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Aus dem Amerikanischen
von Rita Höner

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Amerikanische Originalausgabe:
The Soul of Autism. Looking Beyond Labels
to Unveil Spiritual Secrets of the Heart Savants

2016 erstmals Deutsch im AMRA Verlag
Auf der Reitbahn 8, D-63452 Hanau
Telefon: + 49 (0) 61 81 – 18 93 92
Kontakt: Info@AmraVerlag.de

Herausgeber & Lektor Michael Nagula
Einbandgestaltung FranklDesign
Layout & Satz Birgit Letsch

Copyright © 2008 by William Stillman
Original English language edition published by
The Career Press Inc., 12 Parish Drive, Wayne,
NJ 07470, USA. All rights reserved.

Hier finden Sie das deutsche Video zum Buch:
www.youtube.com/watch?v=dcxOyRJT1bQ

ISBN Printausgabe 978-3-939373-15-5
ISBN eBook 978-3-95447-076-1

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks.

»Das Mysterium umgibt uns. Es schlägt an
unsere Ufer. Es durchdringt das Land.
Kratzen Sie an der Oberfläche des Wissens,
und das Mysterium sprudelt hoch wie eine
Quelle. Und manchmal … braust vom Meer
ein ganzer Sturm von Mysterien heran und
überrollt unsere Bemühungen …«

– Chet Raymo, Honey from Stone:
A Naturalist’s Search for God

Inhalt

Einleitende Worte

Teil I – Grenzenlose Möglichkeiten

1 Die Welt braucht Autismus

2 Die Zweiteilung des Bewusstseins

Teil II – Lektionen des Herzens

3 Harmonische Muster

4 Was Tiere sagen

5 Vorfahren als Verbündete

6 Nosmo der Abscheuliche

Teil III – Höhere Ebenen

7 Der Friedensfürst

8 Wege zu spirituellem Wohlbefinden

9 Die menschliche Maskerade

Danksagung

Bibliografie

Der Autor

Register

Für Matthew –
einen strahlenden Lichtpunkt

Einleitende Worte

»Okay, hier ist eine verrückte Theorie und etwas zum Nachdenken: Unsere Kinder reagieren sehr sensibel auf das, was sie sehen, hören, riechen und so weiter. Könnte es also sein, dass sie auch mehr auf die geistige Welt eingestellt sind? Bitte haben Sie an dieser Stelle ein bisschen Geduld. Nein, ich bin nicht verrückt …« So begann Ende März 2006 der Beitrag einer verstörten, aber intuitiv veranlagten Mutter in einem Internetforum. In ihrer Nachricht erzählte sie von den ungewöhnlichen Umständen, unter denen ihr kleiner Sohn sich mit einem Foto seines seit Langem verstorbenen Großvaters beschäftigte – den er nie kennen gelernt hatte, den er aber trotzdem zu kennen schien. Die Mutter berichtete, dass das Abbild des Großvaters ihren Jungen zum Lächeln und Kichern bringt (eine Reaktion, die von keinem anderen Bild ausgelöst wird), dass er aufschaut, mit seinen Blicken im ganzen Haus die Luft »schnuppert«, jemandem zuwinkt, den sie nicht sehen kann, und dann wie bei einer Verabschiedung winkt. Am Schluss ihres Beitrags äußert sie ihre Verwunderung darüber, dass sie hört, wie ihr Sohn mitten in der Nacht aufwacht, schallend lacht und dann, plötzlich traurig, klagt: »Alles weg« ... wenn die Ereignisse aufhören.

Die Frage dieser Mutter stieß auf großes Interesse, und der Besucherzähler registrierte in wenigen Tagen rund 1.200 Treffer, denn immer mehr Mütter klinkten sich ein – der Beitrag fand eindeutig ein Echo. (Ein späterer Beitrag zum gleichen Thema war 10 Seiten lang und kam auf über 3.000 Besucher!) Mich überraschte das nicht. Ich hatte diese aufkommende Strömung schon seit einiger Zeit gesehen – und gespürt –, aber jetzt entwickelte sie eine Eigendynamik. Der Zeitpunkt war günstig; mein Buch Autismus und die Verbundenheit mit Gott würde in Kürze veröffentlicht werden.1 Es war das erste Buch dieser Art, das sich mit den multisensorischen spirituellen Fähigkeiten vieler hochsensibler Menschen aus dem Autismusspektrum beschäftigte, und enthält Fallberichte, die denen des Beitrags im Autismusforum und den auf ihn folgenden Reaktionen praktisch identisch sind.

