Über Nicholas Shakespeare

 

Nicholas Shakespeare, 1957 in Worcester/England geboren, wuchs als Sohn eines Diplomaten in Asien und Lateinamerika auf. Heute lebt er im englischen Wiltshire und in Swansea/Tasmanien. Er veröffentlichte mehrere Romane, darunter Sturm und Der Obrist und die Tänzerin, verfilmt unter der Regie von John Malkovich, und eine große Bruce-Chatwin-Biographie. 2014 erschien bei Hoffmann und Campe Priscilla.

1

Es ist kurz vor zehn Uhr am Neujahrstag des Jahres 1915, und an der Bahnstation Sulphide Street warten die Ausflügler in der prallen Sonne. Hüte und Schirme bieten den 1239 Männern, Frauen und Kindern, die in den offenen Erzwagen sitzen oder stehen, piksende Weidenkorbgriffe umklammern, sich den Schweiß von den Schläfen wischen und mit den Fingern zeigen, nur wenig Schutz.

Das Thermometer zeigt 38 Grad im Schatten.

Seit August haben viele von ihnen hier Freiwillige verabschiedet, die sich zum Dienst in den Commonwealth Expeditionary Forces gemeldet haben. Heute steigen sie selbst vom Bahnsteig in einen Zug. »Broken Hill« steht in schwarzer Farbe auf einem weißen Schild.

In frisch gewaschener Sommerkleidung eilen die letzten Fahrgäste über den Bahnsteig und klettern in die von der Silverton Tramway Company mit Wasserschläuchen gereinigten Waggons.

Im vierten Wagen hinter der Lokomotive, die gerade aufgeheizt wird, erzählt Mrs Rasp, eine rundliche, flachgesichtige Frau, deren männliche Züge manch einen an den Premierminister erinnern, Mrs Kneeshaw mit atemloser Stimme von dem Brief ihres Sohnes Reginald.

Sein Infanterietrupp ist in Ägypten angekommen!

»Er sagt, der Kanal sei nur 30 Meter breit … und kilometerweit sei kaum ein Baum zu sehen. Man könnte glauben, man sei in der Umgebung von Broken Hill.« Sie wischt sich eine Schweißperle vom Nasenrücken und fächelt sich wieder Luft zu. »Sie sind in der Nähe des Ortes, an dem die Kinder Israels das Rote Meer durchschritten haben sollen.« Ihr Strohhut flimmert bei dieser Nachricht im Sonnenlicht; sie hat ihn extra für diesen Picknickausflug im Textilgeschäft in der Argent Street gekauft.

Mrs Rasp ist weiß wie Mehl, groß und unförmig, so wie ihre Gedanken und plumpen Äußerungen. Als Vorsitzende der League of the Helping Hand betrachtet sie die Meinungen anderer mit jener Gleichgültigkeit, die man häufig mit einem Doppelnamen verbindet. Ihr runder Kopf sticht unter dem strohblonden Haarkranz hervor. »Er möchte, dass ich ihm eine Sturmmütze für die Nacht schicke, da er im europäischen Winter wahrscheinlich eisigen Temperaturen ausgesetzt ist«, sagt sie, darauf bedacht, Mrs Kneeshaws Aufmerksamkeit nicht zu verlieren.

Die sitzt ihr in einem rosafarbenen Seidenkleid stumm gegenüber, hält schützend ihre Hand über die zusammengekniffenen Augen und sagt nichts.

Winifred Kneeshaw betreibt seit September die Teestube des Roten Kreuzes in der Argent Street. Sie ist eine elegante Frau, die ihre Ausbildung beim Ortsverband des Roten Kreuzes abgeschlossen und eine Urkunde für ihre Kenntnisse im Sanitätswesen erworben hat – später wird sie sagen, sie hätte nicht gedacht, ihr Wissen so schnell einsetzen zu müssen. In der Hitze fällt es ihr schwer, ihre Aufmerksamkeit Reginald Rasp in Ägypten zu schenken.

Dies ist ein Tag, einmal nicht an die Abwesenden zu denken und die leidigen Gedanken an den Krieg beiseite zu schieben. Jeden Moment wird ein schriller Pfiff ertönen, und der Zug wird schnaubend aus dem Bahnhof rollen, nicht um seine gut gelaunte Fracht nach Adelaide und von dort über den Indischen Ozean nach Suez zu bringen, sondern vierzehn Meilen in nordwestlicher Richtung, entlang der Schmalspurstrecke nach Silverton.

