Marius Hulpe

Der Polen-Komplex

Krakau im Herbst 2015, eine namenlose Gruppe schlendert über den wolkenverhangenen Rynek, den großen mittelalterlichen Krakauer Marktplatz mit seinen pastellfarbenen Patrizierpalästen. Vermutlich sind es Studenten. Die Stadt beheimatet die Jagiellonen-Universität, die zweitälteste Universität Europas, das Harvard von Polen. Die Studenten demonstrieren. Sie tragen Fahnen aus Bettlaken und Banner aus Sperrholz, auch rot-weiße Blechschilder und einen Gettoblaster. Das Klima hier ist weltlich, Krakau ist Erasmus-Stadt, gerade Südeuropäer bleiben nach dem Studium in Heerscharen. Selbst wenn auch hier, in der Metropole, niemand um die eisern im Hintergrund waltende katholische Kirche herumkommt, lässt sich die Stimmungslage prinzipiell als liberal bezeichnen. In seinem regionalen Becken, der Provinz Kleinpolen, liegt Krakau wie ein Diamant der Aufklärung und des Fortschritts, die Stadt ist ein Anker der Wissenschaften in einer von religiösen Ressentiments geplagten Gegend.

Doch an diesem frühen Herbsttag wird schnell klar, dass Ärger in der Luft liegt. Denn die Studenten demonstrieren für mehr Toleranz gegenüber anderen Kulturen im Allgemeinen, und im Besonderen demonstrieren sie für die großzügigere Aufnahme von Flüchtlingen in ihrem Heimatland, in Polen. Das wiederum ruft ganz andere Kräfte auf den Plan, von denen man beim Krakauer Altstadtbummel sonst nicht viel mitbekommt. Höchstens, wenn die zutiefst verfeindeten Fußballclubs Wisła und Cracovia im Stadtderby ihre ungleichen Klingen kreuzen, kriechen diese Gestalten aus ihren Winkeln und sorgen auf ihrer jeweiligen Seite für die entsprechende Propaganda, und wenn die nicht zünden will, etwa in Form einer ordentlichen Tracht Prügel für Personen aus dem feindlichen Hooliganlager oder am besten gleich einer Massenschlägerei vor den Stadiontoren, legen sie eben selbst Hand und möglicherweise sogar Messer an. Nun aber folgen knapp zwei Dutzend von ihnen der Studentendemo, anfangs noch in respektvollem Abstand. Zunächst bemerkt sie niemand, der nicht gerade bei ihnen steht, aus der Ferne könnte es sich auch um eine Reisegruppe von Gothic-Fans handeln, oder genauso gut könnten es auch ganz normale Fußballfans sein. Eine kühle Brise weht über den Platz, durch die sich zunehmend auflösende Wolkendecke bricht violettes Licht. Unbemerkt, fast geräuschlos schreiten die Hooligans voran. Niemand schenkt ihnen Beachtung, aus welchen Gründen auch immer. Bis sie sich selbst Beachtung verschaffen. Einige von ihnen beginnen zu grölen, einer der Studenten dreht sich nach ihnen um. Eine erste Glasflasche zerspringt irgendwo auf dem Marktplatzpflaster, nachdem sie im hohen Bogen geflogen kam. Von einem Werfer ist da schon keine Spur mehr, und die Studenten gehen dann doch unverdrossen weiter, einmal rings um den Platz, in dessen Mitte die historische Markthalle samt nobler Dachterrasse prunkt, in der Touristen aus aller Welt ihre Taschen mit Mitbringseln füllen, mit geräuchertem Ziegenkäse und Salzkristallen aus dem nahegelegenen, weltberühmten Bergwerk. Auch mit edlen Parfums decken sie sich dort ein, ebenso mit Zuckergebäck und regionalem Kunsthandwerk, mit daumengroßen Bergmännern aus Gusseisen und sonstigem Nippes.

Die eine Gruppe folgt der anderen, doch lassen sich beide kaum etwas anmerken. Es ist der Schutz des letzten Krakauer Lichts, der es zu keiner Eskalation kommen lässt. Viel zu schnell wäre die ohnehin immer sichtbare Policja zugegen, und in Polen ist dann letztlich doch kaum jemand so radikal, dass er sich eine Übernachtung in ihren Räumlichkeiten allzu oft antun möchte. Die kleinste Form von nachweisbarer Aggression, von einem Anzeichen, dass die Stimmung kippen könnte, würde nicht nur den augenblicklichen Abbruch der Demonstration samt Bestrafung der Veranstalter bedeuten (selbst dann, wenn die Entgleisung den Gegendemonstranten zuzuordnen wäre), sondern auch den Verursacher selbst teuer zu stehen kommen, seit in Polen öffentlicher Unruhe mit einer Null-Toleranz-Politik begegnet wird. Jeder vermeintliche Erfolg, das Einstehen der anderen Seite für Toleranz und Weltoffenheit zunichte zu machen, wäre nur noch um einen sehr unbequemen Preis zu erstehen.