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[7]1. Einleitung

Sprachen verändern sich. Meist sind es einzelne Wörter oder Redewendungen, die ursprünglich vielleicht im Englischen, in der Jugendsprache oder im Sprachgebrauch der Computerbenutzer zu Hause waren und nun auch in der Sprache des Alltags Verwendung finden. Gelegentlich werden wir sogar zu Zeugen tieferliegender sprachlicher Veränderungen. »Ich habe das Buch nicht zu Ende gelesen, weil, ich war zu müde!« ist ein Satz, der uns zumindest in der gesprochenen Sprache täglich begegnen könnte.

Viel stärker noch als bei der Beobachtung der Gegenwartssprache stoßen wir beim Lesen älterer Texte auf Zeichen der Veränderung. Unsere eigene Sprachkompetenz und der Sprachgebrauch eines historischen Autors sind offenbar nicht deckungsgleich. Dies macht sich durch zahlreiche Verständnisprobleme fortwährend bemerkbar. Je älter ein Text ist, umso mehr häufen sie sich. Und am schlimmsten sind gerade die Fälle, wo uns unser eigenes Unverständnis gar nicht erst bewusst wird.

Das Gute an den Schwierigkeiten im Umgang mit historischen Texten ist aber, dass erst sie uns die Tatsache der geschichtlichen Entwicklung einer Sprache nachhaltig verdeutlichen. Am Ende hilft uns das sogar, ältere Texte, aber auch die Sprache der Gegenwart besser zu verstehen. Wenn wir davon abrücken, unseren eigenen Sprachgebrauch als etwas Festes, Unveränderliches anzusehen, dann begeben wir uns unmerklich schon auf Distanz zu unserer eigenen Zeit und damit auch zu uns selbst. Aus dieser Distanz heraus können wir versuchen, auch ältere Texte als etwas zwar Fremdes, Anderes, aber dennoch Wertvolles und Eigenständiges anzunehmen.

Sprachgeschichtliche Kenntnisse helfen uns dabei, diese älteren Texte – und damit die Gedanken und Konzepte vorangegangener Generationen – richtig einzuordnen. Die Sprachgeschichtsschreibung kann über den einzelnen Text hinaus aber auch mit den vielfältigen Möglichkeiten der Versprachlichung der Welt bekanntmachen, die weit über den Horizont der heute lebenden Menschen hinausreichen. Sie fragt also nicht nur nach der sprachlichen Form und dem Sinn einzelner Texte, sondern sie will auch etwas über die Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation unter den jeweiligen historischen Bedingungen herausfinden. Da Kommunikation nun aber keineswegs die einzige Funktion von Sprache ist, kommt noch ein weiteres Moment hinzu. Wir bilden durch Sprache die außersprachliche Realität nicht einfach nur ab, so wie sie ›wirklich‹ ist. Wir haben nur die auf unseren je unterschiedlichen Erfahrungen beruhenden Vorstellungen von der Welt, und diese Vorstellungen stellen wir mehr oder weniger unvollkommen mit Hilfe der Sprache dar. Die Sprache dient also vor aller Kommunikation [8]zunächst einmal dazu, die Gegenstände und Zusammenhänge unserer Welt überhaupt erst zu erfassen und zu deuten. Es liegt auf der Hand, dass auch diese Funktion der Sprache dem geschichtlichen Wandel unterworfen ist.

In der Sprachgeschichte geht es also um Grundlagen des Textverständnisses, um ein Verständnis für den Wandel von Kommunikationsformen und um Einblicke in den historischen Wandel bei der Erfassung und Interpretation unserer Welt. Eine Sprachgeschichte zu schreiben bedeutet daher nicht, ausschließlich bereits vorgegebene Daten und Fakten in eine Ordnung zu bringen. Vielmehr entsteht eine jede Sprachgeschichte erst durch die Auswahl und Interpretation des Vorgefundenen. So ist kaum anzunehmen, dass zwei unterschiedliche Autoren ein und dieselbe Sprachgeschichte verfassen könnten. Die Sprachgeschichtsschreibung wird damit zu einer Kulturwissenschaft, und zwar zu einer Wissenschaft, die sich bemüht, die Flüchtigkeit des kommunikativen Gedächtnisses unserer eigenen Generation zu überwinden. Die Sprachgeschichtsforschung sollte sich deshalb auch nicht nur dafür interessieren, wie es zum heutigen Sprachzustand gekommen ist. Sie muss auch fragen, welche Wege und Möglichkeiten im Laufe der Jahrhunderte aufgegeben oder abgebrochen wurden. Eine solche Frage zielt meist vordringlich auf Texte und ihre Inhalte, sie betrifft aber ebenso die Sprache und ihre Strukturen selbst. Schließlich soll die Sprachgeschichtsforschung eine Vorstellung davon vermitteln, wann und unter welchen Bedingungen die Geschichte der deutschen Sprache begonnen hat, wie es zur Entstehung einer überregional verständlichen Schriftsprache gekommen ist und welche Etappen, also Sprachstadien, der Sprachgeschichte voneinander unterschieden werden können.

Dies waren allerdings noch nicht die Themen, welche die Sprachgeschichte im 19. Jahrhundert zu einer wichtigen Disziplin gemacht und eine breite Öffentlichkeit angesprochen haben. Das intensive Interesse an der Sprachgeschichte setzte nämlich zumindest in Deutschland erst zu einer Zeit ein, als man hoffte, dass die Beschäftigung mit der älteren deutschen Literatur und Sprache auch etwas zur politischen Entwicklung der Gegenwart beitragen könnte. In dem in viele Teilstaaten zerfallenen Deutschland des 19. Jahrhunderts sollte die Betonung einer gemeinsamen literarischen und sprachlichen Tradition den Sinn für das Gemeinsame unter den Zeitgenossen stärken und zugleich von der Berechtigung des Wunsches nach politischer Einheit zeugen. Die »germanische Philologie« der Brüder Grimm war in diesem – wenn auch noch eingeschränkten – Sinn bereits eine »angewandte Kulturwissenschaft« und hat wohl auch einen nicht ganz unerheblichen Baustein zur Einigung des Reiches beigetragen.

Als dieser politische, gegenwartsbezogene Impuls nach der Reichsgründung von 1870 weggefallen war, hatte es die Sprachgeschichte schwerer. In Deutschland wurde sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ein naturwissenschaftliches [9]Fahrwasser hineingezogen, in dem ihre kulturgeschichtlichen Dimensionen weitgehend verlorengingen. Auch die Vertreibung jüdischer Sprachforscher in den Jahren nach 1933 hat das Fach gerade in dieser Hinsicht weiter geschwächt. Im Zuge des gesellschaftlichen Aufbruchs um das Jahr 1968 schließlich schien die Sprachgeschichte dem wissenschaftlichen Fortschritt, wie die übrigen historischen Disziplinen auch, geradezu im Wege zu stehen.