Der Neujahrstag ist der Tag des Manchester Unity Independent Order of Oddfellows, einer gemeinnützigen Loge, und das von ihr veranstaltete Picknick ist das größte gesellschaftliche Ereignis des Jahres in Broken Hill. Der heutige Tag gehört denjenigen, die zurückgeblieben sind, zumindest was Mrs Kneeshaw hinter ihren abschirmenden Fingern betrifft. Eine Gelegenheit für alle zusammenzukommen und, nach einer Zeit der schwersten Prüfung in der Geschichte der Stadt, ihren Gemeinschaftssinn zu demonstrieren.

Sechzehn Jahre lang wurden die in Broken Hill geschürften Metalle mit der Eisenbahn nach Port Pirie transportiert und von dort nach Freiberg in Sachsen verschifft, dem »Mekka der Erze«, um daraus Kugeln für die Gewehre des Kaisers zu fertigen. Aber Australien befindet sich im Krieg mit Deutschland. Seit fünf Monaten türmen sich Berge von Zink- und Bleikonzentrat unberührt auf dem Gelände. Verlassen, genauso wie der German Club in der Delamore Street.

»Ich wünschte, wir könnten uns etwas von Reggies kühlem Wetter borgen«, murmelt Mrs Kneeshaw und wischt sich mit dem Saum ihres Kleids das Auge, wobei sie Mr Dowter, der aufrecht wie in der Kirchenbank neben Mrs Rasp sitzt, einen Blick auf ihren leuchtend weißen Unterrock gewährt.

Um nicht durch ein rasches Wegdrehen auf sich aufmerksam zu machen, blickt Clarence Dowter weiter starr und mit geschürzten Lippen in Richtung der hervorschauenden Unterwäsche von Mrs Kneeshaw. Er ist der Hygieneaufseher der Stadt und hat sich bereiterklärt, beim 75-Meter-Lauf der Frauen auf dem Picknickgelände als Schiedsrichter zu fungieren. Ein kleiner, traurig dreinblickender Ire mit heruntergezogenen Mundwinkeln, die Stirn so verbeult wie sein Homburg, einem Schopf blauschwarzen Haars, das einen seltsamen Kontrast zu seinem spärlichen, viel helleren Bart bildet, und schmalen grauen Augen, denen nichts entgeht. In der brennenden Sonne scheint sein ausgehöhltes Gesicht jeden Moment zu zerfließen. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, klopft er mit seiner Zigarette auf sein Silberetui, um nach einer für ausreichend befundenen Zeitspanne den Blick auf Mrs Lakovskys Baby zu richten.

»Verausgab dich nicht, Mann!«

Mrs Rasp sieht sich mit offenem Mund um, um festzustellen, wen Roy Sleath, der Sohn des Polizisten, auf sich aufmerksam machen möchte.

Es ist nicht schwer, den jungen Mann zu erkennen, der elegant an Bord springt, eine prall gefüllte Papiertüte unter den Arm geklemmt. Er ist einer der athletischeren Typen unter den Bergarbeitern von Broken Hill, schlaksig, mit rotblondem Haar und einer spitzen Nase.

»He, Ollie, hier drüben!«

Doch der Angesprochene winkt nur ab und bleibt vor Lizzie Filwell stehen, einer blassen Vierzehnjährigen mit dunkelbraunen Haaren und frühzeitig zerfurchter Stirn, und öffnet ihre Hand. Dann lässt er zum sichtlichen Entzücken des Mädchens einen gelben Pfirsich hineinfallen. Er plaudert mit ihren Eltern, die links und rechts von ihr sitzen, sieht sich kurz um, verschwindet für einen Moment aus dem Blickfeld, taucht dann hoch aufgerichtet vor Roy auf, stupst ihn unters Kinn und geht weiter.

Für Lizzies ältere Schwester Rosalind, die im gleichen Wagen sitzt, verspricht der Tag ein bedeutsames Ereignis.

Rosalind trägt ein weißes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reicht, die sie sich, genau wie ihre Hände und Füße, zierlicher wünschte, dazu einen granatapfelfarbenen Filzhut mit einem Schleier aus Musselin zum Schutz vor der Sonne und den Fliegen. Ihr dichtes schwarzes Haar ist über ihrem ovalen Gesicht zu einem französischen Knoten gesteckt. Die tief sitzenden, haselnussbraunen Augen liegen im Schatten, sodass ihr Gesicht je nach Lichteinfall attraktiv oder unauffällig wirkt. Als sie Oliver Goodmore fixieren, den Mann, der durch die Menge auf sie zukommt, sieht sie müde aus.

Einen Monat vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag ist Rosalind überzeugt, dass Oliver die Ereignisse dieses Nachmittags – das Picknick unter den Pfefferbäumen, das Verteilen von Puppen und Lutschern, die Laufwettbewerbe (bei denen man glänzende Leistungen von ihm erwartet) – nutzen wird, mit ihr am ausgetrockneten Flussbett entlang zu gehen, wo es keine starke Brise und keinen aufgewirbelten Staub gibt, um ihr einen Antrag zu machen.