Inzwischen fand das Thema Spiritualität auch Eingang in Autismus-Zeitschriften. In dem Artikel »Kindred Souls« (»Verwandte Seelen«) schrieb Chris Dodds, Mutter eines Sohns namens Taylor: »Ich werde nie die Nacht vergessen, in der ich ihn im Bett weinen hörte und in sein Zimmer ging, um zu sehen, was los war. ›Die Menschen hätten sich nie weiterentwickeln dürfen‹, schluchzte er. ›Wir machen die Erde kaputt und zerstören alles, was gut auf ihr ist.‹« Zu diesem Zeitpunkt war Taylor gerade einmal sieben Jahre alt. Keri Bowers, deren Sohn Taylor Cross bei dem Film Normal People Scare Me Regie führte, beschrieb ihre spirituelle Offenbarung: »Eines Abends, unmittelbar nach Taylors erstem Geburtstag … fragte ich noch einmal: ›Warum ich, Gott?‹ Ich hatte die Fäuste geballt – ich fühlte mich als Opfer –, und mein Kopfkissen war nass von Tränen. Wie konnte mir das passieren? Und dann hörte ich eine Stimme deutlich und doch zart sagen: ›Warum nicht du, Keri? Warum nicht?‹ Zuerst war ich bestürzt; dann überkam mich eine Erkenntnis. Für mich war die Zeit gekommen, das Akzeptieren zu lernen.« Sogar Ellen Notbohms respektables und einflussreiches Buch Ten Things Every Child with Autism Wishes You Knew, das damals gerade erschienen war, beschäftigt sich im letzten Kapitel mit verwandten Überlegungen; die Autorin fragt sich, ob ihr Sohn vielleicht sie ausgesucht hat.

Gleichzeitig ergaben sich weitere Parallelen. Ich erfuhr, dass die Frau, die mein neues Buch in ihrer Radiosendung rezensieren wollte, einen Sohn mit Autismus hatte. Ich informierte sie darüber, dass er sie vor seiner Geburt einem japanischen Paar vorgezogen hatte. Eine andere Radiomoderatorin rief an und teilte ihre erstaunliche Geschichte mit: Ihr kleiner Sohn, der das Asperger-Syndrom hatte, unterhielt sie eines Tages mit Einzelheiten über das Fischen, einschließlich des Wissens über Tintenfische. Auf behutsames Nachfragen hin verriet er, er habe diese Details von seinem Urgroßvater, einem begeisterten Seemann. Allerdings war dieser Urgroßvater gestorben, als die Frau sechzehn Jahre alt gewesen war.

Die Schauspielerin Sigourney Weaver, die in dem Film Der Geschmack von Schnee eine Autistin spielt, eröffnete die Präsentation des Films bei den Filmfestspielen in Berlin 2006 mit einer Pressekonferenz, bei der sie den Autismus durch eine spirituelle Brille sah, die den Prinzipien meiner Arbeit überraschend ähnlich ist: »Ich glaube, wir müssen anfangen, ihn als eine Gabe zu sehen. Vielleicht verstehen wir nicht, wozu er da ist, aber im Umgang mit einem Menschen mit Autismus lernen Sie sehr viel. Sie lernen spielen, Sie lernen, wie man Dinge sehen und erleben kann und wie irritierend die Welt ist.« Ähnlich philosophisch wurde der Schauspieler Joe Mantegna, als er über den Autismus seiner 18-jährigen Tochter Mia sagte: »Ich glaube wirklich, dass es da draußen einen Plan gibt … Es ist fast einfacher, daran zu glauben, als nicht daran zu glauben, wenn Sie sich ansehen, wie schön und voller Wunder die Welt ist … Man muss annehmen, dass da eine Art Logik am Werk ist, wir entwickeln uns Richtung Licht. Wenn das Teil des Plans ist, akzeptiere ich meine Rolle gern und bereitwillig.«

Eine Verlagerung zum Spirituellen

Wie viele Menschen mit dem Asperger-Syndrom, der leichtesten Erfahrung aus dem Autismus-Spektrum, habe ich einen scharfen Blick fürs Detail und neige dazu, global über Dinge nachzudenken, weil ich nichts aussortieren will. Und wie der siebenjährige Taylor Dodds habe auch ich mir den Kopf zerbrochen über umfassende, generelle Themen, die sich auf uns alle auswirken könnten. Ich begann eine Reihe von Hinweisen zu bemerken (und sorgsam als Belege zur späteren Verwendung zu horten), dass unsere Gesellschaft als Ganzes für eine Verlagerung der Wahrnehmung hin zum Spirituellen offen war – zumindest war sie offen für Diskussionen und dafür, bislang nicht geäußerte Möglichkeiten zu erörtern, vor allem in Bezug auf Menschen mit Behinderungen. (Ist es nicht faszinierend, dass jetzt auf der Verpackung der Seife in meinem Hotel steht: »Lassen Sie die entspannende Essenz des Lavendels Ihre Stimmung heben und Ihren Geist beruhigen.« Noch vor ein paar Jahren hätte eine solche Formulierung wohl niemanden vom Hocker gerissen.)

