man in Frankreich Gebrauch gemacht hat

8Viertes Kapitel
Vierter Einwand. Man kann die wortgetreue Auslegung der Worte Nötige sie hereinzukommen nicht verurteilen, ohne gleichzeitig auch die von Gott den Juden gegebenen Gesetze und das Verhalten zu verurteilen, das die Propheten bei mehreren Gelegenheiten gezeigt haben. Inkongruenz und besondere Gründe für das alte Gesetz, die für das Evangelium keine Anwendung finden

Fünftes Kapitel
Fünfter Einwand. Die Protestanten können die wortgetreue Auslegung der Aufforderung zur Nötigung nicht beanstanden, ohne die weisesten Herrscher und Kirchenväter, ja ohne sich selbst zu verurteilen, denn sie dulden andernorts keine anderen Religionen, und sie selbst haben manches Mal Ketzer – beispielsweise Servetus – zum Tode verurteilt. Die Täuschung derer, die diesen Einwand machen: besondere Gründe, die Papisten nicht zu tolerieren

Sechstes Kapitel
Sechster Einwand. Toleranz zu lehren kann einen Staat nur in Wirren aller Art stürzen und zu einem grauenhaften Gemisch von Sekten führen, die das Christentum entstellen. – Antwort auf diesen Gedanken. In welchem Sinne sollten Fürsten der Kirche fürsorgliche Väter sein

Siebtes Kapitel
Siebter Einwand. Man kann den Zwang in der wortgetreuen Auslegung nicht bestreiten, ohne eine allgemeine Toleranz zuzugestehen. Antwort darauf, und dass die Schlussfolgerung wahr, jedoch nicht absurd ist. Prüfung der Einschränkungen, die einige Verfechter einer teilweisen Toleranz fordern

Achtes Kapitel
Achter Einwand. Man verunglimpft die wortgetreue Auslegung des Zwanges auf bösartige Weise, indem man irrtümlich unterstellt, sie legitimiere Gewaltakte gegen die Wahrheit. Die Antwort darauf zeigt, dass die wortgetreue Auslegung in der Tat Verfolgungen, die sich gegen die Sache der Wahrheit richten, gutheißt und dass ein Gewissen, das sich irrt, dieselben Rechte wie ein einsichtiges Gewissen hat

Neuntes Kapitel
Prüfung einiger Einwände gegen das, was im vorangehenden Kapitel über das Recht des irregeleiteten Gewissens dargelegt wurde. Bestätigung dieses Rechts anhand von Beispielen

Zehntes Kapitel
Fortsetzung der Antwort auf die Schwierigkeiten in Bezug auf das Recht des irregeleiteten Gewissens. Prüfung der oft geäußerten Ansicht, dass Ketzer unrecht haben, wenn sie gegen ihre Verfolger Vergeltung üben. Argumente, dass ein irregeleitetes Gewissen manchmal, wenn auch nicht immer, diejenigen, die ihm folgen, entlasten kann

Elftes Kapitel
Ergebnis dessen, was in den zwei vorangegangenen Kapiteln bewiesen wurde und zumindest eine Zurückweisung der Interpretation von Zwang

Danksagung der Übersetzerin

11Eva Buddeberg und Rainer Forst
Zur Einleitung: Pierre Bayles Theorie der Toleranz

Pierre Bayles Philosophischer Kommentar über Toleranz[1] wurde 1686 veröffentlicht und zählt neben Lockes Brief über die Toleranz (1689)[2] und Spinozas Theologisch-Politischem Traktat (1670)[3] zu den wichtigsten Schriften der neuzeitlichen Toleranzphilosophie. Zugleich ist sie im Vergleich zu diesen beiden anderen Schriften weniger bekannt, wenn auch sehr zu Unrecht, da sie ihnen in mancher Hinsicht überlegen ist. Bislang existierte auf Deutsch nur eine Übersetzung von Daniel Semerau[4] aus dem 18. Jahrhundert; die vorliegende Neuübersetzung umfasst die zwei ursprünglichen (und die wesentliche Argumentation enthaltenden) Teile der Ausgabe von 1686, die Bayle 1687 noch um einen dritten Teil erweitert hat, in dem er Augustinus’ Argumente für die Zwangsbekehrung detailliert zurückweist. 1688 schließlich erschien als vierter Teil die »Ergänzung«, mit der er sich vor allem gegen einige von Pierre Jurieu vorgebrachte Kritiken verteidigt.