Dennoch ist heute wieder allenthalben ein neues Interesse an Geschichte und damit auch an Sprachgeschichte zu verspüren. Die Geschichte des Alltags, die Entwicklung von Mentalitäten, der Wandel der menschlichen Kommunikationsformen und die Geschichte von Schlagwörtern und zentralen Begriffen finden mehr und mehr Aufmerksamkeit. In all diesen Bereichen kann die Sprachwissenschaft einen gewichtigen Beitrag leisten. Mit der Wiederentdeckung dieser kulturgeschichtlichen Dimension steht die Sprachgeschichtsforschung heute vor neuen Aufgaben. Ihre Voraussetzungen ähneln in manchem denen der Zeit der Brüder Grimm, nur ihre Inhalte sehen – in einem enger zusammenwachsenden Europa – ganz anders aus. An die Stelle einer vor allem den Wert des Eigenen, des »Deutschen« betonenden Darstellung tritt eine »postnationale« Sicht der Sprachgeschichte, die vorrangig die Entwicklung des Deutschen im Kreise seiner europäischen Nachbarsprachen beschreibt. Auch wenn bis zur Abfassung einer »Europäischen Sprachgeschichte« noch ein weiter Weg vor uns liegt, so sollte auch die Geschichte der historischen Entwicklung einer europäischen Einzelsprache als ein Teilstück dieses größeren Zusammenhangs verstanden werden.

Auf dem Buchmarkt sind derzeit mehr als ein Dutzend verschiedene Sprachgeschichten des Deutschen erhältlich. Darunter sind einige, die den Fragen des Sprachkontakts und der kulturgeschichtlichen Dimension der Sprache insgesamt bereits breiten Raum geben. Warum dann also dieses Buch? Und für wen? Angesprochen werden hier zunächst Germanisten: Studienanfänger, Deutschlehrer und auch Fachkollegen, deren Forschungsschwerpunkte im Bereich der Gegenwartssprache oder der Literaturwissenschaft liegen. Angesprochen sind über diesen Kreis hinaus aber auch jene Leser, die sich in einem allgemeinen Sinne für Sprache und ihre Entwicklung interessieren. Gemeinsam ist ihnen allen, dass ihnen entweder die Zeit oder derzeit noch die Kenntnisse fehlen, um sich mit den vorhandenen und meist sehr umfangreichen Sprachgeschichten des Deutschen mit Gewinn zu beschäftigen. Zudem bewegen sich einige dieser Darstellungen oft auf einem – erfreulicherweise – derart hohen Niveau, dass sie von den meisten Studienanfängern und wohl auch von interessierten Laien kaum noch voraussetzungslos benutzt werden können. Zwischen dem Stand der sprachgeschichtlichen Forschung und dem Wissen über Sprachgeschichte klafft daher eine immer größere Lücke.

[10]Diese Lücke möchte die vorliegende Geschichte der deutschen Sprache schließen helfen. Sie versteht sich daher weniger als eine neuerliche Einführung in das Thema, sondern vielmehr als eine Hinführung zu den großen, umfangreichen Darstellungen, die das Fach heute zu Recht prägen. Dieser schmale Band hätte sein Ziel daher auch dann erreicht, wenn er zur Lektüre größerer Werke anregt und anleitet (genannt seien hier nur das mehrbändige Handbuch Sprachgeschichte sowie die umfangreichen Darstellungen von Christopher J. Wells und Peter von Polenz). Dort, wo er sein Ziel verfehlt und der Leser es bei der Lektüre der Geschichte der deutschen Sprache bewenden lässt, wäre aber immerhin erreicht, dass die wichtigsten Grundkenntnisse vermittelt wurden.

Dem Charakter der Geschichte der deutschen Sprache als Hinführung zur Sprachgeschichte entspricht ihre Form. Sie ist vergleichsweise kurz. Möglich wurde diese Kürze, da sie nicht Sprachgeschichte, Historische Grammatik und Lehr- und Arbeitsbuch zugleich sein möchte. Zudem ist sie eine erzählende Sprachgeschichte, die auf einen wissenschaftlichen Apparat weitgehend verzichtet. Nur die wichtigste Fachliteratur wird kapitelweise aufgeführt. Es geht in diesem Buch in erster Linie um die Erschließung und die Zusammenfassung des heutigen Forschungsstandes. Dies ist allerdings mit der Hoffnung verbunden, dass durch die Gliederung des Stoffes und die Pointierung einzelner Sachverhalte auch für Fachkollegen einiges an Brauchbarem abfallen möge. Herbert Schmidt, Mannheim, gilt mein besonderer Dank für die kritische Durchsicht der einzelnen Kapitel. Für dennoch stehengebliebene oder von mir noch nachträglich eingefügte Irrtümer und Versehen bin ich selbstverständlich selbst verantwortlich. Die ausgewählten Textbeispiele wurden, soweit möglich, am Original überprüft und zeichengetreu wiedergegeben.

[11]2. Wie alles anfing:
Die althochdeutsche Zeit (ca. 750–1050)

2.1 Einige notwendige Vorbemerkungen

Die Geschichte der deutschen Sprache beginnt mit dem Einsetzen der ältesten Überlieferung. Sie markiert den Beginn eines langsamen, Jahrhunderte dauernden Prozesses der Ablösung des Lateinischen als erste Schriftsprache in Europa. Dabei werden nach und nach in den verschiedenen Regionen verschiedene Volkssprachen sichtbar, die fast alle gewisse Ähnlichkeiten im Bestand der Laute, Wörter und ihrer Grammatik aufweisen. Die Beschreibung solcher Gemeinsamkeiten, aber auch der Unterschiede, ermöglicht die Einteilung in Sprachgruppen, sogenannte Sprachfamilien, um die Nähe der Verwandtschaft darzustellen.

Das Deutsche zählt in dieser Einteilung zu den germanischen Sprachen, daneben kristallisieren sich in seiner Nachbarschaft Gruppen von romanischen, keltischen, slavischen und baltischen Sprachen heraus. Wie es scheint, sind es in Europa nur die Sprachen Ungarisch, Finnisch und Estnisch, Maltesisch sowie Türkisch, Baskisch und Georgisch, die ganz anders konstruiert und daher mit den übrigen Sprachfamilien nicht verwandt sind. Diese grundsätzlichen Unterschiede lassen sich noch sehr gut an den heutigen Ausprägungen dieser Sprachen beobachten. Geht es aber um die historische Entwicklung der Sprachen, haben wir es erwartungsgemäß mit der Auswertung schriftlicher Texte zu tun; über die gesprochene Sprache wissen wir fast nichts, allenfalls einige Reflexe des mündlichen Sprachgebrauchs lassen sich in vielfältig gebrochener Form aus den Texten herauslesen. Wichtiger als das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist für uns daher die Frage, welche Merkmale ein im Frühmittelalter verfasstes Schriftdenkmal – denn bis in diese Zeit reicht die Überlieferung der meisten heutigen mitteleuropäischen Einzelsprachen zurück – zu einem »deutschsprachigen« Text machen. Zwei Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein: 1. das lateinische Alphabet, in dem wir noch heute schreiben, und 2. das Vorhandensein bestimmter »neuer« Konsonanten, die so weder im Lateinischen noch in den übrigen altgermanischen Einzelsprachen wie Altenglisch, Altnordisch, Altfriesisch oder Altsächsisch vorhanden waren.