Ein paar Monate zuvor hatte ein Artikel im Time Magazine unter der Überschrift »The Down Dilemma« (»Das Down-Dilemma«) das Für und Wider der Möglichkeiten für Schwangere abgewogen, die sich durch ein neues Screening ergeben hatten. Es ermöglicht, »genetische Abweichungen einschließlich des Down-Syndroms« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten festzustellen. Der als First and Second Trimester Evaluation of Risk (FASTER) bekannt gewordene Test, der eine 96-prozentige Aufklärungsquote verspricht, soll es Frauen potenziell erleichtern, ihren mit dem Down-Syndrom identifizierten Fetus wesentlich früher abzutreiben als bisher – eine Alternative, für die 80 bis 90 Prozent der Frauen sich entscheiden. Den Kontrapunkt dazu bildet der Aufschrei gestandener Eltern, die es ablehnen, das Leben eines Kindes mit unterschiedlicher Seinsweise zu beenden, nur weil es anders und diese Lösung bequemer ist. »Werden die Leute für die Möglichkeiten dieser Kinder offen sein?«, überlegte Patricia Bauer, Ex-Redakteurin der Washington Post und Mutter einer 21-jährigen Tochter mit Down-Syndrom – einer Tochter, die, wie Bauer vorbringt, »eine Quelle der Freude und des Glücks« in ihrem Leben und im Leben der ganzen Familie ist. Folgt nun bald eine ähnliche Diskussion zum Screenen von unerwünschten Feten mit Autismus?

Im Juni 2006 berichtete die Londoner Daily Mail über den »Ethikstreit«, der sich aus verbesserten Screening-Verfahren ergeben und »Designer-Babys« hervorbringen könnte. Durch ein Verfahren zur Auswahl des Geschlechts könnten gesunde männliche Embryos ausrangiert (Autismus tritt mindestens vier Mal häufiger bei männlichen Kindern auf) und durch weibliche Embryos ersetzt werden, um bei entsprechend prädisponierten Familien »das Risiko« eines genetischen Autismus »drastisch zu reduzieren.« Simone Aspis, Aktivistin und Vertreterin des Britischen Behindertenrates, verurteilte diese Pläne und meinte: »Ein Autismus-Screening würde die Angst erzeugen, dass jeder, der irgendwie anders ist, nicht akzeptiert wird. Ein Autismus-Screening würde zu einer Gesellschaft führen, in der nur das Vollkommene geschätzt wird.«

Auch der Gerichtsbeschluss, der dem Leben von Terri Schiavo ein Ende setzte, machte Schlagzeilen. Sie erinnern sich: Schiavo brach 1990 im Alter von 26 Jahren bei sich zu Hause überraschend zusammen, was eine irreversible Hirnschädigung zur Folge hatte. Sie veränderte sich körperlich und wurde zu einem Menschen, der nach außen hin extrem behindert war – sie konnte weder sprechen noch sich bewegen und war, was ihre Betreuung und ihr Wohlbefinden betraf, vollständig auf andere angewiesen. Schiavos Ehemann trug vor, sie befände sich ohne Bewusstsein und ohne Aussicht auf Besserung in einem dauerhaften Wachkoma – was eine nach ihrem Tod durchgeführte Autopsie tatsächlich bestätigte. (Allerdings ereignete sich auch Folgendes: Im März 2007 erwachte Christa Lilly aus Colorado Springs nach sieben Jahren aus einem Koma, das identisch beschrieben worden war, und im folgenden Juni erholte sich ein Pole nach 19-jährigem Koma.)

Aber wer sind wir schon, dass wir »Bewusstsein« definieren wollen? Ist der Mensch nicht so veranlagt, dass er überleben will? Wenn es anders wäre, würden wir uns keinen Deut um unsere Sicherheit kümmern, sie wäre uns egal, und möglicherweise würden wir uns sogar umbringen. Wer kann schon sagen, ob Terri Schiavo sich nicht trotz ihrer extremen Situation und der Hartnäckigkeit ihres Ehemannes für das Leben entschieden hatte? Nachdem Schiavos Eltern den amerikanischen Kongress, den obersten Gerichtshof, den Vatikan und das Weiße Haus angerufen hatten, verloren sie die Schlacht, das Leben ihrer Tochter zu retten, und Terri starb schließlich an Dehydrierung. Ihre Schwester verurteilte öffentlich die Mentalität einer Gesellschaft, für die nur die Lebensqualität zählt, und prangerte eine Kultur an, die »den Wert [und] die Heiligkeit allen menschlichen Lebens« aus den Augen verloren hat. Es gibt tatsächlich Leute, die Menschen mit Autismus, dem Down-Syndrom, einer Intelligenzminderung oder anderen Entwicklungsabweichungen für den »Ausschuss« der Gesellschaft halten. Schon einmal, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, hat man die Lebensqualität solcher Menschen für wertlos erachtet und sie massenweise umgebracht.

In einer Zeit, in der die Grenzen zwischen den zwei gegensätzlichen Lagern der Kontroverse »Evolution kontra intelligentes Design« klar gezogen wurde (die von dem Physiknobelpreisträger Eric Cornell auf den Satz komprimiert wurde: »Der Gedanke, der Himmel sei blau, weil Gott es so wollte, existierte schon, bevor die Physiker die Raleigh-Streuung verstanden …«), sorgte überall auf der Welt ein bescheidener junger Mann mit Autismus für Schlagzeilen. Der 17-jährige Jason McElwain bekam Beifall, weil er für sein New Yorker Highschool-Basketballteam in vier Minuten zwanzig Punkte machte und seine Mannschaft so in die Saison-Endrunde führte. Jason – der erst mit fünf Jahren zu sprechen begann – war der Teammanager, der gewöhnlich auf der Bank saß; es war das erste Mal, dass er auf dem Feld spielte. Die Nachricht von Jason McElwains spektakulärer Vorstellung verbreitete sich schnell über die Nachrichtenagentur Associated Press, den US-amerikanischen Sportfernsehsender ESPN und andere Medien. Seine Familie musste umgehend eine Flut von Filmangeboten aus Hollywood abwimmeln, eine Puppe mit seinem Konterfei wurde hergestellt, und bald hatte Jason den ultimativen amerikanischen Fototermin: Er posierte mit George W. Bush, der gestand, er habe bei der Übertragung von Jasons Gewinnersequenz »geweint, wie viele andere Leute auch«.

