Bernd Kaufholz

Der Würger im Strohsack

Authentische Kriminalfälle

mitteldeutscher verlag

Inhalt

Cover

Titel

Vorwort

4.240 Gramm

Der tote Lehrer im Wald

Der Mann ohne Gesicht

Tödliche Begierde

Der Sadist

Die Tote im Pavillon

Tödliches Dreieck

Der Würger im Strohsack

Der Gasmörder von Burg

Glossar

Zuletzt erschienen

Impressum

Vorwort

Zum dritten Mal sind Adalbert Winter und seine Leute von der Magdeburger Bezirksmordkommission unterwegs, um spektakuläre Morde zwischen Seehausen in der Altmark und Benneckenstein im Harz aufzuklären. Diesmal sind es die Jahre 1963 bis 1972, in denen die Ermittler Zeugen befragen, Kriminaltechniker jede noch so kleine Spur untersuchen, Verhörspezialisten Tatverdächtigen auf den Zahn fühlen und Rechtsmediziner sowie Psychiater versuchen, Licht in neun spektakuläre Fälle zu bringen, die in Magdeburg, Oschersleben Genthin, Burg, Stendal, Klötze und Zerbst die Menschen erschütterten.

Und trotz der aus heutiger Sicht einfachen Möglichkeiten, die es damals speziell auf dem Gebiet der Kriminaltechnik/​-wissenschaft gab – der genetische Fingerabdruck war noch nicht „erfunden“ – klärten die Mordermittler beinahe jedes Tötungsdelikt auf.

Bekannte Namen, die bereits aus den beiden vorausgegangenen Büchern mit authentischen Kriminalfällen („Der Beilschlächter von Osterwieck“, 2007, und „Der Muttermörder mit dem Schal“, 2008) bekannt sind, begegnen den Lesern erneut. Andere Kriminalisten aus den Kreisen tauchen zum ersten Mal auf. Die Ermittler, Staatsanwälte und Richter sind mit Klarnamen aufgeführt. Bei den Tätern wurden die Nachnamen hingegen frei erfunden.

Breiten Raum in diesem Buch nimmt der Lehrermord von 1964 im Kreis Burg ein. Er gehörte bereits in der DDR zu den Fällen, die in Polizeischriften und Psychiatrieblättern breit dargestellt wurden, weil sie nicht zur Norm der Tötungsdelikte gehörten. Der Täter war erst 15 Jahre alt. Mord von gerade Strafmündigen gehörte damals zu den ganz seltenen Fällen – was sich bis heute nicht geändert hat.

Oft werde ich gefragt, warum ich die alten Fälle aus DDR-Zeiten wieder „ausgrabe“? Darauf gibt es drei Antworten: Zum Ersten geht es mir darum, auf Fälle aufmerksam zu machen, die zwar von Mund zu Mund gingen – was oft zur Legendenbildung beitrug – über die jedoch kaum zuverlässig berichtet wurde. Zum Zweiten möchte ich zeigen, mit welchen Mitteln, Methoden und mit welcher Akribie die Kriminalisten zu dieser Zeit ihre Fälle lösten.

Das dritte Anliegen hat meine Eichsfelder Kollegin, die Diplomjournalistin Christine Bose, in ihrer Rezension zum „Muttermörder“-Band auf den Punkt gebracht: „Schon heute kann das Buch als (DDR-)Geschichtsdokument angesehen werden, findet doch der Leser darin Alltagssituationen dargestellt, die jetzt bereits kaum noch denkbar sind: So wurde viel mehr gelaufen, geradelt, auch Moped gefahren, ganz einfach deshalb, weil den meisten Bürgern kein PKW zur Verfügung stand. Für jugendliche Leser mag es seltsam erscheinen, dass Nachbarn oder auch Fremde, um telefonisch die Polizei zu rufen, zunächst dorthin laufen mussten, wo es ein Telefon gab: Das befand sich, außer in einer Telefonzelle beispielsweise in einer Gaststätte oder einem Betrieb.“

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.

Hinweis: Die mit Sternchen (*) versehenen Namen in den Geschichten wurden geändert.

4.240 Gramm

Hier ist ein Umschlag von der Staatsanwaltschaft für Sie, Genosse Hauptmann.“ Mit diesen Worten legt der Diensthabende im Magdeburger Polizeikreisamt dem Arbeitsgruppenleiter AK 3 am Nachmittag des 19. Juni 1963 einen braunen A4-Umschlag auf den Schreibtisch. Kripohauptmann Müller öffnet das Couvert und schaut sich die Unterlagen an. Darunter ist ein Obduktionsbericht der Gerichtlichen Medizin der Medizinischen Akademie. Auf acht Seiten haben Oberarzt Dr. Friedrich Wolff und Assistenzärztin Dr. Margot Laufer die Ergebnisse der Öffnung der Leiche eines drei Monate alten Kindes notiert.