Sie weiß es deshalb, weil ihre beste Freundin Mary Brodribb, die ihr gerade vom nächsten Wagen aus zugewinkt hat, Oliver persönlich dabei behilflich war, in Harveys Schmuckgeschäft den Verlobungsring auszusuchen.

Aber will Rosalind das überhaupt?

Sie sieht zu ihm auf, wie er blinzelnd auf sie herablächelt, mit dem schmalkrempigen Hut und dem tief ausgeschnittenen Flanellhemd seine Haut der grellen Sonne aussetzt. Er hat einen Fahrschein für die zweite Klasse, aber er benimmt sich, als säße er in der ersten.

Er schwingt ein Bein über das Holzbrett, das Mrs Rasp zuvor mit ihrem Fächer von Staub befreit hat, und hält ihr seine Papiertüte hin. »He, Ros, steck die in deinen Korb, ja, wie ich mich kenne, lass ich sie sowieso nur fallen.«

Während ihre Hände damit beschäftigt sind, seine Pfirsiche und Äpfel zu verstauen, streckt er seine Hand aus und streicht mit seinem dicken Zeigefinger, dessen Nagel ein Trauerrand ziert, über ihre Wange.

»Hast du an Toms Motorrad herumgeschraubt?«

Er antwortet nicht und scheint über irgendetwas verwundert.

»Ich habe dort drüben nach dir gesucht«, sagt er und zwängt sich neben sie auf die provisorische Holzbank. »Ich dachte, du wärst bei Lizzie.«

2

Rosalind war früh aufgestanden, nachdem ein Hund sie geweckt hatte. Sie hatte im Bett gelegen und dem lauter und wieder schwächer werdenden Jaulen gelauscht. Bei Tag ein harmloses Geräusch, durchfuhr sie das Geheul jetzt wie die geisterhafte Stimme ihres Bruders und peitschte ihre Gedanken in der Hitze des kleinen Schlafzimmers zu einem Strom wirrer Ängste auf, der sie donnernd davontrug.

Sie schlug das Laken zurück und schlüpfte aus dem Bett. Ihr Schatten folgte ihr über die Dielen, während sie sich vorsichtig durch das Zimmer tastete, vorbei an dem Nachttopf, den ihr Vater ersteigert hatte, als Ratsherr Turbill nach Adelaide ging, um den mit Bändern und Tüchern geschmückten Beistelltisch herum, der sogar einen eigenen Spiegel hatte – ovalförmig in einem Silberrahmen, an dem eine unbenutzte Handtasche, ein Erbstück ihrer Großmutter, hing –, und weiter bis ans Fenster. Rosalind stieß es ein Stück auf und sog unwillkürlich die Luft ein. Sie roch nach Salzbusch und erinnerte sie daran, wie fremdartig die Gerüche der Nacht im Vergleich zu denen des Tages waren und mehr mit dem Heulen gemein hatten, das von jenseits der Halde zu ihr herüberdrang.

Immer wenn Rosalind aus dem Schlafzimmer blickte, das sie bis zu seinem Tod vor drei Jahren mit William geteilt hatte und seither mit ihrer jüngeren Schwester Lizzie teilte, die im Schlaf in ihrem schmalen Bett vor sich hin murmelte, ragte dort, sechshundert Meter weit entfernt, der Schlackeberg empor. Er thronte über der Stadt wie ein riesiger Schlapphut, der einen weiten, unliebsamen Schatten warf.

Normalerweise wäre die gigantische Abraumhalde ein Schutzwall für Rosalinds irrlichternde Gedanken gewesen. Aber ihre Gedanken gehorchten ihr nicht. Sie starrte auf die schwarze Silhouette und spürte eine verwirrende Anziehungskraft. Als ob der Berg seine dunklen Hände nach ihr ausstreckte und ihren Schatten mit dem seinen verschmelzen wollte.

Rosalind hatte ihn oft bei Tageslicht bestiegen – mit Oliver, und zuvor mit William. Von oben blickte man auf Broken Hill wie auf eine Spielzeugstadt herab.

Sie sah sich zwischen den rauchenden Schloten hindurch hinabschauen: auf das Haus ihrer Eltern in der Rakow Street, die Wiese mit den Milchkühen und dem kaputten Gespann, über die verzinkten Dächer und einfachen Hütten von North Broken Hill, über die auf Winkeleisen thronenden Wassertanks, die aussahen, als wollten sie losmarschieren, über die von einer Kamelkarawane aufgeworfene Staubwolke, über den mit Salzbüschen und Schlangenkraut bewachsenen roten sandigen Lehmboden hinweg, Meile um Meile, bis nach Silverton. Dies waren Umfang und Begrenzung ihrer Welt, eingezwängt zwischen dem Umberumberka Creek in Silverton, wo die Morgendämmerung über dem trockenen und öden Tafelland heraufzog wie – womit hatte er es noch verglichen? – zwei leuchtende Ochsenhäute, und dem Schlackeberg, der sich finster über die Straßen erhob.

