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George MacDonald Fraser

Royal Flash – Flashman in Deutschland

Band 2 der Flashman Manuskripte

Kuebler Verlag

Das Buch

Durch Lola Montez lernt Harry Flashman den jungen Bismarck kennen. Der lockt ihn nach Deutschland und benutzt ihn für eine politische Intrige, bei der er einen Prinzen bei der Heirat vertreten soll. Doch er muss fliehen und wird dabei durch die deutschen Länder und die Wirren der 48er Revolution in München getrieben. Bei diesem Roman handelt es sich um eine vergnügliche, handfeste Lektüre, eine amüsante literarische Mystifikation und einen satirischen Blick auf die Kehrseite des Heldentums.

(Der Tagesspiegel)

Der Roman spielt zunächst in England, wo Flashman Bismarck kennenlernt. Erst einige Jahre später wird er von ihm nach Deutschland gelockt. In der Zwischenzeit erlebt Flashman seine Abenteuer in Amerika (die in Band 3 geschildert werden).

Der Autor

George MacDonald Fraser wurde 1925 in Schottland geboren. Er studierte an der Glasgow Academy, wurde Soldat und verbrachte den Zweiten Weltkrieg in Burma. Danach arbeitete er als Journalist in Kanada und Großbritannien, bevor er als freier – und sehr erfolgreicher – Schriftsteller auf der Isle of Man lebte.

Royal Flash

Flashman in Deutschland

Aus den nachgelassenen Papieren Harry Flashmans

1842 – 1843 und 1847 – 1848,

herausgegeben und bearbeitet von

George MacDonald Fraser

Ins Deutsche übertragen von Helmut Degner

Band 2 der Reihe „Die Flashman Manuskripte“

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Copyright © 1970 by George MacDonald Fraser,

ROYAL FLASH

Originaltitel: Royal Flash – From the Flashman Papers

Deutsche Erstausgabe: Der Prinz von Dänemark,

Hoffmann und Campe.

Deutsche Übersetzung von Helmut Degner.

Neu durchgesehene, überarbeitete und ungekürzte Ausgabe:

Copyright © 2012 Kuebler Verlag GmbH, Lampertheim. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Einscannen oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herausgegeben von Bernd Kübler

Umschlaggestaltung: Grafissimo! Daniela Hertel

ISBN E-Book EPUB 978-3-86346-103-4

Vorbemerkung

Im zweiten Paket der Flashman Papers - jener großen Manuskriptsammlung, die im Jahr 1965 in dem Ausstellungsraum eines Auktionshauses in Leicestershire gefunden wurde, setzt der Autor, Harry Flashman, die Schilderung seiner Abenteuer, die im ersten Teil mit dem Herbst 1842 endete, fort. Im ersten Paket befasst Flashman sich mit seiner Relegierung aus der Rugby School im Jahr 1839 (die auch in Thomas Hughes' Tom Brown's Schooldays erwähnt wird) und seiner darauffolgenden militärischen Karriere in England, Indien und Afghanistan; im zweiten Paket werden zwei mehrere Monate umfassende Perioden der Jahre 1842-43 und 1847-48 behandelt. Dazwischen liegt merkwürdigerweise eine Lücke von vier Jahren, mit der sich der Autor, wie aus einigen Andeutungen hervorzugehen scheint, an anderer Stelle seiner Memoiren beschäftigt.

Der folgende Teil ist insofern von historischer Bedeutung, als Flashman darin seine Begegnungen mit verschiedenen international berühmten Persönlichkeiten schildert, unter anderem mit einem später höchst bedeutenden Staatsmann, dessen Charakter und Unternehmungen die Historiker nun vielleicht einer neuen Beurteilung unterziehen werden. Überdies ist er von einigem literarischen Interesse, denn es besteht kein Zweifel, dass ein Zusammenhang zwischen Flashmans Abenteuern in Deutschland und einem der bekanntesten Romane der viktorianischen Zeit besteht.

Wie beim ersten Paket (das mir von Mr. Paget Morrison, dem Besitzer der Flashman Papers, anvertraut wurde) habe ich mich darauf beschränkt, gelegentliche orthographische Fehler des Verfassers zu korrigieren. Was historische Tatsachen betrifft, ist Flashman von bemerkenswerter Korrektheit, vor allem, wenn man bedenkt, dass er bei der Niederschrift über achtzig Jahre alt gewesen ist; kleinere Ungenauigkeiten, die ihm unterlaufen sind, habe ich im Text unkorrigiert gelassen (so, zum Beispiel, dass er den Boxer Nick Ward als „Champion“ des Jahres 1842 bezeichnet, während Ward in Wirklichkeit seinen Titel im vorangegangenen Jahr verloren hatte), doch habe ich in meinen Anmerkungen am Schluss des Buches darauf verwiesen.

Wie die meisten Verfasser von Memoiren befleißigt sich Flashman bezüglich der Daten keiner großen Genauigkeit; soweit diese festgestellt werden konnten, erwähne ich sie in den Anmerkungen.

G. M. Fraser

***

Kapitel 1

Wäre ich der Held gewesen, für den mich jedermann hielt, oder auch nur ein halbwegs guter Soldat, dann hätte General Lee die Schlacht von Gettysburg gewonnen und wahrscheinlich Washington erobert. Das ist eine andere Geschichte, die ich zu gegebener Zeit niederschreiben werde, wenn Brandy und Alter mich nicht vorher hinwegraffen, doch ich erwähne es hier, weil es beweist, wie große Ereignisse durch Kleinigkeiten entschieden werden.

Die Gelehrten wollen dies natürlich nicht wahrhaben. Sie sagen, die Politik und die kunstvoll ausgearbeiteten Pläne der Staatsmänner beeinflussen die Geschicke der Völker; die Meinungen der Intellektuellen und die Werke der Philosophen bestimmen das Los der Menschheit. Nun, sie mögen ihren Teil dazu beitragen, doch nach meiner Erfahrung wird der Lauf der Geschichte ebenso oft dadurch bestimmt, dass jemand Bauchweh hat oder nicht gut schlafen kann, dass ein Seemann sich betrinkt oder eine Aristokratendirne mit ihrem Hintern wackelt.

