Bitte nehmen Sie nach Beendigung Ihrer Lektüre eine Lupe und verkraften Sie diesen Text:

Dieses Buch soll Spaß machen und zeigen, wie viel Freude man an verrückten Geschichten, kuriosen Einfällen und der Kraft der Fantasie haben kann. Natürlich ist nichts von alldem, was hier scheinbar als reales Ereignis erzählt wird, jemals geschehen. Insofern sind auch die Ähnlichkeiten mancher Motive mit lebenden Personen, Institutionen oder Örtlichkeiten und die Aufnahme von Namen realer Persönlichkeiten nur eine literarische Spielerei - die mit den Originalen nichts, aber auch gar nichts, zu tun hat. Dennoch kann eine erfundene Geschichte neue Einblicke in das Geheimnis des Lebens geben: Die in diese große Fiktion eingebetteten Angaben über die Elefanten, die Kultur Afrikas und die Erfahrungen der Protagonisten sind - trotz aller gedanklichen Freiheit - sehr wohl wahrhaftig.

Ich danke der Deutschen Gemeinde in Pretoria, in der ich mit dem »Afrika-Virus« infiziert wurde - im Besonderen Gisela und Fritz Späth, die mich auf ihre Lodge ins Mabalingwe Game Resort eingeladen haben. Als ich dort abends beim Rotwein auf der Veranda über die unfassbar schöne Landschaft schaute und von meinem Hannibal-Projekt erzählte, lag Fritz anschließend die halbe Nacht wach und schwärmte am nächsten Morgen von Tshwane und Bongani. Unvergesslich. So entstehen Geschichten.

Ich danke Petra Meyer, die als Aupair-Mädchen aus Südafrika unsere Kinder betreut, den Kontakt zu Dr. Volker Lubinetzki, dem Pfarrer in der »Pretorianergarde«, hergestellt und immer wieder von den Schönheiten ihres Heimatkontinents berichtet hat.

Und ich danke meiner Familie, die das Wort »Elefantenroman« in den letzten Monaten wahrscheinlich öfter gehört hat als alle anderen Menschen dieser Welt (zusammen). Irgendwie war sie auf unserer fantastischen Reise mit dabei.

Der Namenspatron

C.S. Lewis ist der wohl bekannteste christliche Autor des 20. Jahrhunderts. In seinen belletristischen Werken wie »Die Perelandra-Trilogie« oder »Die Chroniken von Narnia« gelingt es ihm, in einzigartiger Weise literarische Virtuosität und christliche Glaubensinhalte zu verbinden. Der Brendow Verlag ist von den Erben des großen Gelehrten exklusiv dazu legitimiert, den C.S. Lewis-Preis zu vergeben.

Die Preisidee

Der C. S. Lewis-Preis wird alljährlich für ein Romanprojekt verliehen, das sich in herausragender Weise mit Perspektiven des christlichen Glaubens befasst.

Der Hauptpreis

Ein Stück kreative Lebenszeit: Der Preisträgerin/dem Preisträger stellen wir bis zu einem Monat lang einen Platz zum Leben und Schreiben auf einer Insel zur Verfügung. Der Roman wird im Brendow Verlag veröffentlicht.

Die Beteiligten

Schirmherr für den Literaturpreis ist Albrecht Fürst zu Castell-Castell. Die Jury setzt sich zusammen aus namhaften Vertretern aus Literatur, Medien, Wissenschaft und Kirche.

Teilnahmebedingungen

Einsendeschluss ist alljährlich der 1. September. Die Preisverleihung findet im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung statt. Die weiteren Bedingungen zur Teilnahme finden Sie unter www.cslewis-preis.de.

Brendow Auslese

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865064479

© 2008 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Colourbox

www.brendow-verlag.de

cover

Fussnoten

1 Anmerkung des Verlags: Gegen den Autor liegt derzeit noch ein südafrikanischer Haftbefehl vor. Zudem wird gegen ihn wegen Mordverdachts, Veruntreuung von Staatselefanten und illegaler Ausfuhr von lebendem Elfenbein ermittelt. Die Dar stellung in diesem Roman soll dazu beitragen, Licht in die Geschehnisse auf dem dunklen Kontinent zu bringen.

2 Das Nichtvorhandensein vereidigter Sportzeugen hat bislang einen Eintrag dieser Leistung im »Guinnessbuch der Rekorde« verhindert.

3 Während die europäischen Rundfunkanstalten diese Musik bislang nur zögerlich spielen, steht sie auf mehreren anderen Kontinenten auf vorderen Plätzen der Album-Charts (Stand: Herbst 2008). Die Lieder »Kiss me like an elephant«, »Trunk funk« und »Gray anatomy« wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem in den Kategorien »Bester Popsong« und »Tierischste Performance«.

4 Selbstverständlich sprach Bongani kein Deutsch.Wir unterhielten uns während der gesamten Reise fast ausschließlich in Englisch. Manchmal verfielen Hannibal und ich nostalgisch in unsere Muttersprache - aber eher selten. Für diesen Bericht habe ich alle mündliche Rede ins Deutsche übertragen.

5 Tatsächlich haben einige Mitglieder und Unterstützer der Gruppe nach ihrer Rückkehr die »Aktion Tshwane - Wir sind gleich« gegründet, der es gelungen ist, innerhalb kurzer Zeit in verschiedenen deutschen Großstädten Begegnungszentren zu gründen, in denen gegen Antisemitismus in Deutschland und für eine verbesserte Völkerverständigung gearbeitet wird.

6 Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel wurde 1986 promoviert - mit dem Thema: »Untersuchung des Mechanismus von Zerfallreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden«.

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FABIAN VOGT

HANNIBAL MAYER - DER ZUG DER ELEFANTEN

EIN WAHRES ABENTEUER

Verlag

Inhalt

Titelseite

Impressum

Widmung

Anmerkungen

Vorwort

Vorspiel 1970

Vorspiel 2003

Februar 2004 - Königstein

August 2005 - Südafrika

September 2005 - Mozambique

November 2005 - Tansania

Januar 2006 - Kenia

Februar 2006 - Äthiopien

März 2006 - Sudan

April 2006 - Ägypten

Mai 2006 - Jordanien

Mai 2006 - Syrien

Juni 2006 - Berlin

September 2006 - Kischinau

Nachspiel 2007

Anmerkung des Autors

Fußnoten

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VORWORT
VON FABIAN VOGT

Ich werde bei meinen Vorträgen oft gefragt: »Würden Sie es wieder tun? Würden Sie eine solche Reise noch einmal antreten?« Und ich antworte jedes Mal ohne Zögern: »Ja!« Trotz all der Wunden, Ängste, Entbehrungen, Angriffe, der eiternden afrikanischen Achsel-Zecken und der Lügen, die über unser Abenteuer verbreitet worden sind.1 Weil es kaum etwas Großartigeres gibt, als auf dem Rücken eines Elefanten durch das Rote Meer zu schwimmen - mit einem Freund wie Hannibal Mayer an der Seite. Begleitet von israelischen Patrouillen booten und schießwütigen Paparazzi.