Es war in der Tat eine trostlose Welt. Die einzige Abwechslung im monotonen Einerlei der Tage war die Eisenbahn.

Sydney befand sich 2327 Eisenbahnkilometer entfernt, und die Fahrt über Adelaide, Melbourne und Albury kostete genauso viel wie die Schiffspassage nach London. Wahrscheinlich würde sie das Meer ein Leben lang nur als Fata Morgana sehen.

Auf der gestreiften Tapete zeichnete sich der Schatten ihrer Brüste unter dem eng anliegenden Nachthemd ab.

Williams Abwesenheit hatte ein Gefühl der Rebellion in ihr ausgelöst. Seit seinem Tod fürchtete sie alles und nichts.

Ihre Finger drückten den Fensterknauf, bis es schmerzte. All diese dummen Fragen, wen sie heiraten werde. Komm zur Vernunft, Rosalind. Ihre bloß geflüsterten Worte in der Dunkelheit lösten ein Zucken im Bett hinter ihr aus.

Plötzlich wollte sie verschwinden. Nicht mehr hier sein, in diesem Zimmer, mit ihrem Schatten an der Wand und Lizzies Stöhnen, das sie stets dann hören ließ, wenn ihre Blase voll war. Schon zwei Mal hatte Rosalind ihre Schwester in dieser Nacht geweckt und ihr auf den Nachttopf geholfen.

In ihrem Schmerz um William schienen die Eltern Lizzies Handikaps vergessen zu haben. Die Verantwortung lag nun ganz bei Rosalind. Aber sosehr Rosalind ihre kleine Schwester auch liebte, sie wollte fort.

Wenn sie nur mit einem der Sterne am Himmel tauschen könnte.

Sie betrachtete sich als ebenso entwickelt wie sie. Sie wusste, was sie wollte. Sie wusste, dass man nichts geschenkt bekam, kannte alle Preise im Textilgeschäft von Stack & Tyndall’s, wo sie hinter der Ladentheke stand. Sie konnte sich ihre Zukunft mit Oliver ausmalen. Dazu bedurfte es nicht viel Phantasie. Selbst Lizzie hätte es in einer ihrer normalen Phasen gekonnt.

Sie drehte sich, und ihr Schatten bewegte sich mit. Die anderen Frauen sagten ihr immer wieder, dass sie eine gute Figur habe. Rosalind wagte nicht, darüber nachzudenken, was das bedeutete.

Sie hielt den Fensterknauf noch immer umklammert und beugte sich nach vorn, von einem anderen Gedanken geschüttelt: wie seine rauen Finger sie berührten und ihre Körper Nacht für Nacht zusammenkamen.

Ihre Gedanken bäumten sich auf, und sie riss sich zusammen. Es war furchtbar, sich in einem Zustand solcher Verwirrung zu befinden.

Die Sterne glitzerten im Wassertrog vor dem Freiberg Arms Hotel und auf den dahinter verlaufenden Gleisen. Ihr Blick folgte dem eisernen Schienenstrang entlang der Gartenzäune in Richtung des Picton Viehmarkts. Die Gleise verliefen parallel zum Bogen des Grabens, durch den die hölzerne Wasserleitung nach Silverton lief.

Der Zug war die einzige Möglichkeit hier rauszukommen. Entweder das, oder man tauchte hinab in die Erde.

Zu Williams Lebzeiten hätte sie wahrscheinlich eine lange Schlange von Männern gesehen, die, wie Bergarbeiter überall auf der Welt, mit gesenkten Köpfen vorbeiliefen, bereit für den Abstieg in die Dunkelheit. An diesem Morgen lag die Rakow Street still und verlassen da. Seit August arbeiteten die Minen nur noch halbtags. Die Gegenwart so vieler arbeitsloser Männer auf den Bürgersteigen, in den Bars und Pensionen, ohne Hoffnung auf Arbeit, es sei denn, sie meldeten sich als Soldaten, war verstörend. Miss Pollock hatte ihnen beigebracht, dass die Aborigines diese Gegend Willyama nannten, was Jugend bedeutete. Einst war dies eine Stadt der Prospektoren gewesen, die nach Erzadern suchten und diese auch fanden. Jetzt gab es für einen jungen Menschen in Broken Hill nichts mehr zu tun, außer zu sterben oder fortzugehen. Oder mit dem Schiff nach Suez zu fahren.

Oliver war einer der Glücklichen und verdiente sechs