Und was der erfahrene Kriminalist liest, lässt ihn nicht kalt. Einige Worte und Sätze unterstreicht er: „Reduzierter Ernährungszustand“, „erheblich verschmutzt“, „ungepflegter Eindruck“, „Unterkörper in hohem Maße verunreinigt“, „Fettpolster an der Brust- und Bauchhaut nur schwach entwickelt“. Dann der entscheidende Satz: „Die Sektion allein ergab keinen Anhalt für eine sichere Todesursache, insbesondere nicht für einen natürlichen Tod auf Grund eindeutiger Organbefunde. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich jedoch um die Folgen einer erheblichen Vernachlässigung des Säuglings im Hinblick auf Wartung und Ernährung.“

„4.240 Gramm Gewicht“, schüttelt Müller den Kopf. Eigentlich hätten es fast 1.800 Gramm mehr sein müssen, entnimmt er dem Protokoll. „Erheblich reduzierter Ernährungszustand (Dystrophie).“

Und bevor er es noch schwarz auf weiß auf Seite 7 liest, denkt der Kriminalist: „Gewaltsame Einwirkung in Form einer Kindesvernachlässigung liegt vor – keine Frage.“

Dann schaut er sich die Fotos an, die vor der Obduktion vom Leichnam gemacht wurden. Sie zeigen einen kleinen Jungen mit tief eingesunkenen Augen und fast schwarzen Augenringen, einem faltigen Hals wie bei einem alten Mann und eine deutlich sichtbare Einschnürung oberhalb des Bauchnabels.

Dann liest Müller das Anschreiben von Staatsanwalt Rudolph: „Hiermit weise ich an, in der Sache Klaus Birr* sofort Ermittlungen aufzunehmen und ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlagsverdachts und Vernachlässigung der Fürsorgepflicht einzuleiten. Die Bekleidung des Kindes befindet sich noch bei der Staatsanwaltschaft und ist von dort abzuholen. Personalien des verstorbenen Kindes sind noch nicht bekannt.“

Eine Woche zuvor. In der Nacht vom 11. zum 12. Juni weint Klaus, der jüngste Nachwuchs der nunmehr sechsköpfigen Familie, beinahe ununterbrochen. Gegen 3 Uhr steht Hanna Birr* auf und misst Fieber. Das Quecksilber steigt sofort auf über 40 Grad „Du, Klaus hat Fieber“, ruft die 24-Jährige ihrem Ehemann zu. Doch Joachim Birr* dreht sich nur grunzend auf die andere Seite und schläft weiter. „Typisch“, ärgert sich die junge Frau. „Hauptsache der hat seine Ruhe und kann schlafen.“

Die Ehe ist schon seit einiger Zeit zerrüttet. Immer öfter gibt es Streit. Joachim Birr wirft seiner Ehefrau vor, sich mit anderen Männern herumzutreiben. Kurz nach den Osterfeiertagen hatte seine Vermutung erneut Nahrung bekommen. Im Briefkasten lag ein mit „Adolf“ unterzeichnetes Schreiben, das an seine Frau adressiert war. Darin bat der Absender um ein Foto und fragte, warum Hanna ihm nicht auf seinen ersten Brief geantwortet hätte. Von dem Schreiben hatte die 24-Jährige nichts erfahren, denn Joachim Birr hatte das Schriftstück behalten.

Zur Eifersucht des Ehemannes gesellt sich chronische Geldnot, weil der 27-Jährige auf Grund seiner häufigen Fehlstunden schon einige Male entlassen wurde.

Hanna Birr holt Tücher und hält sie unter kaltes Wasser. Sie macht dem Kind, dessen Kopf hochrot ist, Wadenwickel. Dabei kommt ihr der letzte Streit wieder in den Sinn. Ihr Ehemann hatte geschimpft: „Der Junge ist doch sowieso nicht von mir, und ich muss ihn trotzdem durchfüttern.“

Auf einmal glaubt die 24-Jährige einen Ausweg aus ihrer ehelichen und finanziellen Misere gefunden zu haben: „Das Kind muss weg. Dann klappt es auch wieder mit Joachim. Dann können wir die ganzen Sachen auslösen, die wir in den letzten Monaten auf die Pfandleihe geschafft haben.“ Sie entschließt sich, mit dem Kind nicht zum Arzt zu gehen, sondern es einfach sterben zu lassen.

Einen Überblick über die vielen Pfandscheine, die sie in einer kleinen Kiste aufbewahrt, hat sie schon lange nicht mehr. Seit Oktober 1962 hat sie alles, was sich zu Geld machen ließ, versetzt: Wäsche, Bekleidung Federbetten, Tischdecken, ein 24-teiliges Besteck, sogar ihren Regenschirm, zuletzt im Mai und Juni dieses Jahres zwei Anzüge ihres Mannes – insgesamt 45 Pfandbelege. An manchen Tagen ging Hanna Birr zuerst zur Pfandleihe, ehe sie den Kindern Milch kaufen konnte.

Entsprechend sieht die Eineinhalbzimmerwohnung im ersten Stock der Magdeburger Materlikstraße aus. Da die Familie seit Monaten kein Gas- und Stromgeld bezahlt hat, wurden die Anschlüsse gesperrt. Die Kochstelle ist ein so genannter Allesbrenner in der Küche – neben einem alten Eisenherd der einzige Einrichtungsgegenstand in diesem Raum.

Ihr Schlafzimmer haben die Birrs schon vor einigen Monaten an einen Altwarenhändler verkauft. Damit sie nicht auf dem Fußboden schlafen müssen, hatte ihnen der Mann ein altes Eisen- und ein Holzbett billig überlassen. Ein Draht- und ein Kleinstkinderbett sowie ein Vertiko, eine Wäschetruhe, ein Wäschekorb und ein Regal vervollständigen die Einrichtung des zwölf Quadratmeter großen Raums.