In diesem Buch erzähle ich, wie es dazu kam, dass wir mit einer großen Elefantenherde im Krügerpark aufbrachen, den gesamten afrikanischen Kontinent durchquerten, uns einen einzigartigen Lebenstraum erfüllten - und dabei den längsten Zug einer Säugetiergattung in der Weltgeschichte begleiteten.2 Vielleicht war unser Treck sogar das letzte große Naturerlebnis des 21. Jahrhunderts.

Eines kann ich jedenfalls sicher sagen: Ich spürte auf der eindrucksvollen Reise von Südafrika nach Sachsen-Anhalt viele der herrlichen Momente, in denen man weiß: »Es lohnt sich zu leben.« Mancher macht solche Erfahrungen überhaupt nur ein- oder zwei mal - ich wurde fast täglich von ihnen überrascht. Darum möchte ich diese unglaubliche Zeit unter keinen Umständen missen.

Der Weg durch die Wildnis Afrikas und die Wildnis menschlicher und animalischer Irrungen hat mich verändert - und war auf seine Weise eine geistliche Pilgerreise. Ich war dann mal weg, und derjenige, der im Sommer 2005 aufgebrochen ist, war tatsächlich weg - denn er kam nicht zurück. Zurück kam ein Mensch, der seinen innersten Sehnsüchten, Begierden und Wahnvorstellungen begegnen durfte und sich nicht mehr verstecken will und muss. Nie wieder.

Eines muss ich vorweg sagen: Ganz gleich, was Sie jemals über Hannibal Mayer gehört haben oder hören werden - glauben Sie es nicht. Die Diffamierungskampagnen, die gegen ihn losgetreten wurden, ent behren jeder Grundlage. Es stimmt, dass er für sein Vorhaben einige Gesetze missachtet hat, aber wäre er bei allen Entscheidungen den korrekten bürokratischen Weg gegangen, dann wären er und seine 101 Elefanten bis heute nicht aufgebrochen.

Mir imponieren Menschen, die ihren Traum leben. Und Hannibal hat nachweislich niemandem geschadet. Ich konnte ihn näher kennenlernen und weiß, dass er ein herzensguter, freundlicher und manchmal etwas übermütiger Mann ist, der diese Welt lebenswerter machen möchte. Ich sage das als jemand, der selbst mehrfach von ihm tief enttäuscht wurde. Im Gegensatz zu vielen von Hannibals Kritikern und Verächtern verstehe ich aber inzwischen seine Motive.

Darum ist mein Bericht nicht nur eine faszinierende Reportage über den Schwarzen Kontinent, eine fast 10000 Kilometer lange Tour und einen der obskursten Skandale des 21. Jahrhunderts, sondern zugleich der Versuch einer Rehabilitation eines Helden aus den neuen Bundesländern. Das ist nun wahrlich ein großes Wort, doch ich halte es in diesem Zusammenhang für angebracht: Für mich ist Hannibal ein Held, weil er das schier Unmögliche möglich gemacht hat. Gut, er ist am Ende gescheitert - aber doch nur, weil ihn eine heimtückische Verräterin hintergangen hat. Hannibal musste schmerzhaft erkennen, dass sein Vorhaben Teil eines viel größeren Plans war, einer probosciden Verschwörung, für die man ihn skrupellos benutzt hat. Doch ich will nicht vorgreifen.

Nachdem mein Roman bereits in mehreren Sprachen erschienen ist, freue ich mich sehr, dass er nun endlich auch in Deutschland publiziert werden kann. Meine Heimat hat ihrem bisweilen ein wenig biederen Ruf alle Ehre gemacht und die Veröffentlichung der Geschichte sehr erschwert.Verantwortlich dafür war vor allem ein Boykott der Medien, den ich im Text ausführlich erläutere.

Wie ich oben sagte: Ich würde die Reise immer wieder antreten. Denn sie wurde für mich zu einer Reise zum Leben; einer Reise, auf der ich zudem einen neuen Musikstil entwickeln konnte, den inzwischen vielfach kopierten EGO (= ElefantGrooveOutput; sprich: Igor ). Der in der Tierwelt einzigartige wiegende Gang der Elefanten hat mich dazu rhythmisch inspiriert und zu mehreren CD-Veröffentlichungen geführt.3

Durch meine spirituellen Erfahrungen habe ich aber auch einen neuen inneren Rhythmus gefunden. Dieses Buch ist der Wunsch, Sie zu den Quellen meines Erlebens mitzunehmen. Das Abenteuer kann beginnen.

Vorspiel 1970

12. Juli 1970

Ein zwölfjähriger Junge läuft lautlos den schmalen Pfad von der Ngala-Tierstation hinunter zum Timbavati-Fluss. Er zuckt kurz zusammen, als vor ihm eine Hyäne raschelnd im Gestrüpp verschwindet und dabei ein meckerndes Lachen ausstößt. Dann lacht er erleichtert zurück. Am Ufer wendet er sich nach Norden und folgt dem mit dünnem Buschgras bewachsenen Uferstreifen, für einen Moment geblendet von der untergehenden Sonne, die die Hänge des Mshatu-Berges mit dem Glanz dunklen Ockers überzieht und sich funkelnd in den Sykamoren bricht. Es ist heiß.

Nach und nach verstummen die Geräusche und weichen einer angespannten Stille. Denn wenn im Krügerpark die Dunkelheit hereinbricht, hält die Welt für einen Augenblick den Atem an. So, als wolle sie das Spiel der Farben auf jeden Fall bis zum Ende genießen und noch einmal die gleißende Helligkeit des Tages in sich aufnehmen, bevor die Nacht das Sagen hat.

Der groß gewachsene Junge ist stehen geblieben und hat jetzt in der Dämmerung zwischen der Karoo-Vegatation den Mopane-Baum mit den zwei Kronen ausgemacht - und freut sich über den glimmenden Punkt zwischen den Ästen. Bongani wartet schon auf ihn.

Wüsste der Vater des Jungen von diesem Ausflug, er wäre aus verschiedenen Gründen schockiert: Erstens soll ein Zwölfjähriger nicht allein im Busch herumlaufen - schon gar nicht unbewaffnet. Zweitens beginnen nach Einbruch der Dunkelheit die meisten Raubtiere mit der Jagd. Und drittens sieht der fromme, energische Tierpfleger es nicht gern, wenn sein Sohn mit Schwarzen spielt. Bongani ist vierzehn und gehört zum Stamm der Sotho sprechenden Pedi.

Der Junge klettert zu seinem Freund hinauf, hebt lässig die Augenbrauen und nickt leicht, als ihm der Schwarze eine Zigarette hinhält - selbst gedreht, aus Sukkulenten-Blättern.