Bayles Schrift beeindruckt besonders durch die Sorgfalt und Radikalität, mit der er jede Form von Zwang in religiösen Angelegenheiten zurückweist – und zwar nicht nur, weil die Anwendung von Gewalt dem Geist des Evangeliums widerspreche, sondern auch dem »natürlichen Licht« der Vernunft, das allen Menschen gegeben sei. Die dabei von Bayle entwickelten Grundsätze der Vernunft und der Moral, die jenseits aller Glaubenslehren verbindlich sind, und seine normativ-epistemische Begründung von Toleranz sind es, die diesem Text bis heute seine Aktualität verleihen.[5]

12Das Thema der Toleranz hat sich seit Bayles Zeit zwar vielfach verändert, ist aber mit der Herausbildung säkularer Rechtsordnungen nicht verschwunden. Nach wie vor wird die Frage erörtert, wo die Grenzen der freien Religionsausübung liegen und wie mögliche Konflikte zwischen rechtlichen, moralischen und religiösen Normen gelöst werden können, ob es um Kopftücher und Burkas geht, um Kruzifixe in Klassenzimmern, um Bluttransfusionen, Beschneidungspraktiken, Abtreibungen, Karikaturen von Religionsgründern, Moscheen und Minarette oder Formen der Eheschließung, um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie tolerant oder entgegenkommend westliche Gesellschaften sich gegenüber der wachsenden Anzahl von Mitgliedern aus anderen Kulturen und damit auch anderer Religionszugehörigkeit verhalten sollten. Das beinhaltet zweierlei: Wie und in welchem Umfang können und sollen religiöse Überzeugungen toleriert werden, die gemessen an den bisherigen Traditionen fremd oder auch befremdlich sind – womit allerdings auch jene Traditionen auf den Prüfstand gestellt werden? Zum anderen stellt sich die Frage, wo Verständnis und Toleranz an Grenzen stoßen, etwa dort, wo gesellschaftliche Grundprinzipien wie Rechte auf Selbstbestimmung, Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung in Gefahr sind.

Inwiefern kann ein Text aus dem 17. Jahrhundert auf solche Fragen Antworten geben? In unseren Augen lassen sich aus Bayles differenzierter Bestimmung des Verhältnisses zwischen Glauben und Vernunft für einige der sich gegenwärtig stellenden Probleme wichtige Einsichten ableiten; insbesondere ist sein generelles Plädoyer für eine Praxis wechselseitiger Toleranz Andersgläubigen gegenüber auch auf gegenwärtige Konfliktfelder anwendbar. Denn nach Bayle können wir mithilfe der von allen Menschen geteilten Vernunft unabhängig vom jeweiligen religiösen Glauben die Grundsätze der Moral einsehen und erkennen, dass jede Auslegung der Religion, die diesen Grundsätzen widerspricht, falsch sein muss. Bayles Plädoyer für Toleranz zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es die Probleme frühliberaler wie auch rein religiöser Begründungen vermeidet und sich so als die systematisch ergiebigste Theorie erweist. Dies gelingt ihm durch die Verbindung einer eigenständi13gen Moral der wechselseitigen Rechtfertigung mit einer originellen Konzeption der Trennung von Glauben und Wissen; auf der Basis einer erkenntnistheoretischen Auffassung von der Endlichkeit der Vernunft entzieht er dem dogmatischen Religionsstreit den Boden, ohne religiöse Wahrheitsansprüche, sofern sie sich auf das Gebiet des Glaubens beschränken, infrage zu stellen. Weil Glaubensfragen jenseits der Grenzen dessen liegen, was wir mithilfe der Vernunft allein zu erkennen vermögen, ohne dabei irrational zu sein, können wir nicht wissen, wer über den wahren Glauben verfügt. Die Normen des Zusammenlebens in einer pluralistischen Gesellschaft müssen demnach auf wechselseitig rechtfertigbare Gründe zurückgehen, die zwischen verschiedenen Glaubensgemeinschaften akzeptabel sind und nicht eine Seite willkürlich bevorzugen.

Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten Daten zu Pierre Bayles Biografie zusammengefasst (1), um im Anschluss daran die politische Situation Europas und insbesondere Frankreichs im 17. Jahrhundert sowie die damit in Zusammenhang stehenden philosophisch-theologischen Debatten um die Frage der Toleranz zu skizzieren (2). Der dritte Teil des Textes gibt einen Überblick über die Hauptargumente von Bayles Schrift (3). Abschließend wird kurz auf die Wirkungsgeschichte von Bayles Schriften und die bisherigen Übersetzungen eingegangen (4).

1. Pierre Bayle – eine biografische Skizze

Pierre Bayle wurde am 18. November 1647 gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges als einer von drei Söhnen eines hugenottischen Geistlichen in Le Carla, einem kleinen Ort in der Nähe der Pyrenäen, geboren. Die calvinistischen Gemeinden wurden in Frankreich zu dieser Zeit staatlich und gesellschaftlich diskriminiert; daher war auch Bayles Familie weitgehend mittellos. Er besuchte zunächst eine calvinistische Schule, bevor er mit 19 Jahren ein Studium an der reformierten Akademie von Puylaurens im Osten von Toulouse aufnahm. Erst mit 22 Jahren, nachdem er im März 1669 zum katholischen Glauben konvertiert war, kam er durch den Besuch eines Jesuitenkollegs in Toulouse in den Genuss einer höheren Ausbildung. Allerdings kehrte er bereits im folgenden Jahr zum protestantischen Glauben zurück, was im damaligen Frankreich mit schweren Stra14fen (von Bußgeldern bis hin zur Verbannung und Konfiszierung des Eigentums) geahndet wurde, sodass er, um einer solchen Bestrafung zu entgehen, nach Genf floh. Dort setzte er sein Studium der calvinistischen Theologie sowie der Philosophie, insbesondere derjenigen Descartes’, fort, bevor er nach Beruhigung der Lage nach Frankreich zurückkehren konnte, wo er seinen Lebensunterhalt zunächst als Hauslehrer in Rouen und später in Paris verdiente.