„Wenn Klaus weg ist, haben wir ja immer noch drei Kinder“, versucht die junge Frau ihr Gewissen zu beruhigen. „Die haben es dann besser.“

Am nächsten Morgen ist das Fieber des Babys nicht mehr ganz so hoch wie in der Nacht. Doch trinkt es weniger als üblich aus der Flasche – erst die Hälfte, dann kaum noch. Zumeist liegt der kleine Junge in einer Art Dämmerzustand in seinem Bettchen.

„Du musst mit Klaus zum Arzt gehen, wenn es ihm nicht gut geht“, sagt Joachim Birr an diesem Tag seiner Frau. „Und was soll ich mit den anderen drei machen?“, fragt sie. „Auf die kann meine Mutter aufpassen“, antwortet ihr Mann. Doch das will Hanna Birr nicht. Sie schüttelt den Kopf: „Du weißt doch, dass deine Mutter immer dann etwas vor hat, wenn sie mir mal die Kinder abnehmen soll. Wie damals, als ich zum Zahnarzt die Kinder mitnehmen musste, weil deine Mutter keine Zeit hatte, aufzupassen. Bleib du doch mal zu Hause.“

Das jedoch lehnt ihr Ehemann kategorisch ab. Ihm war vor einiger Zeit vom Wasserwerk wegen Arbeitsbummelei gekündigt worden und nur der Fürsprache seiner Frau hatte er es zu verdanken, dass er wieder eingestellt wurde. Mit harten Auflagen. „Dann musst du die Kinder eben mit zum Arzt nehmen“, will er das Gespräch beenden. „Dann gehe ich nicht“, fährt ihn seine Ehefrau an.

Nachdem ihr Mann aus dem Haus ist, hört Hanna Birr auf, das Kind sauber zu machen und zu windeln. Sie weiß, dass das Baby nicht mehr lange leben wird. Es ist nur noch ein Schatten seiner selbst.

Als ihr Mann abends von der Arbeit kommt, fragt er, ob sie beim Kinderarzt war. „Klaus hat ganz ruhig geschlafen“, verneint sie. „Das wird schon wieder.“

Hanna Birr ist mit ihrem Leben schon lange nicht mehr zufrieden. In den zurückliegenden Wochen ist sie beinahe jeden Abend aus ihrer ungemütlichen Wohnung geflüchtet, in der sie doch nur alleine war, weil ihr Mann erst spätabends und dann oft angetrunken aus der HO-Gaststätte „Express“ nach Hause kam. Sie spazierte häufig bis Mitternacht am Schleinufer, an der Elbe oder den Fürstenwall entlang.

Männerbekanntschaften suchte sie eigentlich nicht, aber als Mitte Juni ein Pkw-Fahrer anhielt und sie ansprach, war sie nicht abgeneigt. Als der Mann in den Vierzigern gegen 21.30 Uhr sein Auto neben ihr parkte, stand die 24-Jährige an der Mauer des Reichsbahndirektionsgebäudes, unweit der Elbe. „Bist du lebensmüde? Willst du ins Wasser gehen?“, fragte er sie.

Sie kamen ins Gespräch und die junge Frau erzählte, dass sie abends immer allein sei. „Dann können wir uns ja mal wiedersehen“, sagte der Kavalier. Doch Hanna Birr meinte nur, dass sie für vier Kinder sorgen müsse und immer erst abends die Wohnung verlassen könne, wenn die Kinder schliefen. Ob sie vielleicht am Alten Markt einkaufen gehe, wollte der Mann wissen. Und man sich nicht dort mal treffen könnte.

Am 21. Juni 1963 war es zufällig wirklich zu einem Zusammentreffen gekommen. Als Hanna Birr den kleinen Konsum schräg gegenüber dem historischen Rathaus verließ, stand plötzlich die Schleinufer-Bekanntschaft vor ihr. Die beiden sprachen eine Weile miteinander und der Mann fragte die 24-Jährige, ob sie sich am nächsten Dienstag gegen 21 Uhr an der Elbe treffen wollen. Die junge Frau sagte zu. Sie hoffte darauf, sich aussprechen zu können – über ihre familiären Probleme, ihre Geldsorgen … Doch dazu war es nicht mehr gekommen.

Am 14. Juni geht Hanna Birr zum Wasserwerk in Magdeburg-Buckau, wo ihr Mann arbeitet. Sie verlangt vom Lohnbuchhalter die Kindergeldkarte. „Ich ziehe mit den Kindern zu meinen Eltern in den Kreis Wanzleben. Ich will mich scheiden lassen“, erklärt sie. „Mein Mann verbraucht das Kindergeld ja doch nur für sich.“ Franz Stranitzky* kennt die junge Frau. Sie hat schon öfter bei ihm vorgesprochen. Und er weiß, dass die Familie ständig Geldsorgen hat. Er gibt ihr die Kindergeldbescheinigung und 80 Mark Kindergeld.

Zwei Tage zuvor hatte Hanna Birr 50 Mark Abschlag vom Lohn ihres Mannes haben wollen. „Der ist vom Saufen gekommen – ohne sein Fahrrad – ich muss jetzt eine neues kaufen“, lautete ihre fadenscheinige Begründung. Doch Geld hatte sie nicht bekommen.