Zur gleichen Zeit, in der diese phänomenale Leistung im ganzen Land in den höchsten Tönen gelobt wurde, machte noch ein anderer junger Autist Schlagzeilen, Matthew Moran, wenn auch in wesentlich bescheidenerem Rahmen. Matthews Familie, die in Lake Havasu City in Arizona zu Hause ist, erhielt von der Kirche einen Brief, der sie darüber informierte, der zehnjährige Junge mit Autismus könne am wichtigsten Sakrament der Kirche nicht teilnehmen, weil er die Hostie nicht verlässlich schlucken könne (Matthew reagiert empfindlich auf die Textur bestimmter Lebensmittel – ein Problem, das viele Autisten haben) und »nur vorgibt, dies zu tun.«

Die durch diese Ausgrenzung ausgelöste Empörung und Verärgerung (ganz zu schweigen von Matthews persönlichem Kummer – er »weinte und schrie, weil er seine Kommunion nicht erhielt«, berichtete seine Mutter) verleitete die Kirchenoberen zu einem irrwitzigen Gerangel, dessen Kennzeichen heuchlerische Schuldzuweisungen waren. Matthews Vater meinte, die Kirche würde die Richtlinien für das Feiern der Sakramente für Personen mit Behinderungen verletzen. In diesem Schriftstück der US-Konferenz katholischer Bischöfe heißt es, »zweifelhafte Fälle sollten zugunsten des Rechts der getauften Person gelöst werden, das Sakrament zu erhalten. Das Vorhandensein einer Behinderung allein gilt nicht automatisch als Grund, eine Person vom Empfang der Eucharistie auszuschließen.« Die Erlaubnis ist so deutlich, dass die Notwendigkeit, sie zu veröffentlichen, geradezu herablassend wirkt. Roberto Dell-Oro, Theologe an der Loyola Marymount University und Vater eines autistischen Sohnes, verdichtete dies zu dem Satz: »Ich bin sicher, dass Gott weiß, dass [Matthew] die Kommunion empfängt.«

Anders als in einem in The Catholic Sun veröffentlichten Bericht, der die Rehabilitationsbemühungen der Pfarrgemeinde im Einzelnen auflistet, wurde Matthew nie voll einbezogen, was der Bericht suggeriert. »Es ist der einzige Ort, an dem er schikaniert wurde und an den ich ihn vielleicht wieder mitnehmen würde«, bekannte seine Mutter Jean Weaver widerstrebend neun Monate später. Sie sagte, die Kirche habe unter einer Voraussetzung zustimmen wollen: Sie habe es für Matthews Rückkehr zur Bedingung gemacht, dass er auf der hintersten Kirchenbank Platz nimmt, an der sich eine Plakette mit der Aufschrift »Reserviert für Kranke und Behinderte« befindet. (Die Familie lehnte dies ab.) Ich habe mich gefragt, ob Matthew Moran irgendwann in seinem Leben so viel geleistet haben wird, dass ihm das gleiche Fotoshooting zugestanden wird wie Jason McElwain, den die Medien zum »autistischen Baseball-Freak« ernannt haben.

Offenbar ist mein Buch Autismus und die Verbundenheit mit Gott und seine Botschaft, Menschen mit Autismus mit Ehrerbietung, Respekt und Rücksichtnahme zu begegnen, gerade zum richtigen Zeitpunkt erschienen. Eltern, Fachleute und Menschen mit Autismus rund um den Globus, die meine Intention so verstanden haben, wie sie gemeint war, haben mich mit zustimmenden Mitteilungen und liebevollem Lob überschüttet. Bei der täglichen Lektüre meiner Emails war ich oft zu Tränen gerührt. Ein junger Mann aus Florida, den meine Überzeugung inspirierte, für die sprechen zu dürfen, die sich selbst nicht äußern können, schrieb mir ein bewegendes Gedicht. Menschen, die sich in das Buch vertieften, erzählten mir, sie könnten es nicht weglegen, nicht mehr schlafen und würden es ein zweites Mal lesen, weil es so »wunderbar«, »erstaunlich«, »beeindruckend«, »bewegend« und »herrlich geschrieben« sei. Die Krönung kam von einer Mutter aus Virginia, die mir schrieb, ihr zweijähriger Sohn habe »das Buch vom Kaffeetisch genommen und es sofort umgedreht, auf Ihr Bild in der unteren Ecke gezeigt und sich dann mit der Hand auf die Brust geklopft – das ist seine Art, uns zu sagen, dass etwas ›seins‹ ist«. Wieder andere Leser befreiten sich von eigenen, lange zurückgehaltenen Ich-wusste-dass-ich-nicht-verrückt-bin-Geschichten, von denen ich einige hier aufgenommen habe. Gleichgesinnte waren nun bereit, die spirituelle Wahrheit über den Autismus und andere sogenannte Behinderungen weiterzugeben und anzunehmen.