»Glaubst du, heute Nacht kommen sie?«

Bongani grinst. »Ich weiß es nicht. Die Legende von den weißen Löwen ist uralt, aber es hat noch niemals jemand einen gesehen.«

»Doch, der alte Shaka! Letzte Woche.«

»Ja, aber Shaka glaubt auch, dass Nilpferde als Oryxantilopen wiedergeboren werden. Das macht ihn nicht gerade zu einem verlässlichen Augenzeugen. Egal.Wenn es weiße Löwen gibt, dann kommen sie irgendwann hier an die Wasserstelle. Hast du die Kamera dabei, Tshwane?«

Tshwane guckt verwirrt. Vielleicht, weil er sich immer noch nicht daran gewöhnt hat, dass Bongani seinen schwierigen deutschen Vornamen nicht richtig aussprechen kann und ihm deshalb einen Sotho-Namen gegeben hat: »Tshwane - Wir sind gleich!« Dabei ist dieser Name eigentlich ein würdiger Titel, eine Ehre, eine Art Brüderschaft.

Der junge Weiße nickt und klopft auf seine Tasche. »Und nicht nur das. Mein Vater hat sich letzte Woche aus Deutschland ein brandneues Blitzgerät schicken lassen.Tolles Teil, sage ich dir.«

Gemeinsam inspizieren die beiden Jungen den eleganten schwarzen Aufsatz für den Fotoapparat, rauchen, drücken ihre Kippen aus und warten dann in der schnell hereinbrechenden Dunkelheit gespannt auf die Löwen. Zum Glück weht der Wind von Osten den Hang herunter, sodass keines der Tiere, die zur Tränke kommen, sie wittern kann.

Als Tshwane zum dritten Mal auf seine Uhr schaut, ist es kurz nach neun. Bislang sind mehrere Blessböcke, einige Streifengnus, eine Herde Ngalas und ein Kudu an der Wasserstelle gewesen, aber noch keine der wirklich seltenen Tiergattungen, schon gar nicht die sagenumwobenen weißen Löwen.

In diesem Moment knackt es mehrmals hintereinander unter ihnen. Bongani packt Tshwane am Arm.

»Da! Epila!«

»Wer ist Epila?«

Der Schwarze deutet auf zwei Büsche, zwischen denen sich jetzt langsam ein unförmiger, rotbraun behaarter Kopf hervorschiebt. Zentimeter für Zentimeter. Ein Elefantenjunges. Höchstens ein paar Wochen alt und noch ganz mit dem braunen Fell neugeborener Elefanten bedeckt, das erst nach sechs Monaten den schwarzen Borsten weicht.

Bongani flüstert: »Epila ist die Tochter von Shingwezi, einer sehr klugen Elefantin, die vor Kurzem zum ersten Mal Mutter wurde. Merkwürdig.«

»Wieso merkwürdig?«

»Elefanten lassen ihre Kleinen niemals allein. Epila muss heimlich davongelaufen sein.«

Das Elefantenkind schaukelt ein paarmal mit dem Kopf und rennt dann übermütig zum Timbavati. Dort geht es vorsichtig in die Knie und legt den Kopf ins Wasser, um zu trinken.

»Siehst du? Elefanten müssen erst lernen, das Wasser mit dem Rüssel aufzusaugen und es sich in den Mund zu spritzen. Anfangs trinken sie wie wir.«

Fasziniert schaut Tshwane dem kleinen Elefanten zu, der kaum größer als einen Meter sein dürfte und jetzt vergnügt durch das Wasser tollt. Die herumfliegenden Tropfen fangen das Licht der untergehenden Sonne ein und glitzern rötlich. Epila tänzelt vor Freude und jagt ihnen nach. Spielerisch und leichtfüßig.

Plötzlich krallen sich die Finger Bonganis derart fest in die Schulter seines Freundes, dass dieser zusammenzuckt. Der Schwarze hat angefangen zu zittern und schaut mit weit geöffneten Augen zum Rand der Lichtung. Er atmet flach und schluckt schwer.

Nun sieht es auch Tshwane: Zwei Löwinnen haben den offenen Platz betreten. Und sie sind beide … weiß. Hell leuchtet ihr Fell im fahlen Mondlicht.Als wären sie Geister. Löwen-Geister. Hinter den Geschichten von den bleichen Raubtieren stecken also nicht nur Legenden und das Geschwätz eines halbblinden Alten. Es gibt sie tatsächlich. Welch ein Anblick.

»Wir müssen etwas tun«, raunt Bongani. »Schnell.«

Tshwane spürt sein Herz schlagen.Aufgeregt hebt er den Fotoapparat und …

»Nein, nicht das.Wir müssen Epila retten.«

»Fressen Löwen Elefanten?«

»Natürlich. Sehr gern sogar. Was lernt ihr eigentlich in eurer Schule? Wenn ich nur wüsste, was wir tun können.«

Inzwischen hat das Elefantenjunge die Löwinnen bemerkt und brüllt.Voller Panik. Ein wildes, hysterisches Trompeten. Es ahnt den Tod. Die Raubkatzen dagegen sind sich ihrer Sache sicher und nähern sich dem verzweifelten kleinen Elefanten eher tänzelnd, Schritt für Schritt, Tatze für Tatze. Mit einem herrisch lauernden Blick.

Bongani spannt alle Muskeln an. »Was machen wir nur?«

»Was können wir schon machen? Es sind Löwen und wir haben keine Waffen.«

Die Stimme des Schwarzen klingt rau und vibriert: »Gib mir den Fotoapparat!«

»Was? Willst du jetzt doch fotografieren?«

Bongani antwortet nicht. Er reißt Tshwane wortlos den Apparat aus der Hand und springt vom Baum. Mit einem Satz.

Die Löwinnen sind einen Moment irritiert, dann wenden sie sich ihrem neuen Herausforderer zu, der offensichtlich nicht weiß, mit wem er es zu tun hat. Beide Raubkatzen fauchen. Und Tshwane stößt einen verzweifelten Schrei aus, der weit durch das Tal hallt und den er nie vergessen wird: »Bongani! Nein!«

Die Löwinnen blicken zu dem Weißen hoch, verwundert. Noch so ein übermütiger Mensch. Doch sie riechen seine Angst und weiden sich daran.

Nun macht Bongani einen Satz auf die Löwinnen zu. Das haben sie nicht erwartet. Nur:Was ändert es? Sie spannen die Muskeln an, zum Sprung bereit, und reißen die Augen weit auf. Da löst der Schwarze das Blitzgerät aus - und jagt den grellen Lichtschein wie einen Schuss durch die Nacht. Zu spät. Eine der Löwinnen hat sich schon vom Boden gelöst. Bongani wirft sich zur Seite. Das geblendete Raubtier sieht es nicht und landet verunsichert auf seinen Tatzen. Die empfindlichen Augen zusammengekniffen. Es dreht sich um, versucht, den fremdartigen Gegner wieder zu fixieren. Und schaut direkt in einen zweiten Blitz, der die Dunkelheit mit seinem gleißenden Licht durchzieht. Beide Löwinnen senken den Kopf, knurren laut, warten einen Augenblick unschlüssig - und verziehen sich dann ins Dickicht.