Am 13. Juni war sie mit einer Vollmacht ihres Mannes aufgetaucht und wollte 30 Mark haben. Als der Buchhalter nach den Gründen für die leere Kasse fragte, antwortete die Bittstellerin, dass sie ihr Ehemann zu knapp halte und sie sogar zu Leuten schicke, um Geld zu borgen. Stranitzky versprach ihr, mit der Betriebsgewerkschaftsleitung zu sprechen, damit ihr der Lohn ihres Mannes ausgezahlt wird.

Als die 24-Jährige am Nachmittag des 14. Juni wieder nach Hause kommt, liegt Klaus im Sterben. Sie stellt sich vor das Bett und sieht zu, wie der erst drei Monate alte Junge noch einige Male nach Luft schnappt und dann mit weit aufgerissenen Augen an die Zimmerdecke starrt.

Die 24-Jährige nimmt das tote Kind aus dem Bett, geht damit auf den Hausflur und ruft laut nach ihrer Schwiegermutter, die im selben Haus wohnt. Doch die ist nicht daheim. Nur eine Nachbarin öffnet ihre Wohnungstür. „Mein Kind ist gestorben“, zeigt sie das kleine Bündel vor. „Dann musst du einen Arzt rufen, wegen des Totenscheins“, sagt die Frau.

Um 18.30 Uhr erscheint Dr. Herbert Frohse* in der Materlikstraße und stellt den Totenschein aus. Dem Arzt fällt nichts Besonderes an der kleinen Leiche auf. Doch der Sanitätsrat benutzt einen falschen Vordruck. Das bemerkt eine Standesbeamtin, die darauf umgehend Petra Dörries* von der Abteilung Mutter und Kind beim Rat der Stadt Magdeburg informiert. „Die Oma des Kindes hat uns den Totenschein gebracht“, merkt die Mitarbeiterin des Standesamts noch an, „und dabei hat sie sich so komisch geäußert: Wir sollten uns das Kind mal genauer ansehen.“

Dörries setzt sich sofort mit dem Arzt in Verbindung und veranlasst die Überführung der Leiche zur Pathologie der Medizinischen Akademie. An der Obduktion nimmt wegen des Anfangsverdachts auf Dystrophie (Ernährungsstörung) auf Grund von Kindesvernachlässigung ein Staatsanwalt teil. Im neuen Totenschein vom 17. Juni 1963 wird als Todesursache Dystrophie und Exsikkose (Austrocknung) angegeben. Gegen Hanna Birr wird ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags eröffnet.

Die 24-Jährige stammt aus der Börde. Nach der 8. Klasse lernte sie ein Jahr lang das Nähen bei einer Schneidermeisterin in Eilsleben, Kreis Wanzleben. 1953 begann die junge Frau bei der Konsumgenossenschaft Wanzleben eine zweijährige Lehre als Verkäuferin.

Das erste Mal mit dem Gesetz in Konflikt kam Birr 1957. Sie leitete damals den kleinen Lebensmittelkonsum in Gehringsdorf im Kreis Wanzleben. Gleich bei der ersten Inventur wurde ein Fehlbetrag von 8.000 Mark festgestellt. Der Fall wurde angezeigt und das Kreisgericht Wanzleben verurteilte sie zu einer Haftstrafe von neun Monaten. Außerdem wurde sie in Höhe von 1.700 Mark in Regress genommen. Nach sieben Monaten öffneten sich für die Frau die Tore des Halberstädter Gefängnisses wieder.

Ihren Ehemann lernte sie 1958 bei einer Betriebsfeier kennen, 1959 heiratet das Paar. Im Dezember desselben Jahres wurde ihr erstes Kind geboren, die zweite Tochter 1961, das dritte Kind ein Jahr später, 14 Monate danach Klaus.

Am 24. Juni 1963 wird Hanna Birr von Kripo-Leutnant Kühnhardt verhört. Sie räumt ein, dass Klaus in der Nacht vom 11. zum 12. Juni hohes Fieber gehabt hat. „Der Junge hat geschrien, und ich habe knapp 40 Grad gemessen.“

Was es mit der tiefen Einschnürung am Bauch des Kindes auf sich habe, will der Kriminalist wissen. „An der Gummihose, die im Bund zu knöpfen ist, sind die Knöpfe abgegangen. Weil ich keine Lust hatte, sie wieder anzunähen, hab ich die Hose mit einem Gummizug zugeschnürt. Der war wohl zu eng.“ Eine „schlechte Absicht“ habe sie damit jedoch nicht verfolgt.