Zur Verdeutlichung begeben wir uns auf die Ebene der Wörter und betrachten einige Beispiele: Wir stehen dabei zwar wieder vor der Schwierigkeit, dass wir einen Wandel in der gesprochenen Sprache anhand des Schriftbildes nur ungefähr ablesen können. Solange wir uns darüber im Klaren sind, dass wir einen Lautwandel und nicht einen nur oberflächlichen »Buchstabenwandel« vor uns haben, lässt sich mit dem Problem jedoch leben. Als eng verwandte Vergleichssprachen, [12]die diese Veränderungen der Konsonanten nicht mitgemacht haben, wählen wir das Altenglische und das benachbarte Altsächsische, die Vorstufe des sog. Niederdeutschen:

ahd. apful ›Apfel‹ gegenüber as. appul, aengl. æppel; vgl. neuengl. apple;

ahd. skif ›Schiff‹ gegenüber as. skip, aengl. scip; vgl. neuengl. ship;

ahd. sitzen ›sitzen‹ gegenüber as. sittian, aengl. sittan; vgl. neuengl. to sit;

ahd. wazzar ›Wasser‹ gegenüber as. watar, aengl. wæter; vgl. neuengl. water;

ahd. daz ›das‹ gegenüber as. that, aengl. þæt; vgl. neuengl. that;

ahd. mahhôn ›machen‹ gegenüber as. makon, aengl. macian; vgl. neuengl. to make.

Die Zusammenstellung zeigt zunächst, dass sich die altgermanischen Einzelsprachen in vielen Bereichen sehr ähnlich sind. Da sich die Beispiele hundertfach vermehren ließen, dürfen wir davon ausgehen, dass diese Sprachen auf einen gemeinsamen, aber nicht erhaltenen Ausgangspunkt zurückgehen. Das Althochdeutsche hat sich von diesem Ausgangspunkt recht weit entfernt und unterscheidet sich von den übrigen altgermanischen Sprachen durch einen Lautwandel, der neue Konsonanten hervorbringt. Wann immer in den Wörtern bzw. in den Texten, in denen die Wörter auftreten, diese neuen Konsonanten im Schriftbild des lateinischen Alphabets erscheinen, können wir nun davon ausgehen, dass es sich um frühe deutsche Texte handelt. Demnach sind Konsonanten und Konsonantenverbindungen wie pf, f, tz, zz (stimmlos wie ss in Wasser), z (stimmhaft wie s in Rose) oder hh (Reibelaut wie ch in machen) die prägenden lautlichen Merkmale des frühen Deutsch. Stimmhafte und stimmlose Laute gab und gibt es in anderen Positionen auch in anderen europäischen Sprachen, die Affrikaten pf und tz sind dagegen typische Erscheinungen des deutschen Lautsystems. Wenn es um die bedeutungsunterscheidenden Laute der deutschen Sprache geht – wir nennen sie Phoneme –, notieren wir sie im Folgenden so: /pf/. Sind die Buchstaben selbst, also die sogenannten Grapheme gemeint, schreiben wir <pf>.

Es wurde allerdings nicht das ganze heute als »deutscher Sprachraum« geltende Gebiet von dem beschriebenen Konsonantenwandel erfasst. Nur die Landschaften südlich einer Linie, die ungefähr von Eupen über Aachen, Benrath, Siegen, Kassel, Dessau, Wittenberg und Frankfurt an der Oder verläuft, sind von den Neuerungen betroffen. Nördlich dieser sogenannten Benrather Linie blieben die Sprecher bei den alten Konsonanten, was dazu führte, dass zunächst nur in der südlichen Hälfte des heutigen Deutschlands tatsächlich »deutsch« gesprochen wurde. In nördlicher Nachbarschaft entwickelten sich das Altsächsische als Vorläufer des heutigen Niederdeutschen, weiter im Nordwesten das Altfriesische, das [13]Altenglische und in Skandinavien das Altnordische auf andere Weise weiter, und zwar vor allem eben ohne die aus der sog. hochdeutschen Lautverschiebung hervorgegangenen neuen Konsonanten.

Erst in der frühen Neuzeit rückt der alte sächsische Sprachraum zwischen Nord- und Ostseeküste und der Benrather Linie wieder in das Blickfeld der deutschen Sprachgeschichtsschreibung, weil sich das im südlichen Teil beheimatete Deutsche jetzt im Gefolge der hochdeutschen Bibelübersetzung Martin Luthers ausbreitet und die sächsische Sprache des kontinentalen Nordens verdrängt. Wenn wir heute von »Hochdeutsch« sprechen, so ist damit oft die Vorstellung von einer stilistisch besonders gut ausgebildeten Sprachvariante des Deutschen verbunden. Gemeint war aber ursprünglich einfach nur der Sprachraum mit den neuen Konsonanten südlich der Benrather-Linie, der in geographischer Hinsicht in besonders markanter Weise durch die Mittelgebirge und die hohen Gebirge am Südrand geprägt wird. Den Sprachraum nördlich der Benrather-Linie nennt man heute oft »Nieder-« oder »Plattdeutsch«, weil es sich scheinbar um einen weniger wertvollen Dialekt des Deutschen handelt, der es nicht zu einer Schriftsprache gebracht habe. Aber auch hier diente »nieder« ursprünglich ganz wertneutral als Kennzeichnung der flachen Landschaften Norddeutschlands. Aus Gründen der Vereinfachung wird dieser Sprachraum oft auch als »Alt- bzw. Mittelniederdeutsch« bezeichnet. Aber das ist sachlich nicht ganz korrekt, denn genau genommen handelte es sich ja im Mittelalter bei der nördlich der Benrather-Linie gesprochenen Sprache ohne Lautverschiebung noch gar nicht um eine Variante des Deutschen, sondern um die eigenständige Sprache Sächsisch. Auch wenn die politische Geschichte des Mittelalters seit der Zeit Karls des Großen die Nordhälfte und die Südhälfte des heutigen deutschen Sprachraums eher als Einheit begreift, überwiegen für Sprachhistoriker doch die Unterschiede. Einheitsstiftend ist in sprachlicher Hinsicht zunächst vor allem das Latein, kaum die noch jungen Volkssprachen.