Tshwane kann es nicht fassen. Er schreit vor Erleichterung. Und will ebenfalls vom Baum klettern. Doch Bongani ruft bestimmend: »Bleib, wo du bist!«

»Warum? Du hast sie doch vertrieben.«

»Die Löwinnen sind nicht die Gefahr.Viel schlimmer …«

Noch ehe Bongani zu Ende sprechen kann, stürmt eine wütende Elefantenkuh auf die Lichtung am Timbavati. Der Schwarze kann sich nur mit einem erneuten Sprung davor bewahren, überrannt und zertrampelt zu werden.

Die Elefantin Shingwezi tobt und schiebt sich zwischen die Menschen und das Elefantenjunge, das immer noch voller Panik brüllt. Tshwane nimmt die Laute erst jetzt wieder wahr. Während des Angriffs der Löwinnen hat sein Verstand sie offensichtlich ausgeblendet. Doch sie waren laut genug, um die Mutter herbeizurufen, die jetzt aufgeregt vor ihrem Nachwuchs Aufstellung nimmt und sich den vermeintlichen Gegnern ihres Kindes zuwendet.Aufgeregt trompetet sie und reckt den Rüssel steil in die Höhe. Sie scharrt mit den Füßen und schnaubt die beiden Eindringlinge drohend an.

»Klettere so hoch du kannst. Sonst tötet sie dich.«

»Bongani, renn weg. Bitte!«

Jetzt macht sich Shingwezi zum Angriff bereit. Erde und Sand spritzen durch die Luft. Und die gebogenen Stoßzähne ragen wie Bajonette empor. Die breiten Ohren an den Körper gedrückt, rast die Elefantendame auf Bongani zu.

»Renn!«

Doch Bongani steht einfach nur da. Mit über der Brust gekreuzten Armen. Regungslos. Er wartet in aller Ruhe - und fängt an zu singen. Oder besser: zu brummen. Irgendwo aus seinem Inneren kommen warme, dunkle Töne, die den Platz überfluten. Tiefe Schwingungen, die körperlich spürbar sind, weil sie sich fast zärtlich auf alles legen und mit der Welt eins werden: mit Tshwane, mit dem Timbavati, den Akazien und Sykamoren - und mit dem Mopane-Baum.

Die Elefantenkuh aber hat gestoppt. Abrupt. Direkt vor Bongani. Ihr riesiger Kopf ist höchstens noch dreißig Zentimeter von seinem entfernt. Sie lauscht den eigentümlichen Klängen. Minutenlang. Dann legt sie ihren Rüssel um den schwarzen Jungen - so, als wolle sie ihn streicheln.

Bongani hebt ruhig die Hand und winkt seinem Freund zu: »Du kannst jetzt runterkommen.«

»Wird sie uns nicht mehr angreifen?«

»Nein, ich habe ihr alles erklärt.«

Erklärt? Was soll das denn heißen? Jetzt erst begreift Tshwane. Natürlich. Er hat seinen Freund ja schon mehrfach liebevoll und souverän mit den gigantischen Tieren umgehen sehen. Bongani, sein Freund, ist ein Elefanten flüsterer. Er besitzt die seltene Gabe, mit Elefanten zu kommunizieren.Vielleicht, weil seine Familie seit vielen Generationen im Krügerpark bei der Betreuung der Elefantenherden hilft. Oder weil er einfach anders ist als andere Menschen.

Shingwezi jedenfalls hört und versteht diesen mutigen Schwarzen. Die Wut in ihren Augen ist einer tiefen Dankbarkeit gewichen.

Tshwane steigt - noch immer vorsichtig - vom Baum herunter und geht auf die beiden zu. Erschrocken weicht er zurück, als sich ihm der breite Kopf der Elefantenkuh nähert - doch dann lässt er die Berührung zu. Auch um seine Schultern legt Shingwezi ihren Rüssel. Die dicke raue Haut fühlt sich ungewohnt, aber nicht unangenehm an. Und als die Elefantendame ihm direkt in die Augen sieht, geht dieser Blick bis in die Seele.

Bongani strahlt ihn an: »Sie hat uns soeben adoptiert.«

»Wie bitte?«

»Ja. Sie hat verstanden, dass wir ihr Kind gerettet haben, und uns aus Dankbarkeit adoptiert. Sie wird von nun für uns sorgen wie für jedes ihrer Familienmitglieder. Du kannst stolz sein. Das passiert nur sehr selten.Vor allem aber gilt diese Adoption für alle Zeiten. Denn Elefanten haben ein gutes Gedächtnis. Also: Herzlich willkommen in der Familie der Elefanten.«

Tshwane guckt ungläubig. Dann fängt er an zu lachen. Ein erleichtertes, fröhliches Lachen. Er hat das Gefühl, endlich in Afrika angekommen zu sein.

Die Bilder, die Bongani ungewollt bei der Vertreibung der Löwinnen gemacht hat, schaffen es im September 1970 bis ins Time Magazine und sorgen dafür, dass sich Forschergruppen aus der ganzen Welt auf die Suche nach den geheimnisvollen weißen Raubtieren machen - und sie auch finden. Seither ist das ursprünglich 1956 eingerichtete Timbavati Game Reserve vor allem für seine seltene Population weißer Löwen bekannt, die auf einem Gen eine rezessive Mutation haben.

Tshwane aber erfährt zwei Wochen nach der Konfrontation mit den Wildtieren von seinen Eltern, dass die Familie in die DDR zurückkehren wird, weil sein Vater dort als Missionar arbeiten möchte. Schon kurze Zeit später reist er ab.Vor dem Abflug schwört der verzweifelte Junge seinem Freund Bongani in den Kronen des Mopane-Baumes ewige Freundschaft und beteuert, dass er sich regelmäßig melden wird. Doch als die Pubertät Tshwane in Deutschland wie ein heißer Wüstensturm überfällt und er sich zum ersten Mal verliebt - zum Schrecken seines Vaters in das frühreife FDJ-Mädchen Gisela -, vergisst er alle seine Versprechungen.

Nur das Bild von Shingwezi, die er in der ihm in Afrika verbliebenen Zeit nicht mehr wiedergesehen hat, begleitet Tshwane all die Jahre.Als wüsste er tief in sich, dass sie sein Leben noch einmal von Grund auf durcheinanderbringen und verändern wird. Elefanten haben ein gutes Gedächtnis.

Vorspiel 2003

12. Dezember 2003

Der Schuss sitzt. Aus siebzig Metern Entfernung. Gekonnt. Der Wildhüter nickt seinen beiden Begleitern zufrieden zu. Jetzt können sie nur noch warten, bis das Narkotikum wirkt. Das dauert einige Minuten.

Hoch aufragende Kumuluswolken ziehen vorüber und legen ihre Schatten wie samtene Decken über die Ebene. Die Männer war-ten im Schutz eines Baumes. Sie beobachten das angeschossene Tier aus sicherer Entfernung. Der Wildhüter mit einem alten Armee-Fernglas vor dem Gesicht.