Wenn ich deshalb sage, dass meine Grobheit gegenüber einem gewissen Ausländer den Lauf der europäischen Geschichte veränderte, so ist dies eine wohlbedachte Behauptung. Hätte ich auch nur im entferntesten geahnt, als wie wichtig dieser Mann sich erweisen würde, so wäre ich höflich wie der Teufel zu ihm gewesen und ihm um den Bart gegangen. Doch in meiner Jugend und Torheit hielt ich ihn für einen jener Menschen, zu denen man ungestraft grob sein kann – Dienstboten, Huren, Gepäckträger, Ladenbesitzer und Ausländer –, und so ließ ich meiner Unfreundlichkeit freien Lauf. Ganz davon abgesehen, dass es die Weltkarte veränderte, kostete es mich am Ende beinahe den Kopf.

Es war im Jahr 1842, und ich war knapp zwanzig Jahre alt, doch bereits berühmt. Ich hatte eine hervorragende Rolle in dem Fiasko gespielt, das als der Erste Afghanische Krieg1 bekannt ist, hatte heldische Lorbeeren geerntet, war von der Königin dekoriert worden und wurde in ganz London bewundert. Dass mich während des ganzen Feldzuges nackte Angst erfüllte – dass ich log, betrog, bluffte und, wann immer möglich, um mein teures Leben lief –, wusste niemand außer mir selbst. Falls ein oder zwei Leute es ahnten, so schwiegen sie darüber. Es wäre damals nicht schicklich gewesen, den tapferen Harry Flashman mit Schmutz zu bewerfen.

(Wenn Sie das erste Paket meiner Memoiren gelesen haben, so wissen Sie all dies. Ich erwähne es hier für den Fall, dass die Pakete getrennt werden, damit Sie sogleich erfahren, dass dies die wahre Geschichte eines schimpflichen Hasenfußes ist, den es mit einem perversen Stolz erfüllt, trotz seiner mannigfachen Laster und seines völligen Mangels an Tugend – oder vielleicht gerade deshalb – ein geachtetes und bewundertes Alter erreicht zu haben.)

So war ich denn im Jahre 42 der große, kräftige, hübsche Harry, beliebt bei der Londoner Gesellschaft, bewundert bei den Horse Guards (obgleich ich nur Captain war), Gatte einer schönen Frau, scheinbar wohlhabend, in besten Kreisen verkehrend, umschmeichelt von älteren Damen, geachtet von den Männern als perfekter beau sabreur.2 Die Welt war meine Auster, ich hatte sie mit meinem Säbel geöffnet.

Es waren goldene Tage. Die beste Zeit, ein Held zu sein, ist nach der Schlacht, wenn die anderen, Gott hab sie selig, tot sind, und man die Ehren einheimsen kann

Nicht einmal die Tatsache, dass Elspeth mich betrog, machte mir viel aus. Man hätte es nie für möglich gehalten, dass sie mit ihrem Engelsgesicht, ihrem goldenen Haar und ihrer idiotisch unschuldsvollen Miene das größte Flittchen war, das je eine Matratze abgenutzt hat.

Doch ich war kaum einen Monat daheim, da wusste ich, dass sie es mit wenigstens zwei anderen trieb; anfangs war ich wütend und sann auf Rache, doch sie war es, die durch ihren Vater, diesen verdammten alten schottischen Geldsack, das Geld hatte, und hätte ich den empörten Gatten gespielt, hätte ich ohne ein Dach über dem Kopf auf der Queer Street gesessen. So war ich ruhig und zahlte es ihr heim, indem ich nach Herzenslust herumhurte. Es war eine merkwürdige Situation; wir wussten beide, wie wir daran waren (zumindest glaube ich, dass sie es wusste, aber sie war solch eine Närrin, dass man bei ihr nie sicher sein konnte), doch wir taten, als seien wir ein glückliches Ehepaar. Trotzdem hüpften wir von Zeit zu Zeit zusammen im Bett herum und hatten unseren Spaß dabei.

Das wirkliche Leben jedoch spielte sich draußen ab; ich verkehrte nicht nur in guter Gesellschaft, sondern trieb mich mit allerlei lockeren Gesellen in der Stadt herum und trank und spielte. Es war das Ende der großen lustigen Zeiten; eine Königin saß auf dem Thron, und ihre kalte weiße Hand und ihr steifkreuziger Gatte umklammerten bereits den Hals des Volkes und würgten auf ihre heuchlerische Weise die alten wilden Sitten ab. Wir traten in das Zeitalter, das man heute das viktorianische nennt, in eine Ära der Sittsamkeit; die Kniehosen verschwanden, und Beinkleider kamen in Mode; Busen wurden bedeckt und Augen züchtig gesenkt; die Politik wurde langweilig, Handel und Industrie blühten auf, fröhlicher Brandyduft wurde vom Geruch der Heiligkeit verdrängt, und der Hasardeur und Dandy wichen dem Laffen, dem Prediger und dem Tugendbold.

Wenigstens war ich beim Tod dieser verruchten Zeit dabei, und ich tat das meine, ihr das Sterben schwerzumachen. Man konnte immer noch in den Höllen um den Hanover Square spielen, mit den Halunken in den Cyder Cellars zechen, sich am Piccadilly eine Hure aussuchen, in Whitehall Händel mit Polizisten anfangen und ihnen Gürtel und Hüte klauen und auf dem Heimweg Fenster einwerfen und schmutzige Lieder singen. Immer noch wurden beim Karten- und Würfelspiel Vermögen verloren und Duelle ausgefochten (etwas, dessen ich mich zu enthalten pflegte; mein einziges Duell, das mir durch eine List ungeheure Ehren einbrachte, hatte vor ein paar Jahren stattgefunden, und ich beabsichtigte nicht, ein weiteres zu riskieren.) Wenn man wollte, konnte man immer noch ein freies, wildes Leben führen. Seither ist es nie mehr so gewesen; wie man mir sagt, tut der junge König Edward heutzutage zwar alles, um das moralische Niveau des Volkes zu senken, doch ich bezweifle, dass er den Stil dazu hat. Der Mann sieht aus wie ein Schlachter.