Weil also die neuen Konsonanten den großen Unterschied ausmachen, durch den sich das frühe Deutsch von allen anderen germanischen Sprachen erkennbar unterscheidet, und weil diese neuen Konsonanten zunächst nur südlich der Benrather-Linie gesprochen werden, gilt für uns nur dieses südliche Gebiet als der Sprachraum des Alt- und Mittelhochdeutschen. Nur jene Texte, die diese neuen Konsonanten enthalten, sind deutsche Texte. Da die Konsonantenveränderung in ihren wesentlichen Bestandteilen bereits in den ältesten Texten um die Mitte des 8. Jahrhunderts durchgeführt und abgeschlossen ist, gilt sie als Merkmal für den gesamten Überlieferungszeitraum des Deutschen. Wir dürfen gleichzeitig annehmen, dass der Beginn dieses Veränderungsprozesses, der nicht von heute auf morgen stattgefunden haben kann, schon sehr viel älter ist als die älteste Überlieferung. Wir erkennen das auch daran, dass sogar einige alte Runeninschriften des [14]7. Jahrhunderts bereits Spuren der hochdeutschen Lautverschiebung zeigen. Besonders auffällig ist darüber hinaus, dass die ältesten aus dem Lateinischen stammenden Lehnwörter, die von den Germanen im Verlauf des kulturellen Neben- und Miteinanders in den ersten Jahrhunderten nach Christus aufgenommen wurden, schon in den frühesten Texten ebenfalls die Lautverschiebung zeigen: so etwa in ahd. champf ›Kampf‹ aus lat. campus; in pfunt ›Pfund‹ aus lat. pondō; in munizza ›Münze‹ aus lat. monēta; in ziegala ›Dachziegel‹ aus lat. tēgula oder in koufen ›kaufen‹ zu lat. caupo ›Schankwirt, Händler‹. Sie müssen also schon vor Beginn der Lautverschiebung entlehnt worden sein und haben dann mit allen einheimischen Wörtern gemeinsam die Veränderungen durchlaufen. Wären diese Wörter erst später entlehnt worden, dann hätten sie von der Lautverschiebung gar nicht mehr erfasst werden können. Das zeigt das Nebeneinander von ahd. ziegala und jüngerem tegel ›Tiegel‹, das im 11. Jahrhundert ein zweites Mal, und diesmal unverschoben, aus dem gleichen Wort, lat. tēgula, entlehnt wurde. Gleiches gilt für jüngeres mhd. palas ›Palast‹ und ahd. pfalanza ›Pfalz‹, die beide auf lat. palātium zurückführen. Vermutlich reicht der Lautwandel bis ins 5./6. Jahrhundert zurück und hat sich im Laufe der Völkerwanderungszeit, der Phase der Ethnogenese der germanischen Einzelstämme, schließlich durchgesetzt. Wird ein Wort später ins Deutsche übernommen, wird die Lautverschiebung nicht mehr durchgeführt.

Weil die hochdeutsche Lautverschiebung ein charakteristisches Merkmal des Deutschen ist, werden deshalb nicht selten auch die Anfänge der deutschen Sprache auf den Beginn dieser Lautverschiebung zurückgeführt. Allerdings bleibt dann unberücksichtigt, dass so recht noch keine homogene Bevölkerung greifbar ist, die als früher Vorläufer der heutigen Träger der deutschen Sprache denkbar scheint. Und was aus dieser Zwischenzeit bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts erhalten ist, wurde entweder von lateinischsprachigen Autoren festgehalten, ist aus Orts- oder Personennamen nur noch nachträglich erschließbar, oder aber es wurde von germanischen Schreibern in Runenschrift aufgezeichnet.

Verstehen wir aber gerade die Übernahme des lateinischen Alphabets – also den Kontakt mit der lateinischen Schriftkultur – als den wesentlichen Schritt zur Schaffung der modernen Landessprachen, so ist es sinnvoll, auch die Geschichte der deutschen Sprache erst mit den ältesten Erzeugnissen dieses neuen Schriftsystems beginnen zu lassen. Wir befinden uns dann, also etwa in der Zeit um 750 n. Chr., an den Anfängen der karolingischen Zeit und damit bereits inmitten einer politischen und kulturellen Tradition, die bis in die Gegenwart lebendig geblieben ist. Der Beginn der schriftlichen Überlieferung ist daher auch kein zufälliger Punkt in der kontinuierlichen Entwicklung der deutschen Sprache. Die Anfänge einer bedeutenden europäischen Kultursprache können nicht allein an dem Wandel einiger Konsonanten festgemacht werden. Dieser Lautwandel spiegelt zwar die [15]Ausdifferenzierung der verschiedenen germanischen Einzelsprachen; ohne den Übergang von der Mündlichkeit zu einer – im Gegensatz zu den Runen – alltagstauglichen Schriftlichkeit nach dem Vorbild der lateinischen Sprache und Schrift hätte sich das Deutsche aber sicher nicht so entwickelt, wie wir es heute kennen.

Von den Menschen, Ereignissen und Sprachen der älteren germanischen Vorzeit hat man schon in der karolingischen Welt wohl nicht mehr sehr viel Genaues gewusst. Näheres über die Vorgeschichte der deutschen Sprache ist vereinzelt in der frühen Neuzeit, dann aber vor allem erst im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert nach und nach bekanntgeworden. Für uns sind diese Zusammenhänge heute vor allem deshalb wichtig, weil sie in der Folgezeit das Sprachbewusstsein einer breiten Öffentlichkeit in den deutschen Ländern nachhaltig beeinflusst und geprägt haben. In einer Geschichte der deutschen Sprache finden sie ihren Platz daher besser im Verlauf der Darstellung der neuhochdeutschen Zeit. Selbst noch heute, im Zeitalter der Globalisierung, kann das Wissen um die sprachliche Verwandtschaft vieler Kulturen Europas und Asiens eine gewisse, nun vor allem toleranzstiftende Rolle spielen. Aber auf die Anfänge der deutschen Sprache hat diese multikulturelle indoeuropäische Frühzeit – obwohl sie meist in diesem Zusammenhang behandelt wird – keinen direkten Einfluss gehabt. Ein beträchtlicher Teil des deutschen Wortschatzes und der sprachlichen Strukturen sind zwar aus dieser Frühzeit ererbt, der Kontakt mit Antike und Christentum formt die Sprache jedoch völlig um. Auch in sprachlicher Hinsicht stehen wir nach den Wirren der Völkerwanderungszeit am Beginn des karolingischen Zeitalters vor einer »Stunde null«. Eine Schriftlichkeit in deutscher Sprache hatte es vorher nicht gegeben. Wann immer die germanischen Stämme mit den Römern in Kontakt kamen, hatten sich ihre schreibfähigen Vertreter rasch der überlegenen Kultur angepasst und waren mit fliegenden Fahnen zur lateinischen Sprache übergewechselt.

