Menschen am Abgrund

Ein seelsorgerlicher Beitrag zu Verlust und Trauer

Harald Petersen

Verlusterfahrungen kann niemand umgehen, denn sie sind so sicher wie das Amen in der Kirche. Wenn man könnte, wie man wollte, würde man sie aus seinem Leben streichen. Krankheit, Tod und Trauer, Trennungen und Arbeitslosigkeit, einfach streichen. Aber die Zeit, in der das alles gestrichen wird, kommt erst noch. In Gottes neuer Welt, so berichtet Johannes in seiner Offenbarung (Kap. 21, 1–5a):

Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde. Der erste Himmel und die erste Erde waren verschwunden, und das Meer war nicht mehr da. Ich sah, wie die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkam. Sie war festlich geschmückt wie eine Braut für ihren Bräutigam. Und vom Thron her hörte ich eine starke Stimme rufen: „Dies ist die Wohnstätte Gottes bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein. Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein. Er wird alle ihre Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben und keine Traurigkeit, keine Klage und keine Quälerei mehr. Was einmal war, ist für immer vorbei.“ Dann sagte der, der auf dem Thron saß: „Gebt Acht, jetzt mache ich alles neu!“

Aber hier und heute haben wir noch mit Verlusten und Schicksalsschlägen zu kämpfen. Sie und ich. Ich habe im Leben schon viel verloren, und doch geht es mir gut. Denn ich habe viel, was andere nicht (mehr) haben. Und ich weiß, dass es kein Leben ohne Verlusterfahrungen gibt. Zudem habe ich erfahren, wie ich aus manchen Krisen sogar gestärkt und bereichert herauskam. Und dennoch bleibt nach mancher Wunde zeitlebens eine Narbe zurück.

Eigentlich ganz normal

Es ist also normal, etwas zu verlieren bzw. loszulassen. Normal meint aber nicht, dass es einfach sei. In der akuten Situation zieht es einem fast den Boden unter den Füßen weg.

Einen Unterschied macht immer, ob man etwas freiwillig oder unfreiwillig loslässt. Nehmen wir als Beispiel Beziehungen. Für den, der vom anderen „genug“ hat und eine Trennung anstrebt, ist es meist leichter, diese zu verkraften, als für den Partner, der in der Beziehung ganz zufrieden war und nun vor vollendete Tatsachen gestellt wird.

Und wer sich rechtzeitig damit auseinandersetzen kann, dass seine körperlichen Kräfte und Fähigkeiten abnehmen, etwa im Alter, der wird dies in der Regel besser verkraften als ein jüngerer Mensch, der durch einen Unfall seinen geliebten Sport aufgeben muss.

Jeder erlebt es anders

„Neulich verlor ich auf der Straße 1,- €, das war mir so was von egal. Dann verlor ich an der Börse durch den Kurseinbruch 1000,- €, das war mir nicht mehr egal.“

Nicht, ob jemand Geld verliert, sondern wie viel Wert es für ihn hatte, das entscheidet darüber, wie schmerzhaft der Verlust empfunden wird. Ich kenne nämlich Menschen, deren persönliche Schmerzgrenze beginnt erst irgendwo bei 10.000,- € und mehr.

Aufgrund seiner persönlichen Situation reagiert also jeder Mensch anders auf Verluste. So kommt es auch, dass Menschen sehr unterschiedlich lang und intensiv trauern. Wenn in einer sechsköpfigen Familie ein Familienmitglied stirbt, verarbeiten alle fünf das auf ihre Weise. Auch kulturelle Gepflogenheiten spielen eine Rolle. Früher hielt man viel vom Trauerjahr und trug in dieser Zeit schwarze Kleidung. Heute hat sich das geändert, und die alte Norm gilt nicht mehr. Ich denke, das ist gut so, denn Trauer wird immer sehr individuell erlebt und soll ja nicht zusätzlich durch den Druck der Gesellschaft erschwert werden.