Ab 1675 lehrte er durch Vermittlung des Theologen Pierre Jurieu an der protestantischen Akademie von Sedan – zu dieser Zeit eine der wichtigsten Ausbildungsstätten für die hugenottische Führungsschicht und die Pfarrer der reformierten Gemeinden in Frankreich. Diese wurde jedoch 1681 (wie alle anderen protestantischen Akademien in Frankreich) auf Befehl von König Ludwig XIV. geschlossen, und Bayle floh nach Rotterdam ins refuge, wo sich eine große Französisch sprechende Gemeinde aus Exil-Hugenotten gebildet hatte. An der dortigen École Illustre unterrichtete er als Professor und erneut als Kollege von Jurieu Philosophie und Geschichte.

Bayle war ein äußerst produktiver Verfasser philosophischer und historischer Schriften. Noch während seiner Zeit in Sedan entstanden sein Système abrégé de Philosophie (1675-1677),[6] die Objectiones in Libros quatuor de Deo, anima et malo (1679), die Thèses philosophiques (1680) und die Dissertation où on défend contre les Péripatéticiens les raisons par lesquelles quelques Cartésiens ont prouvé que l’essence du corps consiste dans l’étenduë (1680). In Rotterdam begann Bayle dann mit der Publikation einer Reihe von Schriften, in deren Fokus das Problem der Toleranz und in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Moral, Vernunft und Glaube standen: In seinem 1682 zunächst anonym veröffentlichten Brief über den Kometen[7] wandte sich Bayle gegen Aberglaube und Intoleranz; er publizierte ferner die Critique générale de l’histoire du calvinisme du P. Maimbourg,[8] in der er Maimbourgs Darstellung der Geschichte des Calvinismus als tendenziös zurückweist. 1684 erschienen zum 15ersten Mal die von Bayle herausgegebenen französischsprachigen Nouvelles de la république des lettres, die erste monatlich erscheinende Revue mit Rezensionen von Autoren verschiedener Herkunft und Konfession zu Neuerscheinungen in Philosophie, Theologie, Geschichte und den Naturwissenschaften. Die Herausgabe der Zeitschrift ermöglichte Bayle einen engen Kontakt mit führenden Theoretikern seiner Zeit. Außerdem veröffentlichte er die kurze Schrift Ce que c’est la France toute catholique sous le règne de Louis Le Grand (1686),[9] in der er einerseits einen Protestanten eine bittere Anklage der Vorgänge in Frankreich vorbringen, andererseits aber auch einen hugenottischen Emigranten zu Wort kommen lässt, der zur Mäßigung mahnt. Im selben Jahr erschienen auch die ersten, hier vorgelegten zwei Teile seiner Toleranzschrift als Philosophischer Kommentar zu den Worten Jesu Christi Nötige sie hereinzukommen.

Auch wenn seine Schriften, bis auf sein Hauptwerk, das Philosophisch-historische Wörterbuch, alle anonym veröffentlicht wurden, blieb Bayle als Verfasser nicht lange unbekannt, was zur Folge hatte, dass nach ihm gesucht wurde und man seine Schriften öffentlich verbrannte. Sein Bruder Jacob, ein reformierter Pfarrer, wurde 1685 an seiner statt ins Gefängnis gesperrt, wo er nach einigen Monaten kurz nach dem Widerruf des Edikts von Nantes starb. Es gehört zu Bayles intellektuellem Profil und auch zur Tragik seiner Situation, dass er sich zunehmend auch in seiner eigenen hugenottischen Gemeinde in Rotterdam heftiger Kritik ausgesetzt sah: Von 1691 an entwickelten sich die Konflikte mit seinem einstigen Mentor Pierre Jurieu zu einer erbitterten persönlichen Kontroverse.[10] Jurieu, ein dogmatischer Calvinist, betrachtete es einerseits als Häresie, das Postulat von der wahren Religion infrage zu stellen, und warf andererseits Bayle politischen Quietismus vor. Denn dieser hielt in Übereinstimmung mit den »Politiques« – einer losen Gruppierung von Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft und Weltanschauung, die auf religiösen Ausgleich bedacht war und im Staat den Garanten für öffentliche Ordnung als dem höchsten Gut sah – zur Gewährleistung ziviler Toleranz einen starken 16Herrscher wie Heinrich IV. für unerlässlich. Jurieu hingegen, ähnlich wie andere calvinistische Monarchomachen, proklamierte ein Widerstandsrecht gegen illegitime Herrschaft und hatte dabei eine Art theokratisches, auf der wahren Religion begründetes politisches Herrschaftssystem vor Augen.[11] Entsprechend verteidigte Jurieu auch die Zwangsbekehrung Andersgläubiger, sofern sie Menschen zum richtigen Glauben führe. In verschiedenen Schriften verfasste Bayle Entgegnungen, so etwa in der Avis important aux refugiez sur leur prochain retour en France (1690),[12] in der er den politischen Radikalismus der Hugenotten ebenso angriff wie deren religiöse Intoleranz. 1693 gelang es Jurieu schließlich, Bayle seine Professur in Rotterdam zu entziehen; darüber hinaus sorgte er dafür, dass Bayle fortan auch keinen Privatunterricht mehr erteilen durfte.