Eine Ausnahme bildet hier nur der ostgermanische Stamm der Goten, der, wohl aus Südschweden (Gotland) kommend, über den Elbe-Weichsel-Raum und den Balkan in Richtung Schwarzes Meer zog und in griechisch-römischer Umgebung siedelte. Die Sprache der Goten ist wie das Altenglische oder Altnordische ein früher Vertreter einer anderen altgermanischen, nicht-deutschen Einzelsprache. Das Gotische kennt die schon erwähnte Konsonantenverschiebung nicht und ist auch nicht in lateinischer, sondern in einer eigenständigen Schrift auf griechischer Grundlage aufgezeichnet worden. Am wichtigsten und wertvollsten ist die Bibelübersetzung des Bischofs Wulfila (ca. 311382/3), eines Missionsbischofs für die von Kaiser Constantinus am Unterlauf der Donau nahe dem Schwarzen Meer angesiedelten Goten, die in Handschriften des 6. Jahrhunderts erhalten ist.

Auf deutschem Sprachgebiet stehen wir dagegen im 8. Jahrhundert vor einem [16]fast völligen Neuanfang. Von den kulturellen und sprachlichen Leistungen der Goten hatten im ostfränkischen Raum zwischen Metz und Aachen, Fulda und Passau allenfalls noch wenige eine vage Vorstellung. Spuren der gotischen Sprache finden sich nur selten. Allein die kurz vor 800 entstandene Wiener Handschrift 795 aus St. Amand, die aus dem Umkreis der Kanzlei Karls des Großen stammt, enthält neben griechischen Buchstaben mit Hinweisen zu ihrer Aussprache und diversen Runenzeichen auch einige unvollständige gotische Alphabete und Sätze aus dem Lukas-Evangelium mit übergeschriebener phonetischer Umschrift. Einzig einige karolingische Gelehrte wie Frechulf von Lisieux und Walahfrid Strabo interessierten sich offenbar noch für die gemeinsame Abstammung von Goten und Franken und für die Goten als Vermittler des Griechischen. Mit dem Untergang des römischen Reichs war die Spätantike, und damit auch die Vorherrschaft Roms und der Gotenreiche, zu Ende gegangen.

An deren Stelle trat das Reich der Karolinger. Karl der Große, der bedeutendste karolingische Herrscher, schickte sich um das Jahr 800 an, die Nachfolge der römischen Kaiser zu übernehmen. Die karolingisch geprägte Welt erstreckte sich von Hamburg im Norden bis Barcelona im Süden, von Nantes im Westen bis Magdeburg und Passau im Osten und umspannte beinahe eine Million Quadratkilometer. Das Reich war in größere und kleinere Verwaltungseinheiten unterteilt, die Königen, Präfekten, Markgrafen und Grafen unterstellt waren. Von den Mächtigen und Regierenden abgesehen, dürften nur sehr wenige Menschen eine auch nur annähernde Vorstellung von der Ausdehnung und Verschiedenheit des Gebietes gehabt haben. Ein Bauer sah nicht sehr viel weiter als bis zu den Grenzen des Gutes, auf dem er arbeitete, die meisten Mönche kannten wahrscheinlich nur ihr Kloster und dessen Besitzungen.

Wer aber reisen konnte, der stieß schnell auf neue, eigenständige Kulturkreise. Was sofort, und nicht nur in den Randzonen, auffiel, waren vor allem die vielen verschiedenen Sprachen. Latein war zwar überall die Amtssprache, aber Basken und Bretonen bewahrten ihre Sprache, die Aquitanier im Gebiet zwischen Loire und den Pyrenäen und ein großer Teil der restlichen romanischen Francia sprachen ein frühes Romanisch, dessen Aussprache je nach Gebiet wechselte. Im Norden der Francia, in der Diözese von Thérouanne, verwendete man wohl bis in das 9. Jahrhundert das germanische Westfränkisch. Selbst in der weiter westlich benachbarten Region von Boulogne-sur-Mer zeugen Ortsnamen wie Etienfort (zu as. ford ›Furt‹) von einer älteren germanischen Siedlungsschicht. Auch im althochdeutschen Sprachgebiet hielten sich romanische Sprachinseln, etwa im heutigen Südhessen oder in der Gegend von Salzburg. In der Alpenregion konnte man in der Umgebung von Chur, im westlichen Tirol und in Friaul Sprechern des Rätoromanischen begegnen. Im Norden des ostfränkischen Reiches schließlich wurde [17]sächsisch gesprochen, und auch das Althochdeutsche im Süden unterschied sich bei Bayern, Alemannen und Franken beträchtlich. Von den nach Norditalien aus Pannonien eingewanderten Langobarden schließlich wurde vom 6. Jahrhundert bis um 1000 das heute nur noch schlecht bezeugte Langobardisch gesprochen, das dem Althochdeutschen in vielerlei Hinsicht ähnlich ist und frühe Beispiele für die hochdeutsche Lautverschiebung zeigt. Vermutlich handelt es sich um eine ursprünglich ostgermanische Sprache, deren Struktur sich dem Althochdeutschen angenähert hat. Vielleicht hat die Lautverschiebung hier ihren Anfang genommen.

Wenn wir also heute von Althochdeutsch sprechen, dann betonen wir damit die durch die lateinische Schrift und die Merkmale der Lautverschiebung entstandenen Gemeinsamkeiten, die am Anfang der Entwicklung unserer heutigen Schriftsprache stehen. Die Sprecherinnen und Sprecher der verschiedenen regionalen Sprachformen des ältesten Deutschen hätten sich untereinander aber wohl nur mühsam verständigen können. Einheitsstiftend konnte im karolingischen Vielvölkerstaat also weder eine gemeinsam getragene Kultur noch eine gemeinsam gesprochene Landessprache sein: Beides war nicht vorhanden.

Zum gemeinsamen Band, das diesen Großraum zusammenhalten sollte, wurde das Christentum. Die Kirche entwickelte sich zur zukunftsbestimmenden Macht; Mönchtum und Mission wurden wesentliche Elemente einer universal werdenden westlichen Kirche, die sich mit Rom als geistlichem Zentrum und einem sich allmählich herausbildenden System romverbundener Landeskirchen ein eigenes Kommunikationssystem schuf. Da die Bischöfe aber von den karolingischen Herrschern selbst eingesetzt wurden, war die Kirche untrennbar mit dem Reich verbunden. Daher wurde es zur vordringlichsten Aufgabe Karls des Großen, das Christentum zu festigen und die Grundlagen für seine weitere Verbreitung zu schaffen. Für die Entwicklung der europäischen Sprachen war es in diesem Prozess von besonderer Bedeutung, dass sich das Christentum nicht zuletzt auch als Buchreligion verstand. Das Buch als schriftliche religiöse Überlieferung stellt allerdings hohe Anforderungen: Buchherstellung, Lese- und Schreibfähigkeit, eine allgemeine Schulbildung und die spezielle Fähigkeit zur Auslegung der Schrift.

Die Sprache der Bibel war im Westen das Latein, und alle Bemühungen um eine Verbesserung der sprachlichen Gestalt der inzwischen ja schon sehr alten biblischen und sonstigen theologischen Überlieferung richteten sich auf die lateinische Sprache und Schrift. Das blieb in theologischer, aber auch in sprachlicher Hinsicht nicht ohne Folgen; Latein war daher auch in den folgenden Jahrhunderten die Sprache zumindest der Gebildeten, insbesondere in den Wissenschaften.