Der Elefantenbulle wirft immer wieder den Kopf hoch. Irritiert. Und verärgert. Er überlegt, ob er die Eindringlinge angreifen soll oder nicht. Doch seine Bewegungen verlieren schon jetzt erkennbar an Kraft. Unruhig schwenkt er den Rüssel hin und her. Fängt an zu weben, wie das gleichmäßige Schaukeln von einem Bein auf das andere bei Elefanten genannt wird. Ein gigantisches Uhrenpendel, das immer langsamer wird: Die Zeit verrinnt lautlos, doch ihre Geschwindigkeit nimmt ab. Kurz darauf knicken die Vorderbeine des fast vier Meter hohen Bullen ein.

Jetzt rennt der Wildhüter los. Denn der Elefant muss in der richtigen Position zum Liegen kommen.Wenn er falsch landet, kann es passieren, dass die Eingeweide so sehr auf das Zwerchfell drücken, dass das riesige Tier erstickt. Doch es geht alles gut. Der Elefant legt sich ruhig hin und schließt die Augen.

Dennoch wartet der Wildhüter weitere fünfzehn Minuten, bevor er sich dem Bullen nähert. Er hat vor nicht allzu langer Zeit erlebt, dass einer seiner Kollegen von einem Elefanten zerquetscht wurde, weil sich ein scheinbar schlafender Dickhäuter noch einmal aufrichtete und den unvorsichtigen Mann gegen einen Felsen drückte. Ein unschöner Tod. Und vor allem überflüssig.

Als der Schütze sicher ist, dass der Bulle schläft, ruft er mit dem Walkie-Talkie seine an der Straße wartenden Helfer. Die erscheinen kurz darauf mit einem Kranwagen und einem Schwerlasttransporter. Sechs bis sieben Tonnen wiegt der Elefant, schätzt einer der zu warm angezogenen Männer, die schon beim Abschuss mit dabei waren, in holprigem Englisch. Er sagt dann etwas auf Russisch zu seinem Nachbarn, was dieser mit einem rauen Lachen quittiert.

Dreißig Minuten später ist der Elefant verladen. Und die Männer sind schweißgebadet.

Sie werden das Tier in einem Camp an die Transportkiste gewöhnen und dann - in einigen Wochen - mit dem Schiff an seinen Bestimmungsort bringen.

Ein guter Tag.

Denken sie.

Februar 2004 - Königstein

14. Februar 2004

Samstags ist der Opel-Zoo in der Nähe von Frankfurt am Main immer überfüllt.Vor allem bei schönem Wetter. Kinderhorden drücken sich an den Glasscheiben die Gesichter platt,Väter schieben, meist lustlos, widerspenstige Buggis über holprige Wege und Mütter rufen mit schrillen Stimmen entnervt nach trotzigen Mädchen oder heulenden Jungen, denen ihr Eis heruntergefallen ist. Eis! Im Februar. Über tierische Verhaltensweisen kann man an solchen Tagen wesentlich mehr vor als hinter den Gittern lernen.

Ich weiß nicht, warum ich an diesem Samstag eine Karte für den Tierpark gekauft habe. Eigentlich hasse ich Menschenansammlungen. Doch wenn ich es nicht getan hätte, wären Hannibal und ich uns nie begegnet. Und ich hätte all die unglaublichen Erfahrungen in Afrika verpasst. Heute sehe ich in den Ereignissen dieses Tages eine Fügung, damals hätte ich sie eher als Zufall bezeichnet.Andererseits, wenn einem etwas zufällt, muss es ja jemand losgelassen haben. Wie dem auch sei: Das größte Abenteuer meines Lebens begann am Valentinstag 2004 in einem kleinen Zoo im Vordertaunus.

Ich war, wie ich das gelegentlich tue, zur Entspannung den örtlichen Philosophenweg entlanggelaufen, der zwischen Königstein und Kronberg durch ein malerisches Tal führt - und als öffentlicher Wanderpfad den Zoo durchquert, sodass man, auch ohne zu bezahlen, am Nilpferdbassin, an den Affenhäusern und an einigen anderen Gehegen vorbeikommt.

Ich fühlte mich in diesem Winter ziemlich miserabel, weil kurz zuvor eine langjährige Beziehung in die Brüche gegangen und ich auch beruflich an einen toten Punkt gekommen war. Ich hatte viele Jahre erfolgreich außergewöhnliche Reportagen für nationale und internationale Magazine geschrieben (am bekanntesten sicher: »Afghanistan - Gute Landmine zum bösen Spiel?«, »Geheime Konten in Kairo - Jeden Monat ein Auszug aus Ägypten?« und »Über Laichen - Das Liebesleben des Dorsches«) und war für einen investigativen Bericht über »Die schwarzen Geschäfte der Öl-Mafia« sogar mit dem World-Press-Preis ausgezeichnet worden. Doch das ewige Herumreisen und das Springen von einem Projekt zum nächsten hatten mich müde und auch ein wenig mürbe gemacht. Ähnlich erging es mir mit meinem zweiten Standbein, der Musik. Ich hatte mich wiederholt dabei ertappt, dass ich beim Komponieren eigene ältere Melodien recycelte. Kurzum: Mir fehlte die Inspiration. Und weil ich ohnehin nicht genau wusste, was ich mit meinem Leben beziehungsweise mit diesem Tag anfangen sollte, kaufte ich mir eben eine Eintrittskarte für den Zoo. Zum Glück.

Wenig später stand ich mit Dutzenden anderer Menschen am äußeren Zaun des Elefanten-Freigeheges und beobachtete neugierig zwei große, graue Dickhäuter, die pausenlos Karotten in ihre Münder hineinstopften. Mit ihren Rüsseln holten sie das Gemüse aus unzähligen Kinderhänden, die sich ihnen gierig entgegenstreckten.

»Willst du auch eine?«

Ein kleines Mädchen mit Zöpfen hielt mir eine dreckige, gebogene Mohrrübe hin. Einen kurzen Moment dachte ich ernsthaft, es wolle sie mir zum Essen anbieten, bis mir klar wurde, dass ich den Elefanten damit füttern sollte. Ich wollte nicht, konnte aber den aufgerissenen Augen der Kleinen nicht widerstehen. Ein wenig unsicher legte ich die Karotte auf meine flache Hand und streckte den Arm aus. Seltsames Gefühl.

Der lange Rüssel des Elefanten kam, schnupperte an meinem Handgelenk und streifte dabei kurz den Schnappverschluss meiner Uhr, der schon immer leicht aufgegangen war. Erschrocken riss ich die Hand in die Höhe, woraufhin meine teure Armbanduhr in hohem Bogen in das Gehege flog.

»Mama, der alte Mann bewirft den Elefanten mit seiner Uhr.«

Ich wusste nicht, worüber ich mich am meisten ärgern sollte: darüber, dass das Mädchen einen Siebenunddreißigjährigen als alten Mann bezeichnete, dass meine Uhr weg war oder dass etwa vier zig Augenpaare mich, den scheinbar ertappten Tierquäler, hasser füllt anstarrten. Ich ging wortlos davon und suchte mir am Weg einen längeren Ast, mit dem ich das wertvolle Geschenk meiner Mutter aus dem Dreck zwischen den Elefantenfüßen fischen konnte.