Hanna Birr räumt ein, nichts unternommen zu haben, als ihr Sohn mehr und mehr die Nahrung verweigerte – und sie gibt zu: „In vollem Bewusstsein, dass er sterben muss.“

Noch am Tag des Verhörs wird die Tatverdächtige in Untersuchungshaft genommen. Beim Hafttermin vor dem Kreisgericht des Stadtbezirks Magdeburg-Mitte bekräftigt die Beschuldigte, dass sie ihr Kind „beseitigen“ wollte. „Ich wollte, dass mein Kind stirbt und unterließ bewusst, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen“, sagt sie Richter Wiedemann. „Klaus umzubringen, das war mein Entschluss – nur meiner allein.“

Einen Tag später wird auch gegen den Ehemann, Joachim Birr, ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Ihm wird „Vernachlässigung der Fürsorgepflicht und Misshandlung Abhängiger“ vorgeworfen. Kripo-Hauptmann Müller vom Polizeikreisamt begründet das damit, dass der 27-Jährige „den größten Teil seines Verdienstes in alkoholische Getränke umsetzte und somit seine Frau und seine Kinder in Not und Elend zurückließ“. Durch seine Handlungsweise sei es zur schweren Unterernährung seiner Kinder gekommen.

Am 3. Juli wird Joachim Birr verhört. Der Kohleasche-Fahrer geht sofort in die Offensive: „Ich möchte gleich zugeben, dass ich meiner Familie gegenüber äußerst unverantwortlich gehandelt habe.“ Er habe laufend die Arbeitsstelle gewechselt, gebummelt und sei deshalb längere Zeiträume ohne Arbeit gewesen. 500 Mark habe er monatlich ausgezahlt bekommen. Davon habe er „große Teile“ für sich behalten „und verbraucht“. Er habe seine Frau des Öfteren aufgefordert, „Geld borgen zu gehen“, wenn es mal wieder hinten und vorn nicht reichte. „Um meine Kinder habe ich mich nie gekümmert.“

Seine Eifersucht allerdings sei begründet gewesen, beteuert er seinen Vernehmern. Neben Kühnhardt ist das diesmal noch Hauptmann Winter, der Chef der Mordkommission. Als Beispiel führt er den „Liebesbrief“ an, den seine Frau nach Ostern bekommen hat. Den Absender habe er zwar nicht lesen können, weil er in deutscher Schrift verfasst worden sei, aber der Inhalt sei mit lateinischen Buchstaben geschrieben worden. „Ich erkannte, dass es ein Liebesbrief war. Außerdem waren Herzen darauf gemalt.“

Und auch, dass sich seine Frau am Schleinufer mit einem Mann getroffen habe, sei ihm von einer Freundin seiner Frau hintertragen worden. „Sie ist mit ihm zum Fürstenwall gegangen und hat sich dort längere Zeit mit ihm unterhalten.“ Seine Frau habe abends immer noch einmal das Haus verlassen, sei ihm aufgefallen. „Ungefähr 14 Tage vor dem Tod von Klaus hatte sie einen Knutschfleck am Hals.“

Nach der Vernehmung wird auch gegen Joachim Birr Haftbefehl erlassen.

Fünf Tage später kommt es zur Gegenüberstellung des Ehepaars. Den Ermittlern geht es darum, Licht in das Dickicht von gegenseitigen Beschuldigungen zu bringen und herauszubekommen, ob an den „Männerbekanntschaften“ Hanna Birrs etwas dran ist. Die junge Frau bestreitet erneut, Männerbekanntschaften angeknüpft zu haben. Beide beschuldigen sich gegenseitig, nicht mit Geld umgehen zu können.

Die Eltern von Hanna Birr sagen aus, dass ihre Tochter „keine gut Ehe geführt“ habe. „Mein Schwiegersohn ist ein Arbeitsbummelant. Darunter hat die Ehe zu leiden“, erklärt ihr Vater. Zuerst sei der Haushalt der Tochter sauber gewesen, erläutert er Hauptmann Winter. Nachdem das vierte Kind da war, sei der Haushalt in Unordnung geraten. „Wir haben Hanna so gut es ging unterstützt. Haben ihr Geld gegeben und Lebensmittel.“

Dass es mit der Sauberkeit in der Birr-Wohnung immer weiter bergab gegangen ist, bestätigt eine Nachbarin und ehemalige Freundin Hanna Birrs: „Kurz nach ihrer Heirat, damals hatte sie nur ein Kind, sah alles sehr ordentlich und sauber aus.“ Als sie im Februar 1962 die Räume gesehen habe, sei sie „sehr enttäuscht gewesen“. „Schmutzig und schlechte Luft“, fasst sie ihren Eindruck gegenüber Hauptmann Winter zusammen.

Die neugierige Nachbarin war es auch, die dem Ehemann den Tipp mit der „Schleinufer-Bekanntschaft“ gegeben hatte. „Am 8. Juni 1963 habe ich Hanna Birr von meinem Wohnungsfenster aus beobachtet, als sie gegen 20 Uhr neben der Reichsbahndirektion stand. Ein Mann mit Fahrrad sprach mit ihr. Dann schob er sein Rad am Gebäude lang. Meine Bekannte ist durch ein Loch im Zaun gestiegen und ging zum Fürstenwall.“ Sie habe genau gesehen, dass der Mann Frau Birr hinterhergefahren sei. „Ich bin den beiden dann mit meiner Schwägerin gefolgt, um zu sehen, was sich da abspielt. Wir haben gerade noch gesehen, dass sie aus einem Gebüsch herauskamen.“

Sie habe ihre Freundin gefragt: „Das ist wohl dein Freund?“ Doch sie habe nur geantwortet: „Der ist doch verheiratet. Guck doch, der hat doch einen Kindersattel am Rad.“

Über die Verhältnisse innerhalb der Familie in punkto Kinderbetreuung gibt ein Schriftwechsel zwischen der Mordkommission und dem Säuglingsheim der Stadt Magdeburg in Heyrothsberge Auskunft. Am 25. Juni 1963 war dort das zweitjüngste Kind, Hans-Joachim, eingeliefert worden. Heimarzt Dr. Thal schreibt, dass der Eineinhalbjährige „körperlich stark verschmutzt“ und in „zerrissener, verdreckter Kleidung“ aufgenommen wurde. „Am 29. Juni wurde das Kind ärztlich untersucht. Es wog bei der Aufnahme 7.600 Gramm, war also stark untergewichtig.“ Zudem habe der Junge einen „verstörten, ängstlichen und zurückgebliebenen Eindruck“ gemacht.