Mein Freund Speedicut, der mit mir in Rugby gewesen war und sich mir angeschlossen hatte, seit ich ein berühmter Mann geworden war (er war gutsituiert), schlug mir eines Abends vor, in ein neues Lokal in St. James zu gehen – ich glaube, es war der Minor Club.3 Er meinte, wir sollten zuerst unser Glück an den Spieltischen versuchen und dann oben bei den Huren; danach könnten wir ins Cremorne gehen und uns das Feuerwerk ansehen und den Abend mit gepfeffertem Schinken, einem Glas Punsch und vielleicht ein paar weiteren Mädchen beschließen. Es war mir recht, und so ließ ich mir von Elspeth, die in die Store Street wollte, um sich einen Mr. Wilson anzuhören, der schottische Lieder sang (mein Gott), etwas Geld geben und begab mich mit Speed nach St. James.4

Es war von Anfang an ein Hereinfall. Auf dem Weg zum Club kam Speed auf die Idee, in einen der neuen Busse zu steigen; er wollte mit dem Schaffner einen Streit wegen des Fahrgelds beginnen und ihn zum Fluchen bringen: die Busschaffner waren ihrer unflätigen Sprache wegen berühmt, und Speed meinte, es würde ein Spaß sein, ihn wütend zu machen und die Passagiere zu schockieren.5 Doch der Schaffner ließ sich auf nichts ein; er warf uns ohne viel Federlesens hinaus, und die Passagiere lachten über unsere Blamage, was unsere Stimmung nicht gerade verbesserte.

Der Club erwies sich als eine richtige Spielhölle – die Preise, selbst für Arrak und Zigarren, waren enorm und der Pharo-Tisch schief wie eine Reihe russischer Infanterie und weitaus schwerer zu schlagen. Es ist immer das gleiche; je feiner die Gesellschaft, desto betrügerischer das Spiel. Ich habe zu meiner Zeit mit australischen Goldgräbern Napoleon um Goldstaub gespielt, auf einem Handelsschiff in der Südsee Siebzehn-und-vier und in einem Mietstall in Dodge City Poker, wobei die Pistolen auf der Tischdecke lagen – und bin bei alldem zusammen nicht so übers Ohr gehauen worden wie an einem einzigen Abend in einem Londoner Club.

Nachdem wir ein paar Guineas verloren hatten, sagte Speed:

„Das macht keinen Spaß. Ich weiß ein besseres Spiel.“ Ich war ganz seiner Meinung, und so machten wir uns an zwei der Dirnen heran und gingen mit ihnen nach oben, um mit ihnen um unsere Kleider zu spielen. Ich hatte ein Auge auf die kleinere der beiden geworfen, ein keckes, kleines rothaariges Ding mit Grübchen; wenn ich die nicht mit einem Dutzend Runden ausziehen und auf den Rücken legen kann, dachte ich, dann hab ich mein Talent zum Falschspielen verloren. Doch ob ich zuviel getrunken hatte – denn wir hatten, so teuer er war, eine ziemliche Menge Arrak vertilgt – oder ob die Huren auch schwindelten: das Resultat war, dass ich im Hemd dasaß, bevor die kleine Range mehr als ihre Schuhe und Handschuhe ausgezogen hatte.

Sie lachte laut, und ich wurde wütend, als plötzlich im Stockwerk darunter ein Heidenlärm losbrach. Man hörte polternde Schritte und Geschrei, das Trillern von Pfeifen und das Bellen von Hunden, und dann rief jemand:

„Schnell fort! Die Polizei!“

„Jesus!“ sagte Speed und griff nach seiner Hose. „Eine Razzia! Machen wir, dass wir hinauskommen, Flash!“

Die Huren kreischten vor Angst, und ich schlüpfte fluchend in meine Kleider. Es ist kein Spaß, sich anzuziehen, wenn die Polizei hinter einem her ist, doch ich war besonnen genug, um zu wissen, dass wir nur voll bekleidet entkommen konnten – man kann an einem schönen Abend nicht mit der Hose in der Hand durch St. James laufen.

„So komm doch!“ rief Speed. „Sie werden gleich da sein!“

„Was sollen wir tun?“ jammerte die rothaarige Dirne. „Zum Teufel, tut, was euch beliebt“, sagte ich und streifte meine Schuhe über. „Gute Nacht, meine Damen.“ Und Speed und ich schlüpften auf den Korridor.

Das ganze Haus war in Aufruhr. Es hörte sich an, als sei unten im Spielzimmer eine Schlacht im Gange; Möbel krachten, die Dirnen kreischten, und jemand brüllte: „Im Namen der Königin!“ In unserem Stock lugten Huren ängstlich aus ihren Türen, und Männer in jeglichem Stadium der Entkleidung sprangen herum und wussten nicht, wohin sie verschwinden sollten. Ein dicker alter Kerl hämmerte splitternackt an eine Tür und brüllte: „Versteck mich, Lucy!“

Er hämmerte vergebens, und das letzte, was ich von ihm sah, war, dass er unter ein Sofa zu kriechen versuchte. Viele wissen heutzutage nicht, dass die Polizei in den vierziger Jahren wie der Teufel hinter Spielhöllen her war. Sie war ständig bemüht, sie auszuheben, und die Besitzer hielten Wachhunde und Späher, um rechtzeitig gewarnt zu werden. In den meisten Spielhöllen gab es auch besondere Verstecke für das Zubehör, so dass man Karten, Würfel und Bretter forträumen konnte, denn die Polizei hatte kein Recht zur Durchsuchung, und wenn sie nicht beweisen konnte, dass man gespielt hatte, konnte sie wegen unbefugten Eindringens verklagt werden.6

Offenbar hatte sie den Minor St. James Club überrumpelt, um sich wegen einer solchen Anzeige zu rächen, und wenn es uns nicht gelang, schnellstens zu verschwinden, würden wir vors Polizeigericht und in die Zeitungen kommen und in einen Skandal verwickelt werden. Am Fuß der Treppe schrillte eine Pfeife, die Huren schlugen kreischend ihre Türen zu, und Stiefel polterten herauf. „Hier entlang“, sagte ich zu Speed, und wir stürzten die Stiege hinauf. Der nächste Treppenabsatz – der oberste – war leer, und wir hockten uns hinter das Geländer und warteten ab, was geschah, sie pochten unten an die Türen, und plötzlich kam jemand die Treppe herauf gerannt.