Aus der Perspektive des 8. Jahrhunderts würde man sich vermutlich sehr darüber wundern, warum wir heute stattdessen den Anfängen der deutschen Sprache [18]ein so großes Interesse entgegenbringen. Wir tun dies aber in erster Linie darum, weil Deutsch eine wichtige europäische Sprache geworden ist, die von vielen Millionen Menschen, wenngleich mit absteigender Tendenz, gesprochen wird. Für die Geschichte des Gotischen, das – einschließlich eines späteren Ausläufers auf der Halbinsel Krim – seit langem ausgestorben ist, interessieren sich heute demgegenüber nur sehr wenige Menschen. Und das, obwohl das Gotische zu seiner Zeit schon sehr viel weiter und schriftfähiger war als das frühe Deutsch. Wir wollen aber vor allem wissen, warum unsere Vorfahren überhaupt das Projekt der Verschriftlichung der deutschen Sprache in Angriff genommen haben, obwohl mit dem Lateinischen ein für alle Gebildeten bestens ausgebildetes Kommunikationsmittel zur Verfügung stand. Vielleicht finden wir hier einige Anregungen, die auch heute im Streit um die Rolle und Dominanz des Englischen hilfreich sein können. Dies ist aber nicht eigentlich das Ziel dieses Buches. In diesem Kapitel soll vor allem geschildert werden, wie sich das Deutsche als geschriebene Sprache durchgesetzt hat.

2.2 Frühmittelalterliche Sprachgeschichte

Die Bemühungen um das richtige Verständnis der lateinischen Überlieferung stehen im Zusammenhang mit einer von Karl dem Großen ausgelösten Kirchen- und Bildungsreform, die heute unter dem Namen »karolingische Renaissance« bekannt ist. Im Zuge dieser Reformen, die einer »Wiedergeburt« frühchristlicher und römischer Traditionen dienen sollten, werden auch die verschiedenen regionalen Volkssprachen des karolingischen Reiches neu bewertet. Betrachten wir daher zunächst, in welcher Umgebung die Anfänge der deutschen Sprache zu suchen sind.

Was sich vom Althochdeutschen bis auf den heutigen Tag erhalten hat, stammt aus den Schreibstuben und Bibliotheken der benediktinischen Klöster. Die frühmittelalterliche deutsche Schriftlichkeit ist also ausschließlich an die Geistlichkeit gebunden. Es überrascht daher nicht, dass auch die Themen der erhaltenen Texte meist eng mit dem biblischen und klösterlichen Leben verbunden sind. Die Bibel und ihre Auslegung stehen im Mittelpunkt und sind das Zentrum, auf das sich auch alles andere bezieht.

Wir können aber erkennen, dass der Horizont der benediktinischen Geistlichkeit keineswegs eng war, sondern so ziemlich alle Bereiche des damals bekannten Wissens erfasste. Daher lassen sich auch im ältesten Stadium der deutschen Sprache bereits eine ganze Reihe von verschiedenen Texten und Textsorten unterscheiden. Neben der Theologie geraten Aspekte von Medizin, Recht und Musik, ja [19]selbst große Teile der Alltagskultur zumindest ausschnittweise in das Blickfeld der Mönche.

Dabei geht es den in erster Linie lateinisch lesenden und lateinisch schreibenden klösterlichen Gelehrten zunächst noch gar nicht um eine Verschriftlichung der deutschen Sprache. Dafür wäre die mündlich verwendete Alltagssprache der frühmittelalterlichen bäuerlichen Landbevölkerung auch wohl noch kaum geeignet gewesen. Dieser Sprache müssen ja der Wortschatz und die Grammatik, die zum Ausdruck etwa christlich-theologischer, juristischer oder medizinischer Zusammenhänge erforderlich gewesen wären, noch weitgehend gefehlt haben. Vielmehr ging es den Geistlichen um ein besseres Verständnis des Lateins, das für sie zwar die normale Arbeits- und Umgangssprache, aber doch eben nur – anders als in der Romania – die erste Fremdsprache war. Bei der Lektüre schwieriger lateinischer Texte konnte es daher für die Texterschließung hilfreich sein, neben gelegentlich vertrauteren lateinischen gerade auch deutsche Wörter als Verständnishilfe zwischen die Zeilen des lateinischen Textes zu schreiben, ganz so, wie es die meisten von uns in der Schulzeit beim Lernen einer fremden Sprache auch gemacht haben. Wir nennen diese Wörter »Glossen« und dehnen wie im Altgriechischen bei der Aussprache das /o/, um sie von den inhaltlich verwandten modernen Zeitungsglossen abzugrenzen. Griechisch glossa bedeutet zunächst ›Zunge, Sprache‹, als theologischer Fachbegriff der Bibelauslegung meint es ›Kommentar‹.

Mit solchen, anfangs aber nur auf das rein sprachliche Textverständnis bezogenen Glossen beginnt die Geschichte der deutschen Sprache. Zunächst wurden sie mit spitzen, meist aus Holz, Knochen, Bronze oder Silber gefertigten Griffeln eingeritzt und sind daher heute mit bloßem Auge fast nicht mehr zu erkennen. Griffel waren im Frühmittelalter leichter verfügbar als Tinte und die sich rasch abnutzenden Schreibfedern. Wahrscheinlich sollten die Merk- und Verständnishilfen, etwa eines Lehrers in der Klosterschule, in der Frühphase der Glossierung vor den Augen der Klosterschüler verborgen werden. Auch wollte man wohl in manchen Fällen die Schönheit einer Handschrift nicht durch nachträglich aufgeschriebene Ergänzungen beeinträchtigen und den kostbaren Schreibstoff dadurch sichtbar beschädigen. Pergament, die ungegerbte und stattdessen in einer Kalklauge behandelte Kalbs-, Schafs- oder Ziegenhaut, auf der im Mittelalter geschrieben wurde, war nämlich überaus wertvoll, denn es mussten viele Tiere getötet werden, um eine größere Handschrift anfertigen zu können. Alle Motive für die Verwendung der mühsam lesbaren Griffelglossen lassen sich vermutlich nicht mehr genau rekonstruieren. Es ist allerdings gut möglich, dass auch ein gewisser Respekt vor der Unversehrtheit eines sakralen Textes für die Benutzung eines Griffels gesprochen hat. Der als besonders fromm geltenden irischen Geistlichkeit war [20]diese Technik schon im 7. Jahrhundert geläufig, und es waren wohl angelsächsische Mönche, durch die Griffelglossen auf dem Kontinent verbreitet wurden. Sie sind uns heute vor allem aus Echternach bei Trier, Freising, Regensburg, Würzburg und Fulda bekannt und haben ihren Schwerpunkt in der Mitte des 8. Jahrhunderts, gelegentlich reichen sie wohl sogar bis ins erste Drittel des Jahrhunderts zurück. Nach etwa 900 findet man sie dann kaum noch. In den kommenden Jahrzehnten wird es stattdessen mehr und mehr üblich, die Einträge mit sichtbarer Tinte vorzunehmen. Offenbar hatte sich das Hilfsmittel Glosse langsam doch etabliert und brauchte im Zweifelsfall nicht mehr vor den Augen der klösterlichen Öffentlichkeit verborgen werden.