Ein Interviewer fragte mich, ob das Interesse an meinem Buch und meinen Ideen nicht zum Teil auf das Bedürfnis der Eltern zurückzuführen sei, in einem Kind, das kaum besondere Fähigkeiten zu haben scheint, spezielle Talente zu entdecken. Bei den Familienangehörigen, die Kontakt zu mir aufnehmen, handelt es sich im Allgemeinen um einfache, bescheidene Leute, die ihre Geschichte oft widerstrebend und erleichtert zugleich erzählen. Ihre Sprache ist schmucklos, und manchmal muss ich die Grammatik und Rechtschreibfehler korrigieren. In meiner unbeirrten Antwort führte ich aus:

Wir sollten anerkennen, dass die Eltern von Menschen mit Autismus ein ungemein komplexes Leben haben können. Niemand von denen, die Kontakt zu mir aufgenommen haben, hat um etwas anderes gebeten als um die Gelegenheit, gehört zu werden; also ging es nicht um einen persönlichen Vorteil. Ich beschäftige mich auch nicht mit etwas, das zahllose Familien nicht bereits kennen; ich erkläre es nur, indem ich einen Aspekt des Autismus ans Licht bringe, der vorher »weggesperrt« war. Daher habe ich diese ganze »Autismus und die Verbundenheit mit Gott«-Bewegung nicht geschaffen, sie war schon da und entwickelte sich langsam, aber sicher. Alle Kinder sind wertvoll, und jeder von uns, egal wer es ist, ist mit Gaben und Talenten gesegnet.

Wunder messen

Diejenigen unter uns, denen es nicht so leicht fällt, ihre spirituellen Ressourcen anzuzapfen, werden möglicherweise fragen: »Und wie funktioniert das?« Auf der Suche nach Antworten will dieses Buch die Konzepte aufgreifen und näher untersuchen, die in Autismus und die Verbundenheit mit Gott vorgestellt wurden.

Vielleicht fragen Sie sich, wie ich die dort – und nun hier – mitgeteilten Berichte ausgesiebt habe. Ich verwende zwei Kriterien:

1. Klingt das, was jemand mitteilt, wahr, spricht Demut aus ihm? Anders gesagt: Enthält die Information Nuancen, die für das autistische Erleben glaubhaft sind, ohne dieses unangemessen zu glorifizieren? Das heißt: Die mitgeteilte Geschichte sollte nicht in das Extrem gehen, Menschen mit Autismus als »Gottes besondere Engel« darzustellen, denn das ist nicht das wirkliche Leben; ich glaube, für jeden Menschen aus dem Autismusspektrum und für seine Eltern und Betreuer kann es eine ungewöhnlich anspruchsvolle Lebensweise sein. Das bedeutet nicht, dass eine spirituelle Begabung sich nicht zeigen kann, aber wenn sie es tut, geschieht dies indirekt mitten in der alltäglichen Mühsal des gemeinsamen Lebens, Lernens und Durchhaltens. Meist fühlen Menschen sich einfach erleichtert zu wissen, dass sie nicht verrückt sind, nicht als Einzige solche Erfahrungen haben und jemand sie versteht.

2. Lässt die Information sich in eines oder mehrere »Themen« einordnen, die sich im Verlauf meiner Untersuchungen herauskristallisiert haben? Zu diesen Themen zählen die Ergebnisse der – in Autismus und die Verbundenheit mit Gott beschriebenen – Annahme, dass bei Menschen mit Autismus immer Intelligenz vorliegt und der Autismus letztlich ein Weg zur Chance ist; der autistische Mensch fördert die Spiritualität in einer Familie, die ihr vorher gleichgültig oder ablehnend gegenüberstand, und bringt der Natur (Pflanzen, Wäldern, Bäumen) und Gewässern (Seen, Flüssen, Teichen) einen angeborenen Respekt entgegen. Andere herausragende Themen sind:

Wissen um eine Existenz vor der Geburt: Den Eltern erzählen, sie wären in bewusster Absicht »ausgesucht« worden; erzählen, man wäre vor der Geburt im Geist oder im Himmel gewesen; Einzelheiten über das Leben in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort (Beispiel: »Als ich so groß war wie du, Mama …«); flüssiges Sprechen einer nicht zu definierenden Sprache oder einer Sprache, mit welcher der Betreffende noch nie in Kontakt gekommen ist.

Vorwissen oder Vorahnung: Wissen, was geschehen würde, bevor es tatsächlich geschah. Das kann etwas so Einfaches sein wie eine zutreffende Voraussage über das Schulmittagessen in der nächsten Woche oder etwas so Dramatisches wie ein Wutanfall, der einen Autobahnunfall verhindert.

Telepathie: Das Austauschen oder Anzapfen von Gedanken und Bildern mit beziehungsweise bei einem anderen Menschen, gewöhnlich einem nahestehenden Verwandten wie Mutter, Vater oder Großmutter. Dazu gehört auch die verbale Antwort des autistischen Menschen auf eine im Kopf formulierte Frage, die nicht an jemanden Bestimmten gerichtet war.