Es war ein hübscher, kinnloser Junge in einer rosa Jacke.

„Oh, mein Gott“, sagte er, „was wird meine Mutter sagen?“ Er blickte sich verzweifelt um. „Wo kann ich mich verstecken?“

Ich überlegte rasch. „Dort drinnen“, sagte ich und deutete auf eine geschlossene Tür.

„Gott segne Sie“, sagte er. „Und was werden Sie tun?“

„Wir werden sie aufhalten“, sagte ich. „Hinein mit Ihnen, Sie Narr.“

Er verschwand in dem Zimmer, und ich zwinkerte Speed zu, riss das Taschentuch aus seiner Brusttasche und warf es vor die geschlossene Tür. Dann schlichen wir auf Zehenspitzen zu einem Zimmer auf der anderen Seite des Treppenabsatzes und versteckten uns hinter seiner Tür, die ich weit offen ließ. Aus der Stille in diesem Stockwerk und den Schutzüberzügen auf den Möbeln schloss ich, dass es nicht benutzt wurde.

Im nächsten Moment stürzten die Polizisten die Treppe herauf, entdeckten das Tuch, stimmten ein großes Geschrei an und zerrten den rosa Jungen heraus. Wie ich vermutet hatte, kümmerten sie sich nicht um unser Zimmer; da die Tür offenstand, nahmen sie natürlich an, dass sich niemand darin versteckte. Wir standen regungslos, während sie auf dem Treppenabsatz herumtrampelten, Befehle riefen und dem Jungen sagten, er solle den Mund halten. Dann marschierten sie alle nach unten, wo sie, nach den Geräuschen zu urteilen, ihre Gefangenen zusammen trieben, und zwar auf ziemlich grobe Weise. Es geschah nicht oft, dass sie eine Spielhölle aushoben und Gelegenheit hatten, höhergestellte Leute zu misshandeln.

„Heiliger Georg, Flashy“, flüsterte Speed schließlich. „Du bist ein ganz Gerissener, mein Lieber. Ich dachte schon, wir sind verloren.“

„Wenn man von den verdammten Afghanen gejagt worden ist“, sagte ich, „dann versteht man sich darauf, sich zu verstecken.“ Doch es freute mich trotzdem, dass ich mit meiner List solchen Erfolg gehabt hatte.

Wir entdeckten eine Dachluke, und das Glück wollte es, dass sich in der Nähe das flache Dach eines, wie sich herausstellte, leeren Hauses befand. Wir öffneten eine andere Dachluke, liefen zwei Treppen hinunter und stiegen durch ein Hinterfenster auf eine Gasse hinaus. So weit, so gut, doch Speed hielt es für eine köstliche Idee, nach vorn zu laufen und aus sicherer Distanz zuzusehen, wie die Polizei ihre Opfer abtransportierte. Ich fand auch, dass das amüsant sein würde, und so brachten wir unsere Kleidung in Ordnung und schlenderten dann zur Straße.

Vor dem Minor Club hatte sich natürlich eine Menschenmenge versammelt, um das Schauspiel zu betrachten. Die Bobbies mit ihren hohen Hüten und Bandeliers drängten sich um die Treppe, während die Gefangenen hinunter zu den geschlossenen Wagen gebracht wurden, die Männer stumm und schamrot oder ihre Schergen lauthals verfluchend, die Huren großenteils weinend – nur einige strampelten und kratzten und mussten getragen werden

Wenn wir klug gewesen wären, hätten wir uns in sicherer Entfernung gehalten, doch es wurde bereits finster, und so beschlossen wir, es uns näher anzusehen. Langsam gingen wir zum Rand der Menge, und das Unglück wollte es, dass als letzter, zeternd und mit weißem Gesicht, der Junge mit der rosa Jacke herausgebracht wurde. Speed lachte laut über seine jämmerliche Miene und rief mir zu: „Mein Gott, Flashy, was wird Mutter dazu sagen?“

Anscheinend hörte es der Junge; er fuhr herum und sah uns, und dann heulte der elende kleine Hund auf und deutete in unsere Richtung.

„Sie waren auch drinnen!“ schrie er. „Diese beiden haben sich auch versteckt!“

Wären wir stehengeblieben, so hätten wir es sicher abstreiten können, doch mein Instinkt, fortzulaufen, ist tief verwurzelt; noch bevor die Bobbies sich uns zuwandten, rannte ich davon wie ein Hase, und als sie uns laufen sahen, nahmen sie sogleich unsere Verfolgung auf. Wir hatten einen guten Vorsprung, doch er war nicht groß genug, um in einem Hauseingang oder dergleichen zu verschwinden; St. James ist ein verdammt schlechtes Viertel, um vor der Polizei zu flüchten – die Straßen sind zu breit, und es gibt keine engen Seitengassen, in denen man Zuflucht suchen kann.

Die ersten zwei Straßen waren sie vielleicht fünfzig Meter hinter uns, doch dann holten sie allmählich auf – es waren zwei, sie hatten die Knüppel gezogen und schrien uns nach, wir sollten stehenbleiben. Ich spürte, wie mein Bein, das ich mir früher im Jahr in Dschalalabad gebrochen hatte, lahm wurde; die Muskeln waren noch steif, und bei jedem Schritt durchzuckte ein stechender Schmerz meinen Schenkel.

Speed bemerkte es und wurde langsamer.