Gleiches gilt beim Verlust des Arbeitsplatzes. Mancher steckt das schnell weg, für andere bricht eine Welt zusammen. Warum ist das so? Weil die Lebensumstände und die Persönlichkeit des Einzelnen jeweils anders sind. Mit unserer typischen Veranlagung, unserem Charakter, reagieren wir sogar auf die gleichen Ereignisse bzw. Auslöser anders. Wenn 30 Mitarbeiter einer kleinen Firma erfahren, dass der Chef Konkurs angemeldet hat, verarbeiten alle 30 es anders, viele ähnlich, aber anders. Der eine ärgert sich über den Chef, ein anderer weint, der dritte zeigt Galgenhumor, der vierte hat Angst, sein Häuschen nicht mehr abzahlen zu können, der fünfte sieht seine Chance auf einen besseren Job ...

Jeder hat das Recht auf seine originale, manchmal auch originelle Reaktion. Denn jeder von uns ist als Gottes Geschöpf ein wertvolles Original. Der eine sucht Erklärungen und Auswege, der andere lässt tatenlos alles laufen und fügt sich in sein sogenanntes „Schicksal“. Mancher versucht zu flüchten, mal in übermäßige Arbeit, mal in Suchtmittel, aber wer flüchtet, wird mit seiner Lebenslage auch nicht fertig, denn oft kommen neue Probleme hinzu. Und das Ursächliche wird so nicht geklärt. Aber, Gott sei Dank, verarbeiten viele Menschen ihre schwere Verlusterfahrung auch auf konstruktive Weise. Trotzdem stellt sich in der Krise oft eine besondere Frage.

Verstehe einer Gott ...

Niemand sollte einem anderen Menschen bestimmte Verhaltensweisen nach einer Verlusterfahrung vorschreiben. Auch die Klage bzw. Anklage gegen Gott gehört zu den individuellen Reaktionen auf schmerzhaften Verlust. Man fragt sich: Wie passt das Böse in der Welt mit dem allmächtigen, liebenden Gott zusammen? Die ungezählten Antwortversuche auf diese sogenannte „Theodizeefrage“ bleiben Stückwerk. Solange man nicht selbst vom Leid betroffen ist, kommt man ganz gut mit Lehraussagen zurecht. Aber was hilft, wenn das Leid nicht mehr auf Distanz bleibt? Wenn man merkt, dass nicht nur die Ehen anderer scheitern, wenn der Tod viel zu früh anklopft, der Arbeitgeber zwar sein Schäfchen im Trockenen hat, aber ich auf der Strecke bleibe, wenn ich Stammgast beim Arzt werde oder meine Gemeinde an Unversöhnlichkeit zu Bruch geht ...

Ich selbst werde mit dem Leid nur fertig, weil ich an einen guten Gott glauben kann. Das Leid führt mich gerade zu ihm, weil ich nicht an ein blindes Schicksal glaube. Also werde ich mein Leben, gerade auch die Tage oder Situationen, die ich am liebsten streichen möchte, mit Gott in Kontakt bringen (beten), denn das Leid ist zwar eine tiefe, aber nicht die letzte oder größte Realität. Gott antwortet auf unsere Klage. Aber nicht nur im Sinne einer Verstehenshilfe. Das wäre zu wenig. Er antwortet dem, der klagt, und gibt ihm Halt. Das ist mehr als nur eine Erklärung auf die Warum-Frage. Denn die bekommen wir nicht immer, aber seiner Hilfe können wir gewiss sein. Gott selbst steht dafür gerade, dass unsere Hoffnung kein leeres Geschwätz ist. Wenn es in dieser Welt mit allem Leid, Hass und Egoismus etwas zu hoffen gibt, dann will ich auf Gott hoffen. Auf den, der die Glaubenden nie loslässt. Gerade dann nicht, wenn es ganz schwierig wird. Gerade dann nicht.