»Mama, der Opa will den Elefanten mit einem Stock hauen.«

Das mag lustig klingen, aber der Gesichtsausdruck des Vaters der Kleinen, der mir den Ast mit einem derartigen Ruck aus der Hand riss, dass ich eine blutige Schramme am Daumen bekam, war es nicht.

»Wenn Sie noch einmal einem Tier wehtun, prügele ich Sie windelweich. Verstanden? Was Tiere angeht, verstehe ich keinen Spaß.«

Ich wollte gerade zu einer harschen Erwiderung ansetzen, da zog mich jemand zur Seite. »Aber meine Uhr …«

»Warten Sie einfach einen Augenblick.Aruba trauert.«

Ich schaute den leicht fülligen Mann mit dem weichen Gesicht und der tiefen Stimme verständnislos an.War das ein Geheimagent? Codewort »Aruba trauert«.

»Wovon reden Sie? Wer ist Aruba? Und was wird aus meiner Uhr?«

Er hielt mir seine Hand hin und sagte freundlich: »Hannibal Mayer. Ich habe gesehen, was passiert ist. Aber so werden Sie Ihre Uhr niemals wiederbekommen. Vor allem nicht, solange diese selbstgerechten Tierschützer Sie beobachten.«

Ich erwiderte den Händedruck verwirrt. »Vogt. Fabian Vogt. Seien Sie nicht böse, aber sollte ich nicht meine Uhr retten, bevor ein Elefant drauftritt?«

»Weil Aruba trauert, braucht sie Zeit.«

»Ich will ja nicht nerven, aber wer ist Aruba?«

Er deutete wortlos auf das leicht angerostete Schild vor sich am Gatter, auf dem erläutert wurde, dass Aruba die älteste Elefantin des Zoos ist, aus Afrika stammt und 1979 das Licht der Welt erblickt hat, während ihre jüngeren Gefährtinnen,Wankie und Zimba, erst 1982 geboren wurden.

»Ach so. Und warum trauert sie?«

Er griff sich mit der Hand in seine linke, tief eingeschnittene Geheimratsecke und riss sich nachdenklich ein Haar aus. Dann erst sah er mich wieder an. »Vor zwei Wochen ist Ali, der Elefantenbulle des Zoos, bei einer Fußoperation überraschend an Herz-Kreislauf-Versagen gestorben. Deshalb trauern die Weibchen. Er war erst dreiundzwanzig und es ist ein schrecklicher Verlust für sie.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Entschuldigen Sie. Trauern. Klingt das nicht ein bisschen … menschlich?«

Nun sah mich Hannibal Mayer erstaunt an. »Nein, keineswegs. Elefanten trauern. Sehr intensiv sogar. Wie Menschen. Sie bedecken zum Beispiel verstorbene Familienmitglieder mit Zweigen, und wenn sie an einem Ort vorbeikommen, an dem ein Tier verendet ist, legen sie dort jedes Mal eine Gedenkminute ein. Vielleicht entstanden so die Mythen von den Elefantenfriedhöfen.Aber das ist noch nicht alles: Elefanten weinen sogar, wenn sie traurig sind.«

Ich lachte. »Sie übertreiben. Oder?«

»Nein, schauen Sie selbst.« Er deutete mit einem spitzen Finger auf die größte Elefantenkuh. »Schauen Sie sich ihre Augen ganz genau an. Sie weint.«

Tatsächlich. Unter den dicken Wimpern des Tieres hingen große Tropfen. Und jetzt sah ich auch die Trauer im Blick Arubas. »Ich wusste nicht, dass Elefanten so … äh, einfühlsam sind.«

»Oh ja, das sind sie. Sie sind klug und kennen wie wir alle Gefühle: Freude,Trauer,Aggression, Liebe,Angst und Leidenschaft. Und sie treten füreinander ein.Vor allem aber sind sie lernfähig. Das heißt: Elefanten sind keine Instinkttiere. Wie bei den Menschen wächst ihr Gehirn langsam und sie müssen nach ihrer Geburt fast alles von ihrer Mutter und ihren Tanten beigebracht bekommen oder es sich durch Erfahrung aneignen. Die älteren Tiere geben ihr Wissen dann wei ter - von Generation zu Generation. Und wie Sie vielleicht schon gehört oder gelesen haben: Elefanten besitzen ein sehr gutes Gedächtnis. Darum ist der Elefant in vielen Kulturen ein Symbol für Weisheit und Stärke. Er kann Pläne schmieden und sie auch um setzen.«

Ich grinste. »Sind Sie Biologe oder Tierpfleger?«

Er reagierte nicht auf mein Grinsen, sondern sagte leise, fast schüchtern: »Weder noch. Ich bin Unternehmer. Elefanten sind mein Hobby. Und was machen Sie?«

»Ich bin Journalist und Musiker - allerdings im Augenblick ein wenig frustriert.«

Ich wusste nicht, warum ich das sagte. Ich kannte den Mann ja gar nicht. Darum fügte ich schnell hinzu: »Was wird denn jetzt aus meiner Uhr?«

Hannibal Mayer schaute kurz über seine Schulter, dann winkte er mich hinter sich her. »Kommen Sie. Die aggressiven Eltern von vorhin sind weg.«

Am Zaun stellte er sich breitbeinig hin und bat die herumstehenden Familien mit einer natürlichen Autorität, das Füttern einen Moment zu unterlassen. Dann sah er der Elefantin in die Augen und deutete mehrfach lachend auf meine Uhr, die noch immer am Boden lag. »Heya! Heya!«

Fasziniert schauten ihn die Umstehenden an. Doch plötzlich erhob sich ein Murmeln. Denn Aruba stellte tatsächlich den Kopf schräg, erspähte die Uhr, hob sie mit ihrem Rüssel auf - und ließ sie in Hannibals Hand fallen. Begeisterter Applaus beendete die kurze Vorstellung und der nun sehr entspannt wirkende Unternehmer deutete eine kleine Verbeugung an, bevor er mir das kostbare Stück in die Hand drückte. »Bitte sehr.Wissen Sie, Elefanten spielen gerne.Würde Aruba nicht trauern, hätte sie Ihnen die Uhr wahrscheinlich von allein zurück gegeben. So musste ich ein wenig nachhelfen. Aber es hat ja funktioniert.«

Ich streifte die Uhr über. »Wo haben Sie das gelernt?«

Er schwieg einen Augenblick, schüttelte dann in Gedanken versunken den Kopf und erwiderte melancholisch: »Bei einem guten Freund. Ist aber schon lange her. Mehr als dreißig Jahre.«

Eine Schwere hatte ihn mit einem Mal ergriffen und ich sagte spontan: »Ich würde mich gern für Ihre Hilfe bedanken. Darf ich Sie zu einem Glas Wein oder einem Bier einladen?«

So landeten wir im Zoo-Restaurant »Sambesi« - und ich erfuhr dort zum ersten Mal von den ungewöhnlichen Plänen Hannibal Mayers, die die Kraft hatten, mich und die Welt zu verändern.