Maßgeblich auf seinen für die von ihm selbst herausgegebene Monatsschrift verfassten Artikeln basierend, publizierte Bayle 1692 eine erste Fassung seines Hauptwerks, des berühmten und vor allem im 18. Jahrhundert viel gelesenen Philosophisch-historischen Wörterbuchs,[13] zunächst unter dem Titel: Projet et fragmens d’un dictionnaire critique, nachdem er die Arbeit daran 1687 zunächst hatte unterbrechen müssen. Die eigentliche erste Ausgabe, die aus vier Teilen in zwei Bänden bestand, erschien vier Jahre später, Ende 1696 (mit dem Erscheinungsjahr 1697). Bayles Methode, gegensätzliche Positionen einander gleichrangig oder sie gegeneinander abwägend zu erörtern, ohne stets selbst explizit Position zu beziehen, war ein Grund dafür, dass man Bayle auch in metaphysischen Fragen für einen radikalen Skeptiker und in religiösen gar für einen 17materialistischen Atheisten hielt – so bezeichnete ihn etwa Ludwig Feuerbach in seiner Bayle gewidmeten Monografie als »den ungebundenen, losen Skeptiker, den dialektischen Guerillahäuptling aller antidogmatischen Polemiker«.[14] Bis heute gibt es eine große Spannweite an Interpretationen und Bewertungen, die sich primär auf das Wörterbuch beziehen – während einige in Bayle einen ungläubigen Libertin[15] zu erkennen meinen, sehen andere in ihm eher den rechtgläubigen Calvinisten.[16] Dabei ist Bayle vor allem ein radikaler Kritiker eines dogmatischen, den Geboten der Vernunft widerstreitenden Verständnisses von Religion. Gleichzeitig betont er die Begrenztheit der menschlichen Vernunft und lässt damit Raum für die Möglichkeit eines Glaubens, der weiß, dass er ein Glaube ist, und der sich somit seiner Grenzen bewusst ist. Dies hat er in den Klarstellungen, die er auf das Drängen seiner Rotterdamer Gemeinde hin 1701 dem Wörterbuch beigefügt hat, wie auch in späteren Schriften, z. B. der 1703 erschienenen Réponse aux questions d’un provincial oder in der 1704 erschienenen Continuation des pensées diverses,[17] erneut deutlich gemacht.

Bayle starb am 28. Dezember 1706, vermutlich an Tuberkulose. 1707 erschien posthum sein letztes Werk, die Entretiens de Maxime et de Themiste,[18] eine Abhandlung über das Theodizeeproblem.

2. Religiöse Konflikte in der Frühen Neuzeit und die Frage der Toleranz

Bayles Denken entwickelte sich in einer Zeit, in der der Wahrheitsanspruch der römisch-katholischen Kirche durch die reformatorischen Bewegungen vor allem Luthers und Calvins herausgefordert wurde und in der die Versuche, kirchliche Autorität mit staatlichen 18und vor allem mit militärischen Mitteln wiederherzustellen oder neu zu begründen, zu keinem dauerhaften Erfolg, dafür aber zu immensen Opfern geführt hatten. In Frankreich wurden seit den 1520er Jahren Luthers Thesen diskutiert, spätestens seit 1535 setzten sich im französischen Protestantismus jedoch Calvins Ideen durch: Zahlreiche, vorwiegend in Genf ausgebildete calvinistische Geistliche kamen ins Land. 1562 gab es bereits mehr als 2000 calvinistische Kirchen. Caterina de’ Medici hatte als Regentin zeitweilig eine auf Ausgleich bedachte Politik gegenüber den Protestanten verfolgt, allerdings ohne dass dies nachhaltigen Einfluss auf die fast vierzig Jahre Religions- bzw. Bürgerkriege zwischen Katholiken und Protestanten gehabt hätte; deren Höhepunkt, das Massaker an den Hugenotten während der Bartholomäusnacht vom 24. August 1572, wurde eingeleitet durch einen Befehl des französischen Königshauses zur Ermordung der wichtigsten hugenottischen Führer.