Gegen alle Logik halte ich darum fest: Gott macht nichts verkehrt. Auch die unverständlichsten Entscheidungen sind bei ihm besser aufgehoben als bei uns. Weil er das Ganze überblickt und Maßstäbe hat, die nicht nur für hier und heute gut sind. Unsere Gedanken über Leben und Tod sind immer begrenzt (Jes. 55,7–9) und einseitig, denn wir definieren alles durch unsere Brille und unsere Wertmaßstäbe. Leben, Gesundheit und Wohlergehen zählen für uns zu den höchsten Werten. Können wir überhaupt denken, dass es aus Gottes Sicht noch Wichtigeres gibt? Die Worte Jesu aus Matth. 16,24–26 sind ein wichtiges Korrektiv, wenn uns Karriere über alles geht oder wir Gesundheit um jeden Preis wollen:

Dann sagte Jesus zu seinen Jüngern: „Wer mir folgen will, muss sich und seine Wünsche aufgeben, sein Kreuz auf sich nehmen und auf meinem Weg hinter mir hergehen. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Aber wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen. Was hat ein Mensch davon, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber zuletzt sein Leben verliert? Womit will er es dann zurückkaufen?“

Tragende Fundamente

Unser Leben liegt wie eine Brücke auf zwei Pfeilern. Darunter tobt das Wasser manchmal gewaltig und macht uns Angst. Aber die Pfeiler haben ein zuverlässiges Fundament. Dieses Bild habe ich im Kopf, wenn ich bei Paulus lese (Röm. 5, 3-5), dass er sich seiner bedrängenden Situationen rühmt, denn „Trübsal bringt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, und Hoffnung lässt nicht zuschanden werden“. Glorifiziert der Apostel das Elend seines Lebens, ist er ein frommer Phantast? Nein, keineswegs. Er hat gelernt, dass selbst die Bedrängnis ihn nicht von Gott trennt, sondern weiterbringt im Leben. Der Apostel erklärt, warum er diesen geistlichen Prozess von der Trübsal bis zur Hoffnung erlebt. Dazu spricht er die zwei Fundamente bzw. Pfeiler an, auf denen sein Leben ruht: Hoffnung über dieses Leben hinaus auf die zukünftige Herrlichkeit, die Gott geben wird (V. 2), und die Versöhnung mit Gott durch Jesus Christus (V. 11). Diese beiden geistlichen Fundamente gaben ihm Halt, als er in Mazedonien bereits mit seinem Leben abgeschlossen hatte (2. Kor. 1,8–10). Jeder Christ steht auf diesen Fundamenten!

Gott leidet mit an unserem Jammer. Auch er freut sich auf bessere Zeiten und sagt: „Siehe, ich mache alles neu“ (Offenb. 21,5). Gott kann schon hier trösten, wie Eltern Kinder trösten, die auch nicht alles verstehen. Gott gibt Hoffnung, nicht nur dem Leidenden.

Manchmal habe auch ich nur noch ein Glaubensminimum – aber es reicht, wenn ich noch beten kann: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“ (Mark. 9,24). Es ist befreiend zu wissen, dass Gott von unserer jeweiligen geistlichen und emotionalen Befindlichkeit nicht abhängig ist. Denn

Gott ist immer noch Gott

Gott ist immer noch

Gott ist immer

Gott ist

Gott

(Nach einem Lied von Eberhard Laue)

Zu den Hilfen aus der Beziehung zu Gott gehört unverzichtbar die Bitte, dass er sich unserer erbarme, aber auch die Klage hat ihr Recht. Denn niemand muss vor Gott verschweigen, was sich in ihm abspielt.

Freiräume einnehmen

Verlust bedeutet, Gewohntes zu verlassen bzw. verlassen zu müssen und neue Wege zu gehen. Das Betreten neuer Freiräume ist eine schwierige Aufgabe und Chance zugleich. Denn es entsteht eine Lücke, wenn etwas Vertrautes nicht mehr da ist. Das macht Angst. Ungewohntes macht meist Angst, weil wir unsicher sind und nicht wissen, was auf uns zukommt. Als wäre Traurigkeit nicht schon genug Last auf unseren Schultern.