Kommunikation mit Tieren: Die »Sprache« domestizierter und wilder Tiere schweigend erfassen und interpretieren, durch Emotionen oder den mentalen Austausch von Bildern. Dieser Austausch kann von anderen beobachtet und als bemerkenswert oder ungewöhnlich gewürdigt werden.

Verbundenheit im Geiste mit einem lieben Menschen, gewöhnlich Großvater oder Großmutter: Dazu gehören die starke Anhänglichkeit an ein Foto des/der Verstorbenen und ein genaues, vorher unbekanntes Wissen über sein Leben; unter Umständen wird ein solches Verhalten unterstützt durch Augenzeugen und fotografische Beweise (Energiekugeln oder Lichtkreise – sogenannte Orbs2).

Erscheinungen von nicht inkarnierten, kapriziösen Seelen oder »Gespenstern«: Derart geplagte autistische Personen zeigen möglicherweise eine extreme, erregte Ängstlichkeit, sie fürchten sich nachts und berichten, unerwünschte Wesenheiten zu sehen, was durch historisch belegte Fakten, Augenzeugen und/oder fotografische Beweise erhärtet werden kann. Sehr religiöse Familien bezeichnen solche Wesenheiten möglicherweise als »Dämonen«.

Umgang mit wohlwollenden, ätherischen Wesenheiten, die von manchen als Engel definiert werden: Dies kann sich an einem in beide Richtungen erfolgenden Austausch zeigen, der regelmäßig (manchmal täglich) am gleichen Ort zur gleichen Zeit stattfindet und nach dem der Betreffende fröhlich und zufrieden ist. Auch dies wird möglicherweise durch Augenzeugen und fotografische Beweise belegt, etwa Streifen oder Explosionen eines unerklärlichen weißen Lichts.

Der Uneingeweihte mag das alles für beunruhigend und sogar unglaublich halten, aber es gibt Familien, für die es die Wirklichkeit ist. Wieder andere werden solche Erzählungen der kindlichen Fantasie oder psychotischen Halluzinationen zuschreiben. Gelegentlich erhalte ich tatsächlich eine Geschichte, die plausibel anfängt, sich aber schnell zu einer weitschweifigen Irreführung von der Sorte entwickelt, die die Glaubwürdigkeit meiner Arbeit gefährdet. Es gibt Leute, die vorbringen, sie würden telepathisch mit einem autistischen Kind kommunizieren, und dann suggerieren, es wäre der wiedergeborene Jesus Christus … oder halb Mensch, halb Außerirdischer … oder würde die Stigmata tragen … oder würde garantiert weltberühmt … oder sollte angebetet werden und massenhaft Anhänger um sich scharen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Vergleichen Sie den übereifrigen, bombastischen Ton solcher Szenarien mit der behutsamen, unprätentiösen Geschichte, die Holly aus Oklahoma mir schickte, die Mutter eines Kleinkindes mit Autismus:

Unsere dreijährige Tochter hatte schreckliche, groteske Albträume über Schlangen und Spinnen. Neulich nachts hatte sie einen über Spinnen. Sie schrie auf, aber das war alles. Mein Mann ging sie holen und brachte sie zu uns ins Bett. (Ich weiß, eine schreckliche Angewohnheit.) Wie dem auch sei, auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer meinte er, er würde jemanden sehen, und schrie: »Hej!«, um ihn zu erschrecken. (Letzten Monat war nachts jemand in unser Haus eingedrungen.) Es machte mir Angst, meinen Mann so schreien zu hören, aber später erzählte er mir, er hätte eigentlich nur das Gefühl gehabt, da wäre jemand gewesen, und deshalb habe er »für alle Fälle« gerufen.

Nun, am nächsten Tag machte ich das Bett unserer Tochter, das sie vollkommen zerwühlt hatte – alle Laken und Kissen lagen auf dem Boden –, und ich neckte sie deshalb. Sie fing an, über ihr Bett zu reden und dass jetzt keine Spinnen mehr in ihm drin wären, dass sie mit den »Leuten im Himmel« geredet hätte, und der Mann hätte das gesagt. Ich fragte: »Was? Wer?« Sie erwiderte: »Die Leute im Himmel, da oben«, und zeigte auf die Zimmerdecke. Ich war fasziniert und stellte ihr immer weitere Fragen, aber sie lachte mich nur an und versuchte, das Thema zu wechseln (»Guck mal, Mami, ich komme mit den Zehen an meine Nase«, und so weiter). Aber ich bekam aus ihr heraus, dass sie »wirklich groß waren, wie Mami und Papi«; sie machte mit beiden Händen eine hohle Hand und hielt die Arme seitlich hoch nach oben, fast so wie große Flügel – obwohl ich sie das nicht gefragt hatte. Sie waren »weiß«, und »der Mann« hatte braune Haare. Sie sprach immer von »Leuten«, aber nur der Mann hatte zu ihr gesprochen und ihr gesagt, es wären keine Spinnen mehr in ihrem Bett.