1594 kam Heinrich von Navarra als Heinrich IV. an die Macht, nachdem er 1593 vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert war. Er erließ 1598 das Edikt von Nantes, das den Protestanten Gewissensfreiheit und in bestimmten Teilen des Landes das Recht auf freie Religionsausübung und somit eine gewisse soziale Sicherheit gewährte, ohne sie allerdings zu gleichberechtigten Bürgern zu machen. Außerdem überließ das Edikt den Protestanten eine Anzahl an Festungen, in denen sie sich gegen feindliche Attacken schützen konnten. Auch konnten sie nun in bestimmte öffentliche Positionen gewählt werden, die vorher nur Katholiken offenstanden, sowie Schulen und Universitäten besuchen.

Vier Jahre vor Bayles Geburt 1647 hatte Ludwig XIV. den Thron von Frankreich geerbt, 1654 wurde er offiziell zum König gekrönt und gesalbt. Als solcher versuchte er zunehmend, sein Königreich an dem Grundsatz un roi, une foi, une loi auszurichten. Hatte sich der französische Klerus in Fragen des Staates dem König zu fügen, so unterstand dieser in Fragen des Glaubens und der Moral als »Abgesandter Gottes« dem Papst. In dem sich daraus ergebenden Spannungsfeld zwischen staatlicher und kirchlicher Autorität gewannen die Kirchenvertreter zunehmend an Einfluss. 1660 forderte eine Versammlung des französischen Klerus zunächst, hugenottische Schulen und Krankenhäuser zu schließen und außerdem Hugenotten von öffentlichen Ämtern auszuschließen. 1670 wurde Protestanten die Errichtung und der Unterhalt eigener Schulen un19tersagt, die Emigration mit Enteignung und Haft bestraft; weiter wurde ein Fonds zur Belohnung von Protestanten, die sich bekehren ließen, eingerichtet, während gleichzeitig alle, die dies verweigerten, bestraft wurden. Von 1670 an gingen die Forderungen des Klerus so weit, dass bereits siebenjährige Kinder dem Protestantismus abschwören und dann von ihren Eltern getrennt werden sollten. Außerdem sollten gemischte Ehen annulliert werden und Kinder aus solchen Ehen als illegitim gelten. Bis in die 80er Jahre des 17. Jahrhunderts nahmen die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Hugenotten stetig zu, und Ludwig XIV. gab den Forderungen des katholischen Klerus immer weiter nach. Auf Initiative des Kriegsministers wurde von 1681 an versucht, Protestanten durch die Einquartierung von Soldaten (Dragonern) in protestantische Privathäuser – die sogenannten Dragonaden – zum Religionswechsel zu zwingen, wobei es zu körperlichen Übergriffen, Vergewaltigungen und Plünderungen kam.

Bis 1685 wurden fast alle der noch bestehenden protestantischen Gotteshäuser entweder geschlossen oder zerstört. Eine wachsende Anzahl von Protestanten beugte sich dem öffentlichen Druck, zum katholischen Glauben überzutreten, die große Mehrzahl verließ jedoch das Land, um in der Schweiz, England, den Niederlanden oder den deutschen Staaten Schutz zu finden. Schließlich wurde 1685 das Edikt von Nantes – laut dessen erstem Artikel »immerwährend« und »unwiderrufbar« – durch das Edikt von Fontainebleau außer Kraft gesetzt mit der offiziellen Begründung, dass es in Frankreich nunmehr keine Protestanten mehr gebe.[19] Die ca. 400 000 Hugenotten, die aufgrund der Verfolgungen Frankreich verlassen hatten, wurden in den Nachbarländern, z. B. den Niederlanden und Deutschland und auch andernorts in Europa, überwiegend freundlich willkommen geheißen. So gewährte etwa der Große Kurfürst von Brandenburg im Potsdamer Toleranzedikt den Hugenotten Asyl, was zu einem entscheidenden wirtschaftlichen und geistigen Aufschwung Brandenburgs beitrug, das erheblich unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges gelitten hatte. In Frankreich hingegen wurden die Einquartierungen fortgesetzt, und nur eine Minderheit französischer Katholiken übte Kritik an den gewaltsamen Verfolgungen, während andere namhafte Vertreter 20des geistigen Lebens wie Jacques Bénigne Bossuet, François Fénelon oder Jean de La Fontaine Ludwig XIV. für seinen Mut und seine Entschlossenheit lobten.

Zwar wurde die Frage der Toleranz nicht erst im 16. Jahrhundert in Europa intensiv diskutiert, aber sie war von da an die zentrale politische Frage bis hin zur Aufklärung.[20] Ein Jahrhundert zuvor hatte vor dem Hintergrund der Eroberung Konstantinopels durch die Türken zunächst Nikolaus von Kues mit seinem De pace fidei[21] (1453) einen ersten Schritt hin zu einer umfassenden Konzeption der Toleranz geliefert, indem er in einem fiktiven Dialog zwischen Vertretern verschiedener Religionsgemeinschaften die Idee entwickelte, dass die Menschen von Gott verschieden geschaffen worden sind und sie ihn deshalb auch auf verschiedene Weise erkennen. Gleichwohl gebe es Kerngehalte des Christentums, die von allen Gruppierungen geteilt würden und aufgrund deren sie sich gegenseitig tolerieren sollten.