Am 30. Juli wird die Untersuchungsgefangene Hanna Birr noch einmal eindringlich zu eventuellen Männerbekanntschaften befragt. Und diesmal räumt sie „zwei Bekanntschaften wegen des schlechten Eheverhältnisses und insbesondere wegen des laufenden Alkoholgenusses“ ihres Mannes ein. „In einem Falle habe ich einen jungen Mann auf der Karl-Marx-Straße vor dem ,Blitzgastronom‘ kennengelernt und war mit ihm einige Wochen befreundet“, gibt sie nun an. Den zweiten jungen Mann – einen Lkw-Fahrer – habe sie am Schleinufer getroffen. „Er hat mich dann ein paar Mal mit dem Kipper mitgenommen.“ Geschlechtliche Beziehungen habe es jedoch mit beiden nicht gegeben.

Anfang August wird Joachim Birr zum letzten Mal verhört. Diesmal vom Staatsanwalt. Birr gibt zu, bemerkt zu haben, dass Klaus wenige Tage vor seinem Tod „etwa nur noch die Hälfte seiner Flasche trank“ und dass das Baby „unsauber und wund zwischen den Beinen“ war. Er habe sich jedoch nicht weiter darum gekümmert. „Ich tat dies absichtlich nicht, obwohl ich erkannte, dass das Kind gröblichst vernachlässigt wurde.“ Er habe deshalb nichts für den Jungen getan, weil er glaubte, dass es seine Frau mit anderen Männern treibe. Ihm sei bereits damals der Gedanke gekommen, dass Klaus auf Grund der Vernachlässigung sterben könnte. „Ich hätte den Tod verhindern können.“

Am 12. September 1963 beginnt vor dem I. Strafsenat des Magdeburger Bezirksgerichts die Hauptverhandlung gegen das Ehepaar. Und bereits einen Tag später verkündet Oberrichter Richter die Urteile: Acht Jahre Haft wegen Totschlags für Hanna Birr. Joachim Birr muss wegen fortgesetzter Vernachlässigung der Fürsorgepflicht in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung fünf Jahre ins Gefängnis. Die Zeit der Untersuchungshaft wird angerechnet.

In der Urteilsbegründung wird auf das Motiv verwiesen. Hanna Birr habe ihren Sohn getötet, um „eine durch das Verhalten des Mitangeklagten total zerrüttete Ehe aufrechtzuerhalten“. Zu verhindern wäre die Misere gewesen, wenn sie sich „vertrauensvoll an die entsprechenden Einrichtungen unseres Arbeiter- und Bauernstaates gewendet und um Unterstützung ersucht hätte.“

Zum Punkt „fahrlässigen Tötung“ durch Joachim Birr führt der Oberrichter aus: „Fahrlässigkeit liegt vor, weil der Angeklagte den Tod des Kindes zwar nicht beabsichtigt und gewollt, ihn aber unter Missachtung seiner Sorgfaltspflicht herbeigeführt hat.“

Abschließend hebt der Senat hervor, dass er sich „durchaus bewusst“ ist, dass ein derartiges Verbrechen „von besonderer Gesellschaftsgefährlichkeit ist, da ja im Mittelpunkt unserer gesellschaftlichen Verhältnisse der Mensch steht“. Von den „mannigfaltigen sozial-politischen Maßnahmen – speziell für Mutter und Kind – schlägt der Vorsitzende Richter in seiner Urteilsbegründung den vom Justizministerium nicht nur erwünschten, sondern sogar geforderten Bogen zur weltpolitischen Lage: „Unermüdlich führt die Regierung der DDR aktiv den Kampf um die Erhaltung und Festigung des Friedens und sie ist eine der ersten in der Welt gewesen, die das Moskauer Abkommen über die Einstellung der Versuche mit atomaren Waffen unterzeichnet hat.“

Rechtsanwalt Eichholz legt Berufung gegen das Totschlagsurteil ein. Er sieht mildernde Umstände in den familiären Verhältnissen unter denen seine Mandantin litt. Er beantragt das Strafmaß aufzuheben.

Der 5. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR lehnt den Antrag am 10. Oktober 1963 als „offensichtlich unbegründet“ ab.

Joachim Birr wird am 4. Juli 1968 aus dem Gefängnis entlassen. Am 21. Februar 1969 wird die Reststrafe seiner Ehefrau Hanna auf Bewährung ausgesetzt und im März 1972 wird sie endgültig erlassen.