Zu Beginn redete allerdings nur ich.Wir saßen auf großen Sesseln aus Bambus - und ich erzählte und erzählte. Aus irgendeinem Grund vertraute ich diesem Mann. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht ging ich davon aus, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Jedenfalls sprach ich offen von meinen Schreibblockaden, von der Enttäuschung über mein wieder einmal gescheitertes Liebesleben und von den vielen herausfordernden Fragen, die ich plötzlich an das Dasein hatte. Da sagte er mitten in einen Satz hinein: »Glauben Sie an Gott?«

Ich stellte mein Glas ab.Verdutzt entgegnete ich: »Das weiß ich nicht so genau.Wieso fragen Sie?«

»Ach, das liegt mir wohl in den Genen.Wissen Sie: Mein Vater war Missionar. Einer, der auf alles eine Antwort hatte. Zu jeder Zeit. Wahrscheinlich habe ich mich deswegen auch vom Glauben abgewandt. Das war mir alles zu einfach. Trotzdem sehne ich mich manchmal nach dem Urvertrauen und der Hoffnung, die mein Vater hatte. Er hätte Ihnen wahrscheinlich gesagt, dass Sie sich mit Ihren Gedanken zu sehr um sich selbst drehen und dass man sich einen Sinn gar nicht selbst geben kann. Und dann wäre er ganz schnell beim Heiland gelandet.«

»Nun, darauf ein kräftiges ›Amen‹.«

Wir hoben die Gläser und tranken uns fröhlich zu. Dann beugte er sich zu mir und senkte die Stimme. »Glaube und Wahnsinn sind manchmal sehr nah beieinander.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

Er flüsterte nur noch: »Weil ich seit einiger Zeit Visionen habe - und mich frage, ob ich nicht langsam verrückt werde. Oder ob das möglicherweise doch so eine Art himmlisches Zeichen ist.«

»Visionen? Was meinen Sie denn damit?«

»Nennen wir es lieber Träume. Oder besser: einen Traum. Es ist ein Traum, den ich seit Wochen immer wieder habe. Und er ist viel klarer, als Träume es gewöhnlich sind. Ich sehe die Dinge scharf und präsent - und kann mich am Morgen an jedes Detail erinnern. Und irgendwie hat es etwas mit diesem Reiher zu tun.«

»Was denn für ein Reiher?«

Sein Mund war jetzt fast an meinem Ohr: »Anfang Januar saß eines Abends ein afrikanischer Reiher auf meinem Balkon.Ardeola ibis. Den erkennen Sie an den roten Beinen. Der hat zu dieser Jahreszeit nun wirklich nichts in Deutschland zu suchen. Und ich vermutete zuerst, das wäre ein Hinweis auf die Klimakatastrophe - vor allem, weil der Vogel mich so intensiv anstarrte. Ich machte die Vorhänge zu und dachte nicht weiter daran.Aber in jener Nacht hatte ich zum ersten Mal den Traum. Seither taucht dieser Reiher regelmäßig auf. Und jedes Mal träume ich dann nachts.«

Ich musste schlucken. »Und was träumen Sie, wenn ich fragen darf?«

»Sie werden lachen.«

Ich hob demonstrativ die Hände. »Auf keinen Fall. Ich bitte Sie. Sie haben mir zugehört. Und ich werde Ihnen auch gerne zuhören.«

»Gut.Aber bitte nicht lachen. Ich weiß ja selbst nicht, wie ich das alles einordnen soll.Vielleicht erweist sich das Ganze als reine Fantasie, als nervliche Überreizung oder so etwas.«

»Jetzt erzählen Sie schon.«

»Also: Ich sehe Shingwezi vor mir, eine Elefantenkuh, mit der ich es einmal vor langer Zeit zu tun hatte. Sie ruft mich zu sich. Sie braucht meine Hilfe. Sie bittet mich, zu ihr zu kommen und sie zu befreien - aus dem von Elefanten völlig übervölkerten Krügerpark. Sie braucht mich, ich weiß es. Das ist der verzweifelte Ruf einer leidenden Kreatur aus der Wildnis.«

Ich trank einen Schluck von meinem Wein. »Einmal angenommen, das stimmt und Sie hören tatsächlich den Hilferuf eines Tieres: Wie stellt sich diese Elefantin in Ihrem Traum das denn vor? Sollen Sie einen solchen Dickhäuter hier in Ihrem Vorgarten halten?«

Hannibal Mayer trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Dann hauchte er geheimnisvoll: »Sie sind der erste Journalist, dem ich davon erzähle. Und ich komme mir irgendwie komisch dabei vor.Aber diese Träume sind einfach zu real.Außerdem ist die Antwort auf Ihre Frage gar nicht so schwer: Ostdeutschland!«

»Ostdeutschland? Verstehe ich nicht.«

»Sehen Sie, ich komme aus dem Osten und leide sehr darunter, dass dort inzwischen ganze Landstriche fast entvölkert sind, weil die Menschen abwandern. Und ich habe das Gefühl - aber bitte, das ist meine Interpretation -, dass Shingwezi mich ermutigen will, auf den riesigen brachliegenden Flächen in Ostdeutschland eine Art Elefantenlodge aufzumachen. Ich muss selbstkritisch sagen: Vielleicht meldet sich da auch einfach der Unternehmer in mir. Das Erstaunliche ist nur: Ich habe letzte Woche eher zufällig mit dem zuständigen Kreisvorsteher vom Niederen Fläming in Sachsen-Anhalt gesprochen - und der war hin und weg von der Idee. Schließlich wäre das endlich einmal ›Aufbau Ost‹ konkret. Die Region bekäme eine echte Touristenattraktion, es gäbe viele neue Arbeitsplätze und die Infrastruktur würde gestärkt. Jedenfalls hat dieser Kreisvorsteher die Idee gleich in den Kreisbeirat eingebracht, und seitdem ruft mich fast jeden Tag ein Bauer an, der mir noch ein paar Hektar Land für das Projekt ›Elefantenpark‹ anbieten möchte.«

Ich hob die Hand. »Jetzt mal langsam. Bitte noch mal von vorne. Ich habe das noch nicht richtig verstanden. Sie meinen ernsthaft, ein Tier ermutigt Sie im Traum, ein Elefantengehege in Ostdeutschland aufzumachen? Wer ist diese Shingwezi überhaupt?«

Da erzählte er mir die ganze Geschichte: von seiner Zeit in Südafrika, der bewegenden Freundschaft mit Bongani, von ihrer Suche nach den weißen Löwen, von der Jagd der Raubkatzen auf Epila, das Elefantenjunge, und der wagemutigen Rettungsaktion des Schwarzen. Ich lauschte seinen Worten gebannt und unterbrach ihn kein einziges Mal.Als er fertig war, fragte ich: »Und Sie glauben ernsthaft, dass diese Elefantenmutter jetzt mit Ihnen spricht? Dass sie Kontakt aufgenommen hat?«