„Hallo, Flash“, sagte er, „was hast du denn?“

„Mein Bein“, sagte ich. „Ich kann nicht mehr.“

Er blickte über die Schulter. Trotz der Verächtlichkeit, mit der Hughes ihn in Tom Brown's Schooldays behandelt, war Speedicut mutig wie ein Terrier und jederzeit zu einer Rauferei bereit – ganz im Gegensatz zu mir.7

„Also schön“, sagte er. „Dann bleiben wir stehen, zum Teufel, und schlagen uns mit ihnen. Es sind nur zwei – nein, warte, hinter ihnen kommen noch mehr, verflucht. Wir müssen eben unser Bestes tun, alter Junge.“

„Es hat keinen Sinn“, keuchte ich. „Ich bin nicht in der Verfassung für eine Prügelei.“

„Überlass' sie nur mir“, rief er. „Ich halte sie auf, während du fortläufst. Bleib doch nicht stehen, Mensch; der Held von Afghanistan kann sich's nicht leisten, von der Polizei fortgeschleppt zu werden! Das gäbe einen verteufelten Skandal. Mir macht's nichts aus. Kommt schon, ihr blaubäuchigen Hunde!“

Und er wandte sich in der Mitte der Straße um, hob die Fäuste und wartete auf sie.

Ich zögerte nicht. Wer dumm genug ist, sich für Flashy zu opfern, verdient, was es ihm einbringt. Über meine Schulter sah ich, wie er den einen Polizisten mit einer linken Geraden aufhielt und sich dem anderen zuwandte. Dann war ich um die Ecke und humpelte davon, so schnell mein lahmes Bein es zuließ. Ich lief die Straße hinunter und auf den Platz dahinter. Es war kein Bobby zu sehen. Als ich um den Garten in der Mitte herum rannte, knickte mein Bein fast unter mir ein.

Keuchend lehnte ich mich ans Geländer. Leise hörte ich hinter mir Speeds höhnische Flüche, dann näherten sich Schritte. Als ich mich nach einem Versteck umblickte, sah ich vor einem Haus, das auf den umzäunten Garten hinausging, zwei Kutschen; sie waren nicht weit weg, und die beiden Kutscher standen neben den Pferden der ersten und sprachen miteinander. Sie hatten mich nicht gesehen; wenn es mir gelang, zu der hinteren Kutsche zu humpeln und hineinzuschlüpfen, würden die Polizisten an mir vorbeilaufen.

Schnell zu humpeln ist schwierig, doch ich erreichte sie, ohne dass die Kutscher mich bemerkten, öffnete die Tür und stieg ein. Ich ducke mich, so dass man mich nicht sehen konnte, hielt den Atem an und lauschte auf meine Verfolger. Doch einen Moment war es ganz still; sie müssen meine Spur verloren haben, dachte ich, dann hörte ich ein neues Geräusch. Aus dem Eingang des einen Hauses drangen Männer- und Frauenstimmen; sie lachten und riefen einander gute Nacht zu, dann plauderten sie auf dem Trottoir, und ich hörte ihre Schritte. Ich hielt die Luft an, mein Herz pochte, und dann ging die Tür der Kutsche auf, Licht fiel herein, und ich starrte in das erstaunte Gesicht eines der lieblichsten Mädchen, die ich je in meinem Leben gesehen habe.

Nein – es war das lieblichste. Wenn ich zurückdenke und die schönen Frauen, die ich gekannt habe, Revue passieren lasse, blonde und dunkle, schlanke und üppige, weiße und braune, Hunderte verführerischer Geschöpfe, so bezweifle ich, dass eine davon ihr gleichkam. Sie stand mit einem Fuß auf der Stufe, hob mit den Händen den Saum ihres roten Satinkleides und beugte sich vor, so dass ich einen prächtigen weißen Busen sehen konnte, auf dem eine Reihe Brillanten glitzerte, passend zu der Kette in ihrem pechschwarzen Haar. Dunkelblaue große Augen starrten auf mich nieder, und ihr Mund, der nicht groß, aber voll und rot war, öffnete sich zu einem leisen Seufzer.

„Mein Gott!“ rief sie. „Ein Mann! Was zum Teufel machen Sie hier, Sir?“

Es war nicht die Art von Begrüßung, die man zu Zeiten der jungen Königin von Damen gewohnt war; das können Sie mir glauben. Jede andere hätte geschrien und wäre in Ohnmacht gefallen. Ich überlegte rasch und kam zu dem Schluss, dass ausnahmsweise die Wahrheit das Beste war.

„Ich verstecke mich“, sagte ich.

„Das kann ich sehen“, erwiderte sie schlagfertig. Sie sprach mit einem überaus reizenden irischen Akzent. „Vor wem und warum in meiner Kutsche, wenn ich fragen darf?“

Bevor ich antworten konnte, tauchte neben ihrem Ellbogen ein Mann auf, und als er mich erblickte, stieß er einen ausländischen Fluch aus und trat vor, als wolle er sie schützen.

„Bitte, bitte, ich habe nichts Böses im Sinn“, sagte ich eindringlich. „Ich werde verfolgt.., die Polizei ... nein, ich bin kein Verbrecher, ich versichere Sie. Ich war in einem Club, den die Polizei durchsuchte.“

Der Mann starrte mich stumm an, doch die Frau verzog den Mund zu einem reizenden Lächeln, so dass ich ihre Zähne sah, und warf dann lachend den Kopf zurück. Ich setzte mein gewinnendstes Lächeln auf, doch mein Charme hatte auf ihren Begleiter nicht mehr Wirkung, als wäre ich Quasimodo gewesen.

„Steigen Sie sofort aus“, fuhr er mich in kühlem, knappem Ton an. „Sofort, verstanden?“

Ich fasste eine tiefe Abneigung gegen ihn. Es waren nicht nur sein Betragen und seine Worte, sondern vor allem sein Äußeres. Er war groß, ebenso groß wie ich, schmalhüftig und breitschultrig, und er sah verdammt gut aus. Er hatte hellgraue Augen und unter seinem blonden Haar eins jener klaren, edlen Gesichter, wie nordische Götter sie haben mögen – mit einem Wort, er wirkte so imposant, dass ich ihn gar nicht gern in Gesellschaft der Schönheit neben ihm sah. Als ich etwas sagen wollte, schrie er mich wieder an, und dann kam mir die Frau zu Hilfe.

„Ach, lass ihn doch, Otto“, sagte sie. „Siehst du denn nicht, dass er ein Gentleman ist?“

Ich wollte mich bei ihr bedanken, doch im gleichen Moment näherten sich schwere Schritte auf dem Gehsteig, und eine tiefe Stimme fragte, ob der Herr jemanden über den Platz habe laufen sehen. Die Polizisten waren mir wieder auf der Spur, und diesmal gab es kein Entkommen.