Der tote Lehrer im Wald

Die Brandstiftungen

Wolfgang Sötter* ist handwerklich sehr begabt. Am liebsten beschäftigt sich der 15-Jährige mit elektrischen Apparaten. Und weil sich seine Fingerfertigkeit und sein „Stromverstand“ in Ziegelsdorf, einem Ortsteil von Grabow im Kreis Burg, herumgesprochen haben, bringen ihm die Einwohner des Dörfchens schon das eine oder andere Mal einen kaputten Tauchsieder oder einen defekten Stecker.

Am Abend des 9. Juni 1964 hantiert der Neuntklässler in seiner kleinen Werkstatt herum, die er sich im Schafstall auf dem Hof des elterlichen Wohnhauses eingerichtet hat. Dort befindet sich auch das Werkzeug des Dunkelblonden – zum Teil zusammengespart, zum Teil geschenkt bekommen.

Geld verlangt Wolfgang für die Reparaturen nie. Aber hier mal eine Mark, da mal zwei ist es den dankbaren Leuten schon wert, wenn er ihnen die Neuanschaffung eines kaputten Teils erspart hat. Der Junge, der Elektriker werden will, kauft sich von dem „Lohn“ Zigaretten und spart auf ein größeres Moped, eine „Schwalbe“. Denn sein alter „Hühnerschreck“ hat seit geraumer Zeit oft Mucken.

Was niemand weiß, und erst recht nicht seine Eltern, die auf ihren technisch begabten Sohn stolz sind, ist, dass er die elektrischen Kleinteile für die Reparaturen nicht kauft. Er klaut sie sich zusammen. Mal auf der Baustelle der Schweinemastanlage, mal in der LPG.

Vor ihm liegt ein Lichtschalter. Eine Rentnerin hat ihn am Morgen abgegeben. Der Jugendliche hat gerade die Plastehülle abgeschraubt und guckt sich das verschmorte Innenleben an. Doch so richtig bei der Sache ist er heute nicht.

Er hat früh die Zeit verschlafen und ist nicht in die Schule gegangen. Wieder einmal hat er an diesem Tag keine Lust zum Lernen gehabt. Zu allem Übel war an seinem Moped noch die Kette gerissen und die Kupplung tat es auch nicht mehr. Mit dem Fahrrad die wenigen Kilometer von Ziegelsdorf nach Theeßen zu fahren, darauf hatte er einfach keinen Bock gehabt.

Am Vormittag hat er an seinem Moped herumgeschraubt und als mittags seine Mutter vom Acker nach Hause gekommen ist, hat er ihr erzählt, dass die Schule früher aus gewesen ist. Sie hat die Lüge geglaubt. Nach dem Mittagessen ist er wieder in seinen Schuppen gegangen und hat sich mit der Kupplung seines Mopeds beschäftigt. Anschließend strich er den Motor rot an. So wie er das kürzlich bei einem Motorrad gesehen und schick gefunden hat.

Gegen 18 Uhr ist er in die Küche gegangen und hatte den „Soldatensender“ gehört. (Ein DDR-Sender, der vorgab aus dem Westen zu funken, dessen Studio jedoch bei Burg stand und der neben Propaganda-Nachrichten die neuesten Titel der Beatles, Rolling Stones und anderer Beatgruppen ausstrahlte.)

Als Wolfgang danach seine Schultasche packte, fiel ihm ein, dass er die Hausaufgaben nicht gemacht hat. Das ließ seine sowieso nicht besonders große Lust, am nächsten Tag wieder die Schulbank zu drücken, auf Null sinken.

Er steckt sich eine Zigarette an. „Auch so eine Sache“, geht es dem Einzelgänger, der seit seiner Jugendweihe vor gut einem Jahr raucht, durch den Kopf, „dass die sich in der Schule so blöd haben mit dem Qualmen.“ Bei einer Klassenfahrt waren er und ein Schulkamerad von ihrem Klassenlehrer beim Rauchen erwischt worden. Die Eltern erfuhren den Vorfall durch eine entsprechende Eintragung auf dem nächsten Zeugnis. Doch Wolfgangs Mutter Ilse hatte der Sache keine große Bedeutung beigemessen. „Wenn Wolfgang rauchen will, raucht er mit und ohne Verbot“, hatte die Genossenschaftsbäuerin der LPG „1. Mai“ Grabow gesagt und ihrem Filius das Rauchen erlaubt. Sehr zum Ärger des Direktors der Polytechnischen Oberschule Theeßen.

Wolfgang, der sich wieder in seinen Reparaturschuppen zurückgezogen hat, dreht das Elektroteil in seinen Händen hin und her. Er „tagträumt“, wie er es für sich selbst nennt. Er sieht sich dann als großer Wissenschaftler. Weißer Kittel. Er hält nun nicht mehr den schwarzen Schalter in den Händen, sondern einen Preis, der ihm verliehen wurde. Die Menschen um ihn herum klatschen Beifall. Ganz vorn seine Eltern und sein Großvater. Er verbeugt sich nach allen Seiten. Dabei gleitet dem Jungen ein Lächeln über das Gesicht.

„Oder ein Sportler“, sagt er halblaut. Und schon ist aus dem Gelehrten im weißen Kittel ein Athlet in den Farben der DDR geworden. Er steigt auf das Podest mit der Nummer 1. Kameras klicken, als ihm die Goldmedaille um den Hals gehängt wird. Als die Nationalhymne gespielt wird, bekommt er feuchte Augen. Wolfgang muss sich die Augen reiben, so ergriffen ist er von der eigenen Vorstellung.