Den Mönchen dienten ihre Einträge in der Anfangszeit – unabhängig davon, ob mit Griffel oder Tinte – vor allem dazu, die lateinischen Texte besser zu verstehen. Latein war also Ausgangssprache und Zielsprache zugleich, das frühe Deutsch in diesen Fällen nur das Medium der Vermittlung. Daher sind manche Glossen recht künstliche Gebilde, weil sie keiner lebendigen Sprache angehören, sondern ausschließlich den Sinn des Lateins durch die Technik der wortwörtlichen Nachbildung verdeutlichen sollten. Man vergleiche etwa ahd. duruh-quemani für lat. per-ventio ›Ankunft‹; ahd. filu-sprahhi für lat. multi-loquium ›Geschwätzigkeit‹; ahd. untar-ambahten für lat. sub-ministrare ›etwas bewirken, dienen‹ oder ahd. missi-giscaft für lat. dē-formitās ›Missbildung‹. Die Beispiele verdeutlichen die Möglichkeiten des Sprachsystems, und ihre formale Ähnlichkeit mit den lateinischen Wörtern erinnert an die recht enge Verwandtschaft zwischen diesen beiden Sprachen. Mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch haben sie dagegen kaum etwas zu tun. Wäre es nur um die Verdeutschung einer lateinischen Textstelle gegangen, hätten in vielen Fällen durchaus gebräuchliche althochdeutsche Wörter wie etwa ahd. zuofart, kumft und zuokumft für ›Ankunft‹, gizungali und klafheit für ›Geschwätzigkeit‹ oder dionôn für ›dienen‹ zur Verfügung gestanden.

Das Verfahren der Glossenschreiber mutet uns heute vielleicht fremdartig an, aber es ist so ungewöhnlich nicht. Ganz ähnlich ist der Philosoph Joseph Bernhart vorgegangen, der in den frühen 1930er Jahren eine Übersetzung von Werken des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin anfertigte. Wenn Bernhart beispielsweise lat. sub-stancia ›Substanz, Beschaffenheit‹ mit Unter-stand übersetzt, dann geht es ihm hier ebenfalls nicht um »gutes Deutsch«, sondern um eine kommentierende Verdeutlichung des lateinischen Textes. Nebenbei bemerkt wurde der Druck dieser Übersetzung, bei der die deutsche Sprache nur ein Hilfsmittel war, von der nationalsozialistischen Administration genau aus diesem Grund rasch unterbunden. Aber Bernharts Methode kann uns noch heute die auf das Lateinische ausgerichtete Zielrichtung vieler althochdeutscher »Übersetzungen« verdeutlichen. Ganz zu Unrecht hat man nämlich den frühen Glossenschreibern [21]oft ein geringes Sprachverständnis nachgesagt. Geradezu das Gegenteil ist richtig, man hatte lange Zeit nur ihre Ziele missverstanden. Und gelegentlich waren die Nachbildungen so naheliegend, dass sie in verschiedenen germanischen Sprachen, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten immer wieder neu geschaffen wurden, bis sie schließlich allgemein üblich waren. Dies zeigen etwa got. arma-haírts, aengl. earm-heort, ahd. arm-herz, arm-herzîg ›barmherzig‹ zu lat. miseri-cors.

Da es vor allem darum ging, das Latein der Bibel und der Kirchenväter genau zu verstehen, lag es nahe, dass die Glossen im Unterricht der Klosterschule eingesetzt wurden. Im Vordergrund stand dort die Vermittlung der Schreib-, Lese- und Sprechfähigkeit in der lateinischen Sprache. Nur in den bedeutendsten Klosterschulen wurde darüber hinaus bereits nach dem Schema der »Septem artes liberales«, der sogenannten sieben freien Künste unterrichtet, das für die Ausbildungsstätten des hohen und späten Mittelalters bestimmend wurde.

Den politischen Rahmen für die intensive philologische Beschäftigung mit den lateinischsprachigen Grundlagentexten des christlichen Glaubens, und damit auch für die volkssprachige Glossierungstätigkeit, setzte Karl der Große im Jahre 789 mit seiner ADMONITIO GENERALIS. Diese »Allgemeine Ermahnung« nimmt ihren Ausgangspunkt in der Feststellung, dass die Glaubenstexte von allen Fehlern befreit werden sollten, die sich auf Grund menschlicher Irrtümer von Schreibern und Abschreibern im Laufe der Jahre eingeschlichen hätten. Im Vordergrund stand daher der Wunsch nach einem verbesserten Bibeltext. Aber auch die Klerikerausbildung und die Unterweisung der Laien in den grundlegenden Gegenständen des Glaubens sollte verbessert werden. Wenn – wie wir aus einem Brief des Bonifatius wissen – ein offensichtlich ungebildeter Priester die Taufe mit den Worten: »Baptizo te in nomine patria et filia et spiritus sancti« spendete, die bei großzügigem Umgang mit der fehlerhaften Grammatik allenfalls sinngemäß als »Ich taufe dich im Namen des Vaterlands, der Tochter und des Heiligen Geistes« verstanden werden konnten, dann war es zumindest für die gebildeteren Zeitgenossen zunächst einmal völlig unklar, ob diese Taufe überhaupt gültig sein konnte. Derartige Sprechakte, die von der Kraft des gesprochenen Wortes leben, sind im höchsten Maße abhängig von der sprachlichen Richtigkeit. Um jeden Preis musste durch eine gründliche Ausbildung der Geistlichkeit vermieden werden, dass Taufen, Eheschließungen oder die Absolution nach einer Beichte durch falsche Formulierungen entwertet werden konnten.