Doch bevor ich mich rühren oder etwas sagen konnte, hatte die Dame in der Kutsche Platz genommen und zischte mir zu: „Stehen Sie vom Boden auf, Sie Tölpel!“ Ich gehorchte trotz meines Beins und sank keuchend neben ihr auf den Sitz. Und dann sagte ihr Gefährte, hol ihn der Teufel:

„Hier ist Ihr Mann, Konstabler. Bitte, arretieren Sie ihn.“

Ein Polizeisergeant steckte seinen Kopf zur Tür herein, musterte uns und sagte zweifelnd zu dem Schönling: „Dieser Herr, Sir?“

„Natürlich. Wer sonst?“

„Hm ...“ Der Bobby schien verwirrt. „Sind Sie sicher, Sir?“

Der blonde Mann stieß wieder einen ausländischen Fluch aus und sagte, natürlich sei er sicher. Er nannte den Sergeanten einen Dummkopf.

„Ach, hör doch auf, Otto“, sagte plötzlich die Dame „Wirklich, Sergeant, es ist unverzeihlich; er hält Sie zum besten. Dieser Herr ist ein Freund von uns.“

„Rosanna!“ Der blonde Mann blickte empört. „Was erlaubst du dir? Sergeant, ich –“

„Hör auf mit dem Unsinn, Otto“, unterbrach ich ihn, und zu meinem Entzücken spürte ich, wie die Dame meine Hand drückte. „Komm schon, steig ein, und fahren wir nach Hause. Ich bin müde.“

Er bedachte mich mit einem Blick äußerster Wut, und dann kam es zu einem Wortwechsel zwischen ihm und dem Sergeanten, den die Dame Rosanna höchst amüsant zu finden schien. Der Kutscher und ein anderer Konstabler mischten sich ein, und dann steckte der Sergeant, der während der Auseinandersetzung nachdenklich in meine Richtung geblickt hatte, plötzlich wieder den Kopf in die Kutsche und sagte:

„Moment. Ich kenne Sie doch, oder? Bei Gott, Sie sind Captain Flashman!“

Ich gab es zu, und er fluchte und schlug sich an die Stirn.

„Der Held von Dschalalabad!“ schrie er.

Miss Rosanna sah mich mit großen Augen an, und ich lächelte bescheiden.

„Der Verteidiger von Piper's Fort!“ rief der Sergeant.

„Schon gut, schon gut, Sergeant“, sagte ich.

„Der Hektor von Afghanistan!“ rief der Sergeant, der offenbar aufmerksam die Presse las. „Nein, so etwas! Hol mich der Teufel!“

Er strahlte übers ganze Gesicht, was meinem Denunzianten gar nicht passte. Wütend verlangte er, er solle mich arretieren.

„Er ist auf der Flucht“, erklärte er. „Er ist ohne Erlaubnis in unsere Kutsche eingedrungen.“

„Ach was, und wenn er ohne Erlaubnis in den Buckingham-Palast eingedrungen wäre“, sagte der Sergeant und wandte sich wieder zu mir. „Corporal Webster, Sir, Third Guards, unter Major Macdonald bei Ougoumont,8 Sir.“

„Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sergeant“, sagte ich und drückte seine Hand.

„Die Ehre ist auf meiner Seite, Sir. Damit ist die Sache wohl erledigt, Sir.“ Er sah den Mann neben sich an. „Sie sind kein Engländer, nicht?“

„Ich bin preußischer Offizier“, sagte der Mann namens Otto, „und ich verlange –“

„Captain Flashman ist britischer Offizier, also haben Sie gar nichts zu verlangen“, sagte der Sergeant. „Schluss jetzt! Stiften Sie keine Unruhe.“ Er nahm seinen Hut vor uns ab und zwinkerte mir zu. „Wünsche Ihnen und Madam eine gute Nacht, Sir.“

Ich dachte, den Deutschen würde der Schlag treffen, so zornig blickte er drein, und das herzliche Lachen der schönen Rosanna verbesserte seine Laune nicht. Einen Moment starrte er sie, sich in die Lippe beißend, an; dann nahm sie sich zusammen und sagte:

„Ach, komm doch, Otto, steig ein. Mein Gott, mein Gott“, und sie begann wieder zu lachen.

„Freut mich, dass du dich amüsierst“, sagte er. „Du machst einen Narren aus mir; dein Benehmen ist einfach unmöglich.“ Er starrte sie böse an. „Vielleicht wirst du's noch bedauern.“

„Ach, sei doch nicht so schwülstig, Otto“, sagte sie. „Es ist doch nur ein Spaß; komm und –“

„Ich ziehe bessere Gesellschaft vor“, sagte er. „Zum Beispiel die von Damen.“ Und er schlug auf seinen Hut und trat von der Kutschentür zurück.

„Ach, dann geh doch zum Teufel!“ rief sie plötzlich voll Wut. „Fahren Sie zu, Kutscher.“

Da konnte ich meinen Mund nicht mehr halten. Ich beugte mich über sie und rief ihm zu:

„Verdammt, wie können Sie es wagen, so mit einer Dame zu sprechen!“ sagte ich. „Sie ausländisches Schandmaul!“

Ich glaube, wenn ich geschwiegen hätte, würde er mich vergessen haben, denn sein Zorn galt ihr. Doch jetzt richtete er seine kalten Augen auf mich und schien mich damit zu durchbohren. Einen Moment hatte ich Angst vor dem Mann; ein mörderischer Groll verzerrte sein Gesicht.

„Mit Ihnen rechne ich noch ab“, sagte er. Und dann sah ich seltsamerweise etwas wie Neugier in seinen Augen, und er trat einen Schritt näher. Dann verschwand die Neugier aus seinem Blick, und es war nur noch Hass darin.

„Mit Ihnen rechne ich noch ab“, sagte er ein zweites Mal, und die Kutsche rollte los und ließ ihn am Rinnstein stehen.