Da sah er mich ganz erstaunt an: »Natürlich. Ich bin doch ihr Kind. Und Familienmitglieder müssen zusammenhalten.«

Ich hob die Hand, um noch einmal Getränke zu bestellen. Aber auch, weil meine Gedanken sich erst wieder ordnen mussten. Dann sagte ich: »Einiges ist mir noch unklar. Können Elefanten überhaupt in Deutschland leben? Also: im freien Gelände.«

Hannibal riss sich wieder ein Haar aus. Dann sagte er ruhig: »Selbstverständlich. Elefanten leben auf Meereshöhe, aber auch in Hochmooren auf viertausend Metern Höhe. Die kommen fast überall zurecht.Wussten Sie nicht, dass noch vor dreitausendsiebenhundert Jahren auf der Wrangel-Insel Mammuts lebten? Das war erdzeitlich gerade erst gestern. Ich sage Ihnen eines: Sachsen-Anhalt hat ideale Bedingungen für eine Neuansiedelung der Elefanten in Mitteleuropa. Hier im Opel-Zoo ist man unglaublich stolz darauf, dass 1965 und 1968 zwei Kälber geboren wurden. Elefantenzucht in Europa. Das war damals eine Sensation. Doch im Niederen Fläming könnten die Tiere sich unter ganz natürlichen Bedingungen fortpflanzen. Warum soll Ostdeutschland nicht wieder eine natürliche Elefantenregion werden?«

Ich nickte der Kellnerin kurz zu, die zwei weitere Gläser Wein brachte. Dann nahm ich hastig einen Schluck. »Also: Sie wollen diese Shingwezi mit einem Container hierherbringen. Und dazu einen Bullen. Oder wie muss ich mir das vorstellen?«

Hannibal Mayer winkte ab. »Habe ich das nicht erwähnt? Shingwezi ist die Matriarchin einer großen Herde von etwa hundert Tieren. Elefanten leben in Verbänden, die von einem weisen und erfahrenen Muttertier angeführt werden.Wie gesagt: Bisher ist das alles nur eine verrückte Idee. Ausgelöst durch diesen wiederkehrenden Traum.Aber es stimmt:Wenn, dann müsste ich alle hierherbringen.«

»Wie bitte? Hundert Elefanten? Das wird ja wohl ziemlich teuer.«

Jetzt lachte er. »Richtig. Und deshalb bleibt nur die Option zu Land. Die Strecke dürfte in einem Jahr zu schaffen sein.«

Jetzt verschlug es mir fast die Sprache. »Sie überlegen ernsthaft, mit hundert Elefanten von Südafrika nach Sachsen-Anhalt zu ziehen? Das ist doch absurd.«

Seine Stimme klang ein wenig gereizt, als er erwiderte. »Wieso? Mir fallen viel absurdere Sachen ein: Es gibt Menschen, die umrunden die Welt mit einem Fahrrad, einem Kettcar, einem Einhandsegler, einem Tretboot, einem Motorrad, einem Pony oder einem Ballon. Das finde ich absurd. Oder denken Sie an all die Bungee-Jumper, die Headbanger oder die Teilnehmer von Big Brother. Die wirken auf mich so, als hätten sie nicht mehr alle. Ich dagegen möchte etwas wahrhaft Sinnvolles tun. Und ich sage Ihnen eines: Ein derartiger Zug um die halbe Welt wäre für Sachsen-Anhalt eine unglaubliche Marketing-Kampagne. Unser Bundesland wäre in aller Munde.Außerdem könnte das Elefantengehege gar keinen besseren Start erleben. Sie würden doch auch gern eine Herde sehen wollen, die gerade mehr als zehntausend Kilometer hinter sich gebracht hat, um zu Ihnen zu kommen. Oder?«

In diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob dieser Mann vor mir ein großer Visionär oder einfach ein Wahnsinniger war. Konnte es wirklich gelingen, mit hundert Elefanten eine solche Strecke zurückzulegen? Andererseits: Alle großen Veränderungen und Unternehmungen galten irgendwann einmal als unmöglich. Es braucht immer eine Person, die es wagt, das Unmögliche zu denken und es möglich zu machen. War Hannibal Mayer so jemand? Zumindest leuchteten seine Augen vor Begeisterung - und das gefällt mir grundsätzlich an Menschen.

Vorsichtig fragte ich: »Was werden Sie jetzt machen?«

Er hob sein Glas an die Lippen, trank es aus und breitete ein wenig zu theatralisch die Arme aus - so schwungvoll, dass die letzten Tropfen aus dem Glas bis zum Nachbartisch flogen. »Keine Ahnung.Wirklich nicht.Wenn die Träume wieder aufhören, werde ich das Ganze wahrscheinlich einfach auf sich beruhen lassen und irgendwann vergessen. Doch wenn sie wiederkommen, könnte ich zum Beispiel nach Südafrika fliegen und Bongani suchen. Falls er noch lebt, müsste er ja den gleichen Traum träumen. Schließlich hat Shingwezi uns beide adoptiert.«

Er beugte sich zu mir vor: »Wie gesagt, manchmal überlege ich sogar, ob diese Träume nicht irgendwie … von Gott kommen. Nebenbei: Wissen Sie, dass Martin Luther das Wort Elefant im Deutschen eingeführt hat? Ja, das stimmt wirklich. Im Althochdeutschen sagte man noch Helfant, von Helfen, ein hilfreiches Tier - und Helfenbein war der Knochen des hilfreichen Tieres. Luther hat dann das H weggelassen. Ich erzähle das auch, weil ich mich frage, ob es nicht an der Zeit ist, dass wir Menschen unsererseits anfangen, den Tieren zu helfen. Übrigens: Vielen Dank für die Einladung. Es war nett, Sie kennenzulernen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.«

Sein Gesichtsausdruck war so freundlich und herzlich, dass ich - als wäre das selbstverständlich - erwiderte: »Hey, wenn das mit Ihrer Elefanten-Karawane was wird, rufen Sie mich doch kurz an.Vielleicht brauchen Sie ja jemanden für die Pressearbeit.«

Er nickte gedankenverloren und wir tauschten unsere Visitenkarten aus. Dann stand er auf und ging.

Die Begegnung mit Hannibal Mayer hat mich in den darauffolgenden Wochen immer wieder beschäftigt.Vor allem, weil ich, als ich bezahlt und das Restaurant »Sambesi« verlassen hatte, auf dem Gartenzaun vor dem Biergarten einen rotbeinigen Reiher sitzen sah.

Ich fragte an der Kasse nach, doch die junge, leicht schielende Frau schüttelte nur den Kopf und sagte in breitem Hessisch: »Rohtbeinische Reiäh gibt es im Obbel-Zoo ned.«

Viele Monate hörte ich nichts von meinem ungewöhnlichen Gesprächspartner - und dann klingelte eines Nachts das Telefon.

August 2005 - Südafrika

8. August 2005