Der Dunkelblonde, der innerhalb seiner Klasse nicht auffällt, der keine besonderen Schwierigkeiten macht in der Schule, der bei den Lehrern als „gefühlsempfänglich“ gilt, hilfsbereit ist und „immer so in der Mitte mitschwimmt“, wirft den Lichtschalter auf die Werkbank. Die Lust ist ihm vollends vergangen. Außerdem knurrt ihm der Magen. Seine Mutter ist noch bei einer Bekannten. Als er daran denkt, dass er morgen wieder zur Schule muss, wird seine Laune noch schlechter.

Hin und wieder haben ihm die Eltern einen Entschuldigungszettel geschrieben, ein paar Mal hat er die Unterschrift gefälscht und manchmal hat er auch unentschuldigt gefehlt.

Während sein Blick auf die verschmorte Ummantelung der Lichtschalterkabel fällt, kommt ihm eine Idee, wie er die Schule auch am nächsten Tag schwänzen kann: Feuer! „Es muss irgendwas brennen“, überlegt er. „Wenn ich dann löschen helfe, kann ich morgens ausschlafen.“

Doch zuvor will er seiner Mutter entgegengehen, die um diese Zeit von der Bekannten zurückkommen will. Am Grundstück der Nachbarin trifft er Willi Knape*, einen geistig zurückgeblieben jungen Mann, den Dorftrottel, wie die Ziegelsdorfer den 20-Jährigen abfällig nennen. Kurz darauf sieht er seine Mutter. Sie gehen gemeinsam nach Hause. Ilse Sötter bereitet das Abendessen zu.

Kaum dass Wolfgang den letzten Bissen heruntergeschluckt hat, steht er vom Tisch auf. „Muss mal aufs Klo“, sagt er. Der 15-Jährige hat einen verhängnisvollen Entschluss gefasst. Er verschwindet durch die Stalltür vom Grundstück und biegt in die zweite Straße rechts ein. Dort befindet sich die große Scheune der LPG – 80 Meter lang, 20 breit, bis zum First acht Meter hoch. In dem Gebäude mit dem Dachpappe-Satteldach lagern 75 Dezitonnen Heu, 50 Dezitonnen Weizen- und 50 Dezitonnen Streustroh. Außerdem sind dort ein Düngerstreuer, ein Grasmäher, eine Dreschmaschine sowie einige landwirtschaftliche Kleingeräte untergestellt.

Wolfgang Sötter betritt gegen 22 Uhr den Wirtschaftshof der Genossenschaft mit der langgestreckten Scheune. Die ersten Tore sind geschlossen. Dann hat er Glück. Die mittlere Einfahrt steht offen. Der Jugendliche sieht sich nach allen Seiten um, dann geht er schnell in das Gebäude. Er macht acht, zehn Schritte, dabei hört er das Stroh unter seinen Schuhen rascheln.

Wolfgang greift in seine obere Jackentasche und fingert eine Schachtel „Casino“ heraus. Er reißt ein Streichholz an und steckt den Glimmstengel in Brand. Das noch brennende Hölzchen lässt er auf das Stroh fallen. Es fängt sofort Feuer. Als der Brandherd etwa die Größe eines Tellers hat, dreht sich der Jugendliche um und läuft aus der Scheune. Er benutzt denselben Weg, den er gekommen ist. Vier, fünf Minuten, nachdem er das Grundstück der Eltern verlassen hat, betritt er es wieder und geht direkt zum Hühnerstall, um das Federvieh einzuschließen. Als er sich umdreht und durchs Hoftor schaut, sieht er am Abendhimmel einen roten Feuerschein.

Wolfgang rennt in die Küche zur Mutter und ruft: „Du, da brennt es irgendwo. Der ganze Himmel ist rot.“ Beide laufen ins Freie, danach zum LPG-Hof. Dann zu den Nachbarn, die bereits schlafen. „Die Scheune brennt! Alles steht in Flammen! Feuer! Feuer!“, schreien sie durcheinander. Wolfgang bekommt ein Feuerhorn in die Hand gedrückt, mit dem er tutend durchs Dorf läuft. Die Sirene beginnt zu jaulen. Anschließend geht er zur Scheune zurück. Der Mittelteil des Gebäudes steht bereits völlig in Flammen.

Zwei Bauern sind dabei, die sieben Kühe und drei Kälber zu retten, die im so genannten Abkalbestall auf der rechten Seite der Scheune in panischer Angst gegen die Absperrungen laufen.

Wolfgang will beim Löschen helfen, aber die Männer von der freiwilligen Feuerwehr schicken den Halbwüchsigen fort.

Um 22.30 Uhr hat der Abschnittsbevollmächtigte von Grabow, Hauptwachtmeister Klinke, das Volkspolizeikreisamt in Burg über den Scheunenbrand informiert. Brandstiftung sei nicht auszuschließen, so seine Meldung.

Als VP-Unterleutnant Wenzel und der Burger Kripochef Oberleutnant Dimde am Brandort im Osten des Kreises Burg eintreffen, sind die Löscharbeiten der Feuerwehren Grabow, Ziegelsdorf und Burg in vollem Gange.