Trotz der Furcht, die mich in diesem Augenblick ergriffen hatte, machte ich mir keinen Pfifferling aus seinen Drohungen – die Gefahr war vorüber, ich atmete auf und widmete meine Aufmerksamkeit der Schönheit neben mir. In aller Ruhe betrachtete ich ihr herrliches Profil – die hohe Stirn und das rabenschwarze Haar, die kleine und ganz leicht gebogene Nase, die vorstehende rote Oberlippe, das feste kleine Kinn und die runden weißen Brüste, die unverschämt aus dem roten Satinkleid hervordrängten.

Der Duft ihres Parfums, der verstohlene Blick ihrer dunkelblauen Augen und ihre lüsterne, heisere irische Stimme – das alles war eine einzige Verlockung. Wie Ihnen jedermann bestätigen wird, ist eins von zwei Dingen unvermeidlich, wenn man Harry Flashman neben eine solche Frau setzt – entweder gibt es Schreie und Schläge, oder die Dame kapituliert. Manchmal kommt es zu beidem. In diesem Fall wusste ich sogleich, dass es kein Geschrei und keine Schläge geben würde, und ich hatte recht. Als ich sie küsste, dauerte es nur einen Augenblick, bis sich ihr Mund unter dem meinen öffnete, und da mein Bein noch immer schmerzte, bat ich sie, es zu streicheln, denn ich war sicher, eine zarte Frauenhand würde den Krampf in meinen Muskeln lösen. Sie erfüllte auf aufreizende Weise meinen Wunsch und wehrte mit ihrer freien Hand überaus geschickt meine Avancen ab, bis die Kutsche vor ihrem Haus hielt, das sich irgendwo in Chelsea befand.

Ich war indessen in einem solchen Zustand der Erregung, dass ich meine Hände kaum im Zaum halten konnte, während sie ihre Zofe entließ und mich, fröhlich Nichtigkeiten schwatzend und die Unschuldsvolle spielend, in den Salon führte. Ich bereitete dem bald ein Ende, indem ich, sobald die Türe geschlossen war, ihre Brüste enthüllte und sie auf das Sofa legte. Ihre Reaktion war überraschend; sofort grub sie ihre Fingernägel in mich und umschlang mich mit ihren Gliedern. Ihre Leidenschaft war fast erschreckend – ich habe viele heißblütige Frauen gekannt, doch Miss Rosanna glich einem wilden Tier.

Beim zweiten Mal, später in der Nacht, war sie noch hemmungsloser. Wir lagen inzwischen im Bett, und ich hatte nichts an, was mich vor ihren Bissen und kratzenden Nägeln hätte schützen können; ich protestierte, doch es war, als spräche ich mit einer Irren. Sie begann sogar, mich mit etwas Hartem und Schweren – einer Haarbürste, glaube ich – zu schlagen, und als sie aufhörte, sich zu winden und zu stöhnen, fühlte ich mich, als hätte ich mich mit einer Rolle Stacheldraht9 gepaart. Ich war voller Schrammen, Kratzer und Bisse und wund vom Nacken bis zum Hintern.

Dazwischen war sie ein ganz anderes Wesen – fröhlich, redselig, witzig und von einer Sanftheit, die zu ihrer Stimme und ihrem Äußeren passte. Ich erfuhr, dass sie Marie Elizabeth Rosanna James hieß und die Frau eines Offizierskollegen war, der außerhalb der Stadt in einer Garnison Dienst tat. Gleich mir war sie vor kurzem aus Indien zurückgekehrt, wo er stationiert gewesen war; sie fand das Leben in London schrecklich eintönig; ihre Freunde waren steif und langweilig; sie sehnte sich nach einem heiteren Leben und wünschte, sie wäre wieder in Indien oder woanders, wo es ein wenig Freude für sie gäbe. Deshalb war sie so angenehm überrascht gewesen, als sie mich in ihrer Kutsche fand; sie hatte einen grässlich faden Abend bei Verwandten ihres Mannes verbracht, in Begleitung dieses Deutschen, den sie unsäglich läppisch fand.

„Schon allein der Anblick eines Mannes, der aussah, als hätte er etwas – hm, etwas Mumm in sich – war wie eine Erlösung“, sagte sie. „Ich hätte dich nicht der Polizei übergeben, mein Liebster, nicht einmal, wenn du ein Mörder gewesen wärst. Und es war eine Gelegenheit, diesen eingebildeten preußischen Laffen loszuwerden – nicht zu glauben, dass ein Mann, der so prächtig aussieht, Eis und Essig in den Adern hat!“

„Wer ist er?“ fragte ich.

„Otto? Ach, ein Deutscher, der eine Europareise macht. Manchmal glaube ich, es steckt ein kleiner Teufel in ihm, aber er hält ihn wohl verborgen; er benimmt sich so sittsam, weil er wie alle Ausländer auf die Engländer Eindruck machen will. Um dieser Versammlung von Philistern heute Abend ein wenig Leben einzuhauchen, habe ich vorgeschlagen, ihnen einen spanischen Tanz zu zeigen – es war, als ob ich etwas Unanständiges gesagt hätte. Sie sagten nicht einmal ‚Oh, meine Liebe!‘ Sie wandten nur ihre Köpfe ab, so wie das diese Engländerinnen zu tun pflegen – als ob ihnen übel würde.“ Wie eine nackte Nymphe auf dem Bett kniend, warf sie den Kopf zurück. „Aber ich habe ein Funkeln in Ottos Augen gesehen, nur einen Augenblick lang. Ich bin sicher, gegenüber den deutschen Weibern in Schönhausen, oder wo er her ist, benimmt er sich nicht so steif.“

Ich fand, sie sprach zuviel von Otto, und sagte ihr das. „Ach, bist du etwa eifersüchtig?“ sagte sie, ihre Unterlippe vorstreckend. „Dann hast du dir einen schlimmen Feind gemacht, mein Lieber. Oder hat der berühmte Captain Flashman keine Angst vor Feinden?“

„Sie bekümmern mich nicht, ob Deutsche, Franzosen oder Nigger“, sagte ich. „Im übrigen halte ich nicht viel von deinem Otto.“

„Du solltest ihn nicht unterschätzen“, sagte sie neckisch. „Er wird nämlich eines Tages ein großer Mann sein – das hat er mir gesagt. ‚Ich habe eine Bestimmung‘, sagte er. ‚Was für eine?‘ fragte ich ihn. ‚Zu regieren‘, hat er gesagt. Da sagte ich ihm, dass ich auch Ambitionen habe – zu leben, wie es mir gefällt, zu lieben, wie es mir gefällt, und nie alt zu werden. Ich glaube, er hielt nicht viel davon; er sagte, ich sei frivol und würde enttäuscht werden. Nur die Starken, meinte er, könnten sich Ambitionen leisten. Darauf erwiderte ich, ich wüsste ein viel besseres Motto.“

„Und was für eins?“ fragte ich und griff nach ihr, doch sie packte meine Hände, hielt sie fest und sah mich schalkhaft an.