Ähnliche Gedanken hatte zur Zeit der Reformation Erasmus von Rotterdam vor allem in seiner Schrift Liber de sarcienda ecclesiae concordia[22] (1534) entwickelt – wobei er sich, was den Umgang mit Ketzern angeht, auf das biblische Gleichnis vom Unkraut zwischen dem Weizen (Matthäus 13,24-30) beruft, das man so lange stehen lassen sollte, bis beide klar unterschieden werden können. Toleranz auch gegenüber Nichtchristen forderte 1531 Sebastian Franck in seiner Chronica, Zeytbuch und Geschychtbibell.[23] Da Gott der einzige Richter in Glaubensfragen sei, habe nur er das Recht zu entscheiden, wer rechtgläubig und wer Ketzer sei. Sebastian Castellio wandte sich in seiner Schrift de Haereticis, an sint persequendi (1554) gegen Calvin und die von ihm angeordnete gewaltsame Verfolgung von Häretikern, wie z. B. die Verbrennung des der Ketzerei beschuldigten Michael Servet. Gewissens- und Vernunftfreiheit erklärte er zur notwendigen Bedingung für wahren Glauben und wies daher den Anspruch jeder kirchlichen oder staatlichen Macht zurück, andere zwangsweise zum Glauben zu bekehren. Die erste 21staatstheoretische Toleranzbegründung legte 1576 Jean Bodin vor mit Les six livres de la république.[24] Gegenseitige Achtung für den Glauben des anderen und die Annahme, dass sich unterschiedliche Auffassungen in Glaubensfragen nicht überwinden lassen, bilden nach seiner Überzeugung die Grundlage für einen Staat, in dem es mehrere Religionsgemeinschaften nebeneinander gibt.

Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund und den historischen Erfahrungen der Verfolgung Andersgläubiger und der Religionskriege sind im 17. Jahrhundert drei bedeutende Toleranzkonzeptionen entwickelt und begründet worden, die bis heute als zentral gelten können:

In seinem Tractatus Theologico-Politicus argumentiert Baruch de Spinoza, dass der Kern des Glaubens in den Tugenden von Liebe und Gerechtigkeit liege, und zieht eine Trennung zwischen dem individuellen Recht auf Glaubens- und Meinungsfreiheit – sofern diese nicht zu den Staat gefährdenden Handlungen führt – und dem Recht des Staates, Gerechtigkeit zu definieren und in praktischen Fragen des Zusammenlebens zu entscheiden, inklusive des äußeren Kultus. John Lockes Brief über die Toleranz plädiert für eine klare Trennung zwischen Staat und Kirche: Aufgabe des Staates sei es, sich um die bürgerlichen Belange zu kümmern, in Glaubensfragen dagegen dürften die Kirchen als »freiwillige Gesellschaften« keinen Zwang ausüben, sondern hier könne nur das eigene Gewissen entscheiden. Begrenzt sei dieses Recht allein dort, wo eine Religion die staatliche Autorität infrage stellt und wo die Leugnung Gottes zur Auflösung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft führt. Entsprechend sieht er keine Toleranz gegenüber Katholiken und gegenüber Atheisten vor.

Pierre Bayles bereits drei Jahre zuvor erschienene Schrift über Toleranz kann als umfassendster Versuch gelten, Toleranz in Gewissensfragen allein durch »das natürliche Licht« der Vernunft zu begründen. Dabei haben die beiden Stützen seiner Toleranzbegründung, das moralische Vernunftprinzip der Unparteilichkeit und die Auffassung von der Besonderheit religiöser Wahrheitsansprüche, denen es versagt ist, sich auf klare Evidenzen und Vernunftgründe zu berufen, Bayle zu seiner Zeit nicht nur in Widerspruch zur katholischen Kirche, sondern eben auch zu seinen calvinistischen 22Glaubensbrüdern gesetzt, die ihn des Sozinianismus oder gar des Atheismus verdächtigten.