Weil man nun den Wert einer soliden Bildung und Ausbildung für die Entwicklung von Christentum, Staat und Gesellschaft erkannt hatte, erweiterte sich auch der Bildungsbegriff derart, dass selbst einige Dichter der vorchristlichen klassischen lateinischen Literatur in den Kanon der Schultexte aufgenommen werden [22]konnten. Wenn wir uns nämlich ansehen, welche lateinischen Texte bereits im Frühmittelalter mit deutschen Glossen versehen wurden, dann erhalten wir ein recht farbiges Bild von der Schullektüre in den Klosterschulen. Heute sind mehr als 1300 lateinische Handschriften mit althochdeutschen Glossen bekannt, die insgesamt mehr als 250 000 Einzelbelege enthalten. Es finden sich darunter Handschriften mit mehreren hundert Einträgen, manche enthalten dagegen nur eine einzige Glosse. Glossiert wurden die biblischen Bücher, spätantike christliche Autoren wie Prudentius, Arator, Alcimus Avitus, Juvencus, Prosper Aquitanus und Sedulius sowie frühmittelalterliche Schriftsteller wie Aldhelm von Malmesbury und Walahfrid Strabo und weitere Texte aus dem Umkreis der Bibel wie etwa das (irrtümlich) dem Propheten Daniel zugeschriebene Traumbuch SOMNIALE DANIELIS. Aus dem Kreise der Kirchenväter ist vor allem Hieronymus zu nennen, Beachtung fanden auch Ambrosius, Johannes Cassianus, Johannes Chrysostomus, Augustinus, Eucherius, Beda und Bonifatius. Heiligenlegenden sind mit der VITA MARTINI des Sulpicius Severus und mit der im 6. Jahrhundert entstandenen Sammlung VITAE PATRUM vertreten. Der Bereich geistlicher Unterweisung wird auch mit den Werken Gregors des Großen berührt. In diesen Umkreis gehören weiter die Glossen zur BENEDIKTINERREGEL und der REGULA CANONICORUM des Chrodegang von Metz, die Glossen zu Isidor von Sevilla und die umfangreichen Glossen zu den CANONES genannten Kirchenrechtsbeschlüssen. Aber eben auch einige Dichter der klassischen Antike wie Vergil mitsamt den Vergilkommentaren des Servius sowie Horaz, Avian, Juvenal, Ovid, Persius, Terenz und Statius können in dieser Zusammenstellung genannt werden. Ausgiebig bearbeitet wurden ferner die CONSOLATIO PHILOSOPHIAE des Boethius. Aus der Geschichtsschreibung erscheinen Werke des Sallust, Lucan und Orosius, und auch die frühen Volksrechte (Leges) sind glossiert worden, allerdings nur spärlich. Entsprechend ihrer Bedeutung als Grammatik und der Bedeutung der Grammatik im Schulunterricht sind hingegen die INSTITUTIONES GRAMMATICAE des Priscian sehr häufig mit Glossen versehen worden, dazu kommen die grammatischen Werke des Phocas, Donat, Eutyches, Beda, Alkuin, Clemens Scotus, Erkanbert und Sedulius Scotus. Schließlich begegnen noch einige wenige Glossen zu medizinischen Schriften, wie denen des Anthimus, Cassius Felix, Constantinus Africanus, Gargilius Martialis, des Aurelius-Aesculapius, der Galen-Bearbeitung des Gariopontus, sowie zu einigen fälschlich dem Hippocrates und Plinius zugeschriebenen Texten.

Die genannten Autoren und Werke eröffnen einen Rahmen, der nicht nur die alles dominierende christliche Theologie mitsamt ihren Hilfswissenschaften Grammatik, Rhetorik, Philosophie, Geschichte und Prognostik umspannt, sondern auch die klassische Dichtung und die neuen, nach Unabhängigkeit [23]strebenden Wissensfelder Recht und Medizin. Die meisten dieser lateinischen Autoren sind heute nur noch Spezialisten bekannt. Uns zeugen sie aber durch ihre große Zahl von der Vielfalt der lateinischsprachigen Schullektüre im Frühmittelalter. Am intensivsten deutsch glossiert wurden mit großem Abstand die Bibel, Gregor der Große, Prudentius, Vergil und die Canones. Die glossierten Handschriften geben ein eindrucksvolles Zeugnis für die Begegnung von Antike und Christentum, die für die althochdeutsche Zeit – sprachlich und kulturell – charakteristisch ist.

Nicht weniger interessant als die Sammlung der glossierten Autoren wäre für eine frühmittelalterliche Bildungsgeschichte des deutschsprachigen Raums auch ein Verzeichnis der nicht glossierten Autoren. Der kulturgeschichtliche Wert einer solchen Liste, die einerseits orthodoxe Denker wie Irenäus von Lyon, andererseits die seit dem 6. Jahrhundert wegen ihrer Lehre von der Präexistenz der Seelen und der »Wiederbringung aller« im endzeitlichen Gericht als Häretiker verdammten Origenes, Theodor von Mopsuestia und Didymus den Blinden umfassen müsste, kann hier nur kurz angedeutet werden. Häufig gelesene Autoren wurden intensiv, selten gelesene Autoren demgegenüber nur wenig glossiert. Allerdings lässt sich dieses Verhältnis nicht ohne weiteres umkehren: Ein nur wenig glossierter Autor wie Augustinus konnte dennoch zu den viel gelesenen gehören.

Neben den werkbezogenen Glossen, die in eine lateinische Handschrift eingetragen wurden, entwickelte sich die Textsorte der Glossare. Hier konnten vorhandene Glossierungen, wie etwa einzelne Bibelglossen, exzerpiert und neu, zum Beispiel in alphabetischer Form, zusammengestellt werden. Auch Sachglossare sind so entstanden, in denen der Wortschatz der physischen Welt, beispielsweise die Bezeichnungen für verschiedene Pflanzen, Tiere oder die menschlichen Körperteile, gesammelt wurde. Als vorbildlich galten die sogenannten Etymologien des Isidor von Sevilla, aber auch ältere Wissensbestände, wie sie in den ursprünglich griechisch-lateinischen »Hermeneumata«-Sammlungen gespeichert waren, flossen in die Glossare ein. Am Ende der althochdeutschen Zeit stehen mit dem Sachglossar SUMMARIUM HEINRICI und den alphabetischen GLOSSAE SALOMONIS zwei prototypische Vertreter der Textsorte »Glossar« zur Verfügung, in denen das gesicherte Wissen der Zeit in der Volkssprache lexikalisch aufbereitet wurde.

Bei der Erstellung dieser Glossare konnte die gesprochene Volkssprache nun tatsächlich hilfreich sein. Wörter für Bäume und Pflanzen, für Fische und Vögel oder für die verschiedenen menschlichen Körperteile waren in der Volkssprache vorhanden und ließen sich im Unterricht der Klosterschule verwenden, um den Novizen das Wissen über die Welt nahezubringen. Derartige Kenntnisse galten – wohl im Unterschied zu heute – als unverzichtbares Grundwissen. Mit den Sachglossaren beginnt daher ganz unmerklich eine Verschiebung des Interesses: Das [24]Sammeln und Aufzeichnen deutscher Wörter steht hier zumindest in einzelnen Bereichen schon für eine Beschäftigung mit dem Deutschen selbst. So erlaubt die Glossenüberlieferung bei aller Künstlichkeit einzelner Bildungen aufs Ganze gesehen durchaus einen Einblick in die Sprachwirklichkeit. Aus den Glossen und Glossaren lernen wir aber dann am meisten, wenn wir die deutschen Wörter nicht isoliert behandeln, sondern die Glossen als Elemente einer Textsorte »Glossenhandschrift« im Kontext ihrer sprachlichen und kulturellen Umgebung behandeln. Wir erfahren dann eine Menge über die Art und Weise, wie im frühen Mittelalter gelesen, gedacht, gelehrt und gelernt wurde.

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