Ich nehme an, viele Leute werden sagen, das wäre die Fantasie einer Dreijährigen oder eben auch ein Traum. Aber gibt es Ihnen nicht zu denken? Und warum sollten Engel sich die Mühe machen, einem kleinen Mädchen zu sagen, in seinem Bett wären keine Spinnen? Aber was ist denn schon zu unbedeutend, um sich darum zu kümmern?

Die Bedeutung des Seins

Gibt es überhaupt etwas, das zu unbedeutend ist? Nein, nichts. Am Beginn meiner spirituellen Reise als Autismus-Berater hätte ich diesen Pragmatismus nicht verstanden – ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich ihn verstanden hatte, als ich an meinem Buch Autismus und die Verbundenheit mit Gott arbeitete. Die Erkenntnis kam, als ich mich über Gedanken wunderte, die schon da standen, über eine Formulierung, die darauf wartete, dass ich sie mir gründlich durch den Kopf gehen ließ.

Autismus und die Verbundenheit mit Gott schließt mit einem eloquenten Selbstgespräch, das in seiner Einfachheit so tiefgründig ist, dass seine wahre Absicht sich mir erst offenbarte, als das Buch schon geschrieben war. In dieser speziellen Passage spricht mein lieber Freund Michael, der damals 15 Jahre alt war, über seine Wahrnehmung, als Autist in dieser Welt zu sein: Er definiert sich als eine heile Seele in einem defekten Körper, im Gegensatz zur häufigsten Art des In-der-Welt-Seins, bei der eine defekte Seele in einem heilen Körper wohnt. Anders gesagt: Seine Seele stellt, genauso wie die ihm ähnlichen Seelen, das Geistige über das Körperliche, die Ästhetik über das Materielle, das Spirituelle über das Stoffliche. Michael behauptet, eine empfundene Behinderung hätte immer einen Ausgleich – nämlich die Fähigkeit, nach Belieben eine Verbindung zu Gott herzustellen, was diese Seinsweise auch zu einem Segen macht. Er sagt: »Gott liebt das Handeln im Sein, und was Er ist, hängt davon ab, wer wir im Physischen sind. Wenn Er Sich in Seiner höchsten Form erlebt, kehrt die Seele zum Ganzen zurück. Bevor das möglich sein kann, muss Gott sich in jedem von uns entwickeln … Wenn alle Gott nützen, geben sie Ihm das Gefühl des Seins. Er sieht und erlebt Seine Göttlichkeit durch uns.«

»Er sieht und erlebt Seine Göttlichkeit durch uns« war ein schönes Gefühl, aber ich verstand den Gedanken nicht vollständig. Bis ich eines milden Nachmittags, als ich gemütlich auf der Terrasse hinter dem Haus lag und meine Augen trüb waren vom Lesen, durch das Fenster auf einen blitzblanken Himmel sah, von dem sich nur eine einzige verirrte Wolke abhob. Während ich sie mit schweren Lidern gedankenverloren beobachtete, schwoll sie vor der mittäglichen Sonne an und löste sich dann im Zeitlupentempo in Streifen von Zuckerwatte auf. In diesem Augenblick überkam mich ein ehrfürchtiger Schauder: Dieser Anblick war einzig und allein mir bestimmt. Auf der ganzen Welt gab es niemanden, der genau das erlebte, was ich in genau diesem Moment aus genau diesem Blickwinkel mitbekam. Gott erlebte Seine Göttlichkeit tatsächlich in genau diesem Augenblick durch mich – und nur durch mich. Wenn ich das zu Ende dachte, erlebte Gott Seine Göttlichkeit ständig, in jedem Augenblick eines jedes Tages, nicht nur durch mich, sondern durch die gesamte Menschheit, und jeder trug seine eigene einzigartige Variation des »Seins« für Gott bei.

Stellen Sie sich die ganze Skala menschlicher Emotionen und Erfahrungen vor – nichts, kein Aspekt des Menschseins, wird außer Acht gelassen, das schlimmste Leid genauso wenig wie die euphorischste Hochstimmung. Nichts war zu unbedeutend.

Aber da war noch mehr. Erlebte nicht auch Gott selbst sich als die vorüberziehende Wolke? Es würde nie eine andere geben, die sich noch einmal genau so zerteilen würde. Und was ist mit den zahllosen, winzig kleinen Milben, die neben zahllosen Grashalmen den Boden bestellen, auf den zahllose einzelne Schneeflocken fallen? Oder den unzähligen Sandkörnern, die jeden Strand bedecken? Wenn Sie diese Vorstellung auf das gesamte Universum ausdehnen, sind die Möglichkeiten des »Seins« unendlich! Alles und jeder hat einen Seinszweck – sogar, oder besser vor allem, Menschen mit anderer Seinsweise.

Michaels herrliche, scharfsinnige Annahmen hallten in mir wider, während die Wolke meinem Blick entglitt. Sie enthielt ein Kontinuum von Möglichkeiten, die auch für den Autismus galt. In einer Welt, die von Hass und Intoleranz gegenüber Andersartigkeit überschwemmt ist – einer bleiernen, nur langsam sich ändernden Welt –, begriff ich es endlich. Ganz und gar.