Bayles Versuch, die Argumente zurückzuweisen, die für den Gewissenszwang bzw. die autoritäre Durchsetzung der vorgeblich wahren Religion sprechen, geht wie die Argumentationen von Spinoza und Locke dahin, dass er dies zunächst auf dem Feld der christlichen Lehre selbst tut – ohne dass dies sein ausschließliches oder zentrales Argumentationsfeld ist.[25] Dazu geht er in seiner hier vorliegenden Schrift und in seinem Historischen und kritischen Wörterbuch an vielen Stellen auf das Evangelium selbst sowie auf die Kirchenväter zurück und markiert sehr deutlich den Umschlag des christlichen Toleranzdenkens im 4. Jahrhundert.[26] Von zentraler Bedeutung ist in seinen Augen die Lehre des Augustinus, besonders seine im Kontext des Streits mit den Donatisten entwickelten Begriffe vom »guten Zwang«, vom »Zwang zum Eintreten« und vom heilsamen Terror (terror perculsis), der die Einzelnen aus der Verblendung reißen soll.[27] Diese Argumente sind die wesentlichen Herausforderungen für Bayle, denn sie bilden bis in seine Zeit hinein die Legitimationsgrundlage für die Ausübung von Zwang durch die »Bekehrer«, die es als Pflicht gegenüber Gott, dem Gezwungenen selbst und den von seiner häretischen Krankheit möglicherweise Angesteckten ansehen, die Abwege in die ewige Verdammnis zu blockieren. Dabei kommt es Bayle nicht nur darauf an, den Zwang zum Eintreten auf der Grundlage der Schrift selbst immanent zu widerlegen, vielmehr geht es ihm auch darum, dies in eigenständigen Moralbegriffen als grobe Ungerechtigkeit zu kritisieren. Zugleich bestreitet er – und das ist wohl sein fundamentalster Angriff – die Legitimation der Rede vom unzweifelhaft »wahren« Glauben.

An zentraler Stelle taucht bei Bayle das Problem des »irrenden Gewissens« auf, das Pierre Abailard aufgeworfen und Thomas von Aquin zu lösen versucht hatte. Radikaler noch als Abailard, dem Bayle einen langen Artikel in seinem Wörterbuch[28] widmet, tritt er 23für die Pflicht des Einzelnen ein, seinem Gewissen unbedingt zu folgen, da es für ihn die Stimme Gottes sei.[29] Mit Abailard teilt Bayle auch den Versuch, die zentralen Lehren des Christentums auf einen ethisch-moralischen Kern zu bringen, der nicht nur Duldsamkeit gegenüber Andersgläubigen impliziert, sondern auch selbst einen religiös-übergreifenden Gehalt hat – welcher sich aber in den Augen des Aufklärers Bayle durch das »natürliche Licht« der Vernunft erkennen lässt. Den Versuchen, eine Einheit der Religionen auch in doktrinärer Hinsicht aufzuzeigen, die im 12. Jahrhundert beginnen (ohne sich von ihren partikularen Standpunkten freizumachen[30]) und sich über die Autoren des Humanismus fortsetzen, steht er allerdings skeptisch gegenüber. Wenn er eine »natürliche Religion« zulässt, dann allenfalls im Sinne einer »natürlichen Gerechtigkeit«.

Von besonderer Bedeutung für Bayles Denken ist die mit Marsilius von Padua beginnende Linie des politischen Denkens, die einen starken und selbstständigen Staat als notwendig erachtet, um der Macht der Kirche(n) entgegenzutreten.[31] Dabei sieht er die besonders in der Englischen Revolution erhobenen Ansprüche auf politische Freiheit nicht als in Einklang mit dem Anspruch auf Gewissens- und Kultfreiheit stehend, sondern als Bedrohung für die Stabilität des Staates an. Er bleibt ein Anhänger der Politiques, besonders von Michel de L’Hospital, den er in seinem Artikel im Wörterbuch einen »der größten Männer seiner Zeit« nennt. Ebenso lobt er Heinrich IV. in dem ihm gewidmeten Artikel als einen der »allergrößten Prinzen«, weil er den Hugenotten zum ersten Mal eine gewisse Sicherheit vor Verfolgung gewährt hatte. Auch in den Artikeln über Bodin, Grotius und Hobbes lässt Bayle keinen Zweifel daran, dass er eine religiös tolerante, absolutistische Herrschaft den »Wirren« der Demokratie vorzieht.[32] Bei ihm treten somit die Forderungen nach Toleranz und nach demokratisch legitimierter Herrschaft, die bei den Levellers und Locke zusammengefügt worden waren, wieder auseinander. Allein der über den religiösen und 24zivilen Streitigkeiten seiner Zeit stehende Souverän kann den Frieden bewahren. Dabei spielt auch eine gewisse skeptische Anthropologie eine Rolle, ein protestantisches Erbe, das Bayle auf Distanz zu den Humanisten gehen lässt, trotz des Lobes für die Toleranz des Erasmus.[33]

