Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen ist die heute als klassisch geltende Sammlung von Lesestücken, mit der dem Autor etwas für seine und unsere Zeit Einmaliges gelungen ist: auf lakonische, fast emotionslose, genau beobachtende und dabei dennoch anrührende Weise alltägliche Begebenheiten aufzuzeichnen und ihnen Geschichten zu »entnehmen«, von denen jede die Welthaftigkeit und Tiefe eines Epos besitzt.

»Peter Bichsel ist ein Poet. Das wußte man schon nach seinem ersten Buch«, erinnert sich Max Frisch 1981, auf die 1964 erstmals erschienenen Geschichten anspielend, die gewissermaßen über Nacht den Ruhm von Peter Bichsel begründeten.

Peter Bichsel, geboren 1935 in Luzern, lebt in Solothurn. 2012 erhielt er den Großen Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Zuletzt erschienen: Über das Wetter reden. Kolumnen 2012-2015, Mit freundlichen Grüßen (2015) und Das ist schnell gesagt (st 4294).

Peter Bichsel

Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen

21 Geschichten

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 10. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 2567.

© Walter-Verlag AG, Olten 1964

Alle Rechte beim Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

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Umschlagfoto: Isolde Ohlbaum

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74555-7

www.suhrkamp.de

INHALT

Stockwerke

Die Männer

Blumen

Pfingstrosen

November

Die Löwen

Musikdosen

Holzwolle

Sein Abend

Der Milchmann

Herr Gigon

Die Beamten

Vom Meer

Das Messer

San Salvador

Das Kartenspiel

Der Tierfreund

Die Tante

Die Tochter

Roman

Erklärung

STOCKWERKE

Behelfsmäßig kann man sich ein Haus vorstellen, ein Haus mit vier Stockwerken, mit einer Treppe, die sie verbindet und trennt, mit einem Ziegeldach; ein Haus an einer Straße, auf teurem Boden hineingezwängt zwischen andere, die Fenster gegen die Straße gerichtet, den Eingang im Hinterhof.

Im Parterre würde niemand wohnen. Man hat noch nie jemanden gesehen im Parterre. Im Parterre ist dieselbe braune Tür, gesprungener Lack, Milchglasscheiben, blaugestreifte Vorhänge. Im Parterre wohnt vielleicht niemand.

Erster Stock: Braune Tür, gesprungener Lack, Milchglasscheibe. Hier wohnt jemand.

Zweiter Stock: Hier wohnt auch jemand.

Und im dritten Stock wohnt jemand.

Wenn jemand auszieht, zieht jemand ein.

Am ersten Tag riecht man es, riecht man die Vorliebe für Knoblauch oder den Ölgeruch des Mechanikers oder das Sägemehl des Schreiners, später vielleicht noch den Windelgeruch der Kleinen, aber dann, am dritten Tag schon, gehört der Geruch dem Haus, ist es wieder das Haus mit den vier Stockwerken.

Im zweiten Stock wohnt wieder jemand.

Die Türschildchen werden gewechselt.

Ein Telefonmonteur öffnet das Kästchen unten im Gang, ändert den Anschluß und flucht und ändert ihn noch einmal und geht.

Vielleicht wohnt im Parterre doch jemand.

Im Frühling, am 4. April zum Beispiel, wirft die Sonne eine Zeichnung auf die Treppe zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk, es ist dieselbe wie letztes Jahr.

Das Mädchen vom dritten Stock klopft im zweiten Stock und bittet die Frau höflich und schüchtern, ob es den Ball haben dürfe, der ihm vom dritten Stock auf den Balkon des zweiten Stocks gefallen sei.

Der Dachboden ist mit Latten unterteilt, jedes Stockwerk hat ein Abteil, jedes Abteil ist mit einem Vorhängeschloß gesichert, sicher werden hier auch alte Matratzen aufbewahrt, Fotoalben und Tagebücher, Spiegel.

Jemand kehrt den Dachboden alle zwei Wochen.

Hausierer pflegen zuerst im obersten Stock zu läuten. Nachdem sie gefragt haben, ob weiter oben noch jemand wohne, gehen sie hinunter, läuten im zweiten Stock, dann im ersten, dann im Parterre. Die Hoffnung macht das Treppensteigen leichter und enttäuscht kann man nur hinuntergehen. Hausierer haben mit Häusern zu tun.

Förster haben mit dem Wald zu tun. Frauen haben mit dem Warten zu tun.

Häuser sind Häuser.

DIE MÄNNER