Teil I

Grenzenlose Möglichkeiten

 

Kapitel 1

Die Welt braucht Autismus

» Wenn bei einem von 166 Kindern Autismus diagnostiziert wird, kann man diesen nicht mehr als selten bezeichnen. Wir haben es mit einer Epidemie zu tun. Alle 16 Minuten erhält ein weiteres Kind die Diagnose ›Autismus‹. «

Julie Krasnow, Indianapolis Star

Die Welt braucht Autismus. Davon bin ich überzeugt. Die Welt braucht Autismus jetzt mehr denn je. Sie glauben mir nicht? Sehen Sie sich um ... und sehen Sie genau und gründlich hin. Ziehen Sie ein globales Bewusstsein in Betracht. Denken Sie an die Aufrufe zum Handeln, die wir in früheren Zeiten durch weltumspannende, verheerende Naturkatastrophen und internationale Terroranschläge empfingen. An ihre Stelle ist mittlerweile ein unerbittlicher Taktgeber getreten, der Datenpool des Internet, ein moderner »Tachometer«, der minutiös anzeigt, wie schnell die Welt auf den Tag der Abrechnung zurast.

Betrachten Sie auch das ethische Verhalten der Gesellschaft. Es hat im Großen und Ganzen rapide nachgelassen, seit Filme und Fernsehprogramme uns gegen Sex, Gewalt und verbale Beleidigungen aufs Äußerste abstumpfen. Horrorstreifen wie Saw mit seinen sechs und Hostel mit seinen drei Fortsetzungen, Wolf Creek, The Devil’s Rejects oder Turistas haben eine pornografische Freizügigkeit ohnegleichen gefördert: Mit sadistischer Begeisterung verstümmeln die Menschen sich darin gegenseitig, und die Folterdarstellungen in solchen Filmen sind bis in alle Einzelheiten realistisch. Oder betrachten Sie das Verhalten so vieler Personen, die in der Öffentlichkeit stehen. Stillschweigend entschuldigen wir ihr schlechtes Vorbild und rassistisches und egomanisches Geschwätz und werten es als akzeptabel. Kaum jemand, der sich daneben benimmt, ob in Politik oder Wirtschaft, wird zur Verantwortung gezogen, sein Fehlverhalten hat für ihn keine negativen Folgen – nach einer »Rehabilitierung« wird es oft sogar belohnt. Der größte Teil der News handelt von Sex, Gier, Manipulation, Betrug und dem Streben nach körperlicher Schönheit um jeden Preis. Angesichts dieses kulturellen Gifts ist unsere Menschlichkeit auf der Strecke geblieben.

Meinen Sie nicht auch, die Leute würden das nachmachen, was sie sehen? Vor einiger Zeit beschäftigte sich eine Meldung der Nachrichtenagentur Associated Press mit dem erstaunlichen Rückgang des Stellenwertes, den die gesellschaftliche Etikette hat – Unverschämtheit und Unmoral nehmen zu. Die Möglichkeit von Emails hat passiv-aggressive Verhaltensweisen zu neuen Höhen geführt. Bereits 2006 kam eine Konferenz über Gewaltverbrechen zu dem Schluss, dass das »Verbrechen im großen Stil wieder da ist«. Die Zeitung USA Today zitierte eine FBI-Einschätzung, der zufolge Hassverbrechen gegen Personen mit Entwicklungsstörungen um 94 % zugenommen haben. Berichte über Gewalt im Straßenverkehr sind mittlerweile alltäglich. Neulich las ich von »Happy slapping«: Ein ahnungsloses Opfer wird körperlich angegangen, während ein zweiter Täter den Angriff mit einer Handykamera filmt und ins Internet stellt, damit jeder es sehen kann. Immer mehr User sind auf Sex mit Kindern aus, und die Kinderpornografie ist noch brutaler geworden; so hat sich die Zahl der Bilder, die einen schweren Missbrauch darstellen, seit 2003 vervierfacht. Verabscheuungswürdige internationale Verletzungen der Menschenrechte durch größenwahnsinnige Diktatoren werden zunehmend toleriert.

Es scheint zur Norm geworden zu sein, dieses egozentrische, selbstsüchtige Verhalten ohne Rücksicht auf andere. Ein »Messias-Komplex« ist entstanden; wir sind zu einer narzisstischen Gesellschaft geworden, die einzig ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen will, weil »es immer nur um mich geht«. Wer diese Einstellung nicht teilt, wird als Gegner empfunden. Und dann sind es die Autisten, die klinischerseits unter anderem dadurch definiert werden, dass ihnen das Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zum sozialen Austausch fehlt!

Die US-Behörde für Seuchen- und Krankheitsvorsorge (Center for Disease Control and Prevention, abgekürzt CDC) revidierte Anfang 2007 ihre Autismus-Statistik, die bislang davon ausging, dass eines von 166 Kindern Autismus hat – was übrigens die zahllosen nicht erfassten Erwachsenen ausschließt. Jetzt heißt es, die Zahlen für die USA lägen eher bei 1 zu 150. Aber vielleicht bedeutet ja die umgekehrte Statistik die größere Epidemie: Von 150 Personen sind 149 angeblich »normal« beziehungsweise neurotypisch!