Einen großen Einfluss auf Bayle üben Bodins Colloquium heptaplomeres und Montaignes Essais aus, die die Gedanken Castellios radikalisieren, indem sie zu einer deutlichen Trennung zwischen Glauben und Wissen und – was Montaigne betrifft – zu einer fideistischen Position gelangen, die sich in modifizierter Form bei Bayle wiederfindet. Dass der Glaube, wie Bodin sagt,[34] in assensione pura, sine demonstratione[35] besteht, in einer Art »moralischer Gewissheit«, ist für Bayle ebenso wichtig wie Montaignes Skepsis gegenüber einer Vernunftbegründung des Glaubens. Diese Skepsis soll religiös-dogmatischen Streitfragen die Schärfe nehmen: Sie bleiben zwar möglich, sind aber der Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten, die in dem Sinne »jenseits der Vernunft« liegen, als sie letztlich nur mithilfe von Glaubenssätzen zu entscheiden sind, die die Vernunft nicht beweisen kann. Der sozial-religiöse Konservatismus, der religiösen Streit durch die Verhinderung von Neuerungen zu vermeiden sucht und der sich bei Montaigne und verstärkt noch bei Lipsius findet, wird von Bayle allerdings kritisiert;[36] hier steht er auf der Seite von Coornhert, der der Erste war, der für eine Toleranz der Atheisten plädierte.[37]

253. Toleranz. Ein philosophischer Kommentar – Bayles zentrale Argumente für Toleranz

Es ist die Kritik an jeder Form von Zwang in religiösen Angelegenheiten, die im Zentrum von Bayles Toleranzschrift steht, weil dieser der menschlichen Vernunft widerspricht. Stattdessen tritt Bayle für eine wechselseitige Toleranz ein, die es erlaubt, bei religiösen Meinungsverschiedenheiten zwar zu versuchen, den anderen von dem für wahr erachteten Glauben zu überzeugen, nicht aber, ihn zu zwingen, einen anderen Glauben anzunehmen. Bayles entscheidende Einsicht ist, dass nur eine allgemein gültige Begründung der Toleranz, die auf universalen und übergeordneten Konzeptionen von Vernunft und Moral beruht, zu einer allseits einsehbaren, verbindlichen und fairen Form der Toleranz führen kann.

Wie der ursprüngliche, weitschweifig formulierte Titel seiner Schrift ankündigt, greift Bayle auf die traditionelle Legitimation des Gewissenszwangs zurück, zum compelle intrare aus dem Gleichnis vom großen Gastmahl und zu Augustinus’ Verteidigung einer Bekehrung durch »heilsamen Zwang«, eine Position, die seit dem Mittelalter als Rechtfertigung für die Inquisition galt und die sich Zeitgenossen wie Bossuet[38] zu eigen gemacht hatten, um die Verfolgung der Protestanten zu legitimieren.

Wie für Schriften dieser Art üblich, verschleiert Bayle seine Autorschaft, wenn auch nur dürftig. In der Rolle eines fiktiven Engländers, der von dem Autor des Buches über das »ganz katholische Frankreich« (Bayle selbst) gebeten worden sei, die gängige Auslegung der überlieferten Worte Jesu vom compelle intrare zu widerlegen, argumentiert Bayle, dass die von den Bekehrern verteidigte Interpretation weder mit der Vernunft noch mit anderen Bibelstellen zu vereinbaren sei.

Im ersten Teil seines Kommentars geht es Bayle darum, die wörtliche Auslegung des compelle intrare zurückzuweisen, indem er mit philosophischen Argumenten darlegt, dass Jesus Christus mit die26sen Worten nichts gemeint haben kann, was dem natürlichen Licht unserer Vernunft widerspricht. Er verbindet dies mit einer heftigen Anklage gegen die »papistische« Praxis, Hugenotten zur Konversion zu zwingen; diese werde nicht damit legitimer, dass man sich als alleinige wahre Kirche betrachte und es als Pflicht gegenüber Gott, der Gesellschaft und nicht zuletzt gegenüber den »Bekehrten« selbst ansehe, dem einzig wahren Glauben zur Durchsetzung zu verhelfen.

Bereits in der Vorrede bezeichnet Bayle die von den Papisten vorgebrachte Argumentation als »lächerlich«, denn in dem Streit zwischen Protestanten und Katholiken gehe es ja gerade um die Frage, welche die wahre Kirche sei, und es gebe »nichts Lächerlicheres […], als beim Denken immer das vorauszusetzen, was infrage steht« (Vorrede, S. 61). Diese Frage könne auch von Seiten der Protestanten nicht einseitig entschieden werden, sondern allein auf der Basis »gemeinsamer Prinzipien«. Und für den Fall, dass die religiöse Wahrheitsfrage mit Mitteln der Vernunft nicht zu lösen sei, gilt nach Bayle das Gebot der Toleranz: Dass es kein Recht auf das Verfolgen Andersdenkender gibt, muss mit allgemein einsehbaren Gründen belegt werden, »die ein derartiges Recht allgemein allen Religionen absprechen« (Vorrede, S. 65). Wer wie die Papisten solch eine Begründung verweigere, sei aufgrund dieser intoleranten Haltung ein Risiko für das friedliche soziale Zusammenleben und nicht tolerierbar, schon gar nicht in politischen Ämtern.[39] Ausgenommen werden könne davon einzig der König (wobei Bayle Heinrich IV. vor Augen hat), dem es als Person freistehen müsse, sich zu einer Religion seiner Wahl zu bekennen.

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