„Mut – und die Karten mischen“, sagte sie.

„Ein wesentlich besseres Motto als das seine“, sagte ich und zog sie zu mir nieder. „Und ich bin ein viel größerer Mann als er.“

„Beweise es – noch einmal“, sagte Miss Rosanna und biss mich ins Kinn. Was ich denn um den Preis weiterer Schrammen und Kratzer tat.

Dies war der Beginn unserer Affäre; sie war wild und leidenschaftlich, konnte aber nicht lange dauern. Erstens war sie eine so gierige Geliebte, dass sie mich beinahe erschöpfte, und zweitens verfügte sie zwar über ungewöhnliche Gaben, war aber nicht ganz nach meinem Geschmack. Sie war zu gebieterisch, und ich ziehe sanftere Frauen vor, die Bedacht darauf nehmen, dass vor allem ich zu meinem Vergnügen komme. Miss Rosanna jedoch benutzte die Männer. Es war, als würde man bei lebendigem Leibe verzehrt, und wehe, wenn man sich ihren Wünschen nicht fügte. Alles musste nach ihrem Kopf gehen, und dessen war ich bald überdrüssig.

Etwa eine Woche nach unserem ersten Beisammensein verlor ich schließlich die Beherrschung. Wir hatten eine stürmische Nacht hinter uns, doch als ich schlafen wollte, hörte sie nicht zu schwatzen auf – und selbst eine heisere irische Stimme kann einen anwidern, wenn man sie zu oft gehört hat. Als sie merkte, dass ich nicht zuhörte, rief sie plötzlich „Habt acht!“, was ihr Schlachtruf vor einer Balgerei war, und stürzte sich wieder auf mich.

„Herrgott noch mal!“ rief ich. „Lass mich. Ich bin müde.“

„Niemand wird meiner müde“, erwiderte sie und versuchte mich zu reizen, doch ich war wie erschlagen und sagte ihr, sie solle mich in Ruhe lassen. Einen Moment setzte sie ihre Bemühungen fort, dann schmollte sie, und dann packte sie plötzlich eine rasende Wut, und bevor ich's mich versah, versetzte sie mir einen Schlag mit dem Handrücken und ging auf mich los wie eine Wildkatze, kreischend und kratzend.

Nun, ich hatte schon zuvor tobende Frauen erlebt, aber so eine wie sie war mir noch nicht untergekommen Sie war gefährlich – eine schöne, nackte Wilde, die alles nach mir warf, was sie zu fassen bekam, mich mit den übelsten Namen bedachte und – ich gestehe es offen – derart einschüchterte, dass ich meine Kleider packte und davonrannte. „Bastard und Feigling!“ waren die harmlosesten Wörter, die sie mir nachrief, und als ich zur Tür hinausstolperte, krachte ein Nachttopf neben mir an den Pfosten. Aus dem Korridor brüllte ich ihr Flüche zu, woraufhin sie, weiß vor Wut und eine Flasche schwingend, herausstürzte und ich die Flucht ergriff. Wahrscheinlich hatte ich mehr Erfahrung als die meisten Männer, mich im Laufen anzuziehen, doch diesmal hielt ich mich damit nicht auf, bis ich die Treppe hinunter und außer Wurfweite war.

*** Anmerkungen zum Kapitel 1 ***

1 Siehe Band 1, „Flashman in Afghanistan“

2 Ein galanter Recke, ein stattlicher und schneidiger Glücksritter

3 Flashman hat den Minor St. James Club vielleicht erst 1842 kennengelernt, doch in den vornehmen Kreisen Londons war er schon lange allgemein bekannt. Sein Besitzer, ein Mr. Bond, wurde in jenem Jahr von einem Spieler mit Erfolg verklagt und musste diesem seine Verluste in Höhe von 3500 Pfund ersetzen. (Siehe L. J. Ludovici The Itch for Play.)

4 Mr. Wilson hatte mit seinen Darbietungen in ganz England großen Erfolg, vor allem bei außerhalb ihrer Heimat lebenden Schotten wie Mr. Flashman. Sein Repertoire umfasste „A Night wi' Burns“, einen Vortrag über die Rebellion des Jahres 1845 sowie beliebte Volkslieder. Er starb während einer Tournee durch die Vereinigten Staaten.

5 Von Pferden gezogene Omnibusse verkehrten in London bereits, als Flashman noch ein kleiner Junge war; vielleicht meint er eine neue Linie. Ihre Schaffner waren bekannt für ihre Grobheit und Unflätigkeit.

6 Razzien auf Spielhöllen wurden nach Erlass des Polizeigesetzes von 1839, das ein gewaltsames Eindringen in die Lokale gestattete, häufig durchgeführt. Flashmans Bemerkungen über die Vorkehrungen der Besitzer und ihr Recht, die Polizei zu verklagen, sind authentisch. (Siehe Ludovici)

7 Hughes' Bemerkung über Speedicut setzt Flashman herab und kann deshalb als höchst beleidigend betrachtet werden. Flashman zeigt Speedicut in einem anderen Licht.

8 gemeint ist Schloss oder Anwesen Château d'Hougoumont, das in der Schlacht bei Waterloo ein wichtiges Bollwerk war

9 Der Vergleich mit „Stacheldraht“ muss Flashman später eingefallen sein; Stacheldraht hat erst in den siebziger Jahren allgemeine Verbreitung gefunden.