Wie sieht die Chance der Krise denn aus? Ich versuche, es mit drei Reifungsebenen darzustellen:

1. Wir reifen in der Krise durch neue Selbsterfahrungen

– Erkennen, wieso uns eine Lage zur Krise geworden ist. Warum reagiere ich, wie ich reagiere? Warum haut mich etwas um? Wo brauche ich Hilfe?

– Annehmen der Krise. Annehmen bedeutet nicht gutheißen, sondern etwas als gegebene Tatsache akzeptieren, statt zu verdrängen. Kämpfen ist gut, aber Rebellion vergeudet Kräfte.

– Umdenken und neue Ziele anvisieren. Verlust verändert unser Leben. Und verändert uns. Es geht nicht mehr so weiter wie bisher. Was bedeutet das konkret?

– Neu beginnen und kleine Schritte gehen. Überfordern Sie sich nicht. Die Zeit allein heilt zwar keine Wunden, aber Wunden brauchen Zeit, um zu heilen. Kleine Schritte und Zwischenziele sind eher machbar und erreichbar. Das erhöht die Motivation für alles Weitere.

2. Wir reifen in der Krise durch neue Erfahrungen mit unseren Mitmenschen

– Die Hilfe anderer erleben. Das ist eine wertvolle Erfahrung. Wohl dem, der Freunde hat.

– Das Angebot von Seelsorge und Beratung annehmen. Es gibt Fachleute, die helfen können.

– Die Hilfe anderer nicht bekommen. Ja, auch das gehört zu den Erfahrungen in der Krise und macht etwas mit uns und unseren Beziehungen. Selbst darin liegt eine Chance.

– Lernen für die Zukunft. Wenn die Zeit dazu „reif“ ist, sollten wir uns der Zukunft stellen. Denn „das Leben geht weiter“ ist keine Floskel, sondern Realität.

3. Wir reifen in der Krise durch neue Glaubens- und Gotteserfahrungen

– Glaube, so klein wie ein Senfkorn, reicht aus, denn „Gott kann“! Vertrauen Sie ihm!

– Gottes Wort wirkt. Man muss es nur kennen und ihm Raum geben.

– Gebet ist Reden und Hören. Wer nur redet, kann nicht aufmerksam hinhören!

– Beten und Handeln. Beides gehört untrennbar zusammen und fordert uns heraus.

Manches ist Einstellungssache. Ein paar kleine Hilfen mit großer Wirkung

– Schätzen, was ich habe. Wer etwas verloren hat, hat normalerweise nicht alles verloren.

– Es bleiben uns andere Menschen. Es bleiben uns andere Fähigkeiten. Es bleibt uns, was wir zum Leben brauchen. Es bleibt so viel, was ein Segen ist. Trotz allem!

– Menschen sind wichtiger als materieller Besitz. Wer von seinem Hab und Gut verloren hat oder durch schwere Krankheit geht, der erkennt oft, was im Leben wirklich zählt!

– Eine Alternative als Lösung? Ja, je nach persönlicher Zeit, die man zum Verarbeiten eines Verlustes braucht, findet mancher eine gewisse Alternative.

– Neue Beziehungen etwa. Oder eine andere Aufgabe. Vielleicht ein neues Hobby, bei dem die Krankheit nicht hinderlich ist. Seien Sie offen dafür. Neues annehmen bedeutet nicht, das Alte, das Frühere rückwirkend gering zu achten.

– Danken Sie für das, was war und was Sie hatten, denn weder Trennung und Tod, weder Alter oder Krankheit können ungeschehen machen, was Ihnen einmal wertvoll war. Alles hatte und hat seine Bedeutung auch für die Gegenwart. Unsere wertvolle Vergangenheit hat die Gegenwart geprägt und ragt, selbst wenn etwas beendet ist, in unsere Zukunft hinein. Solche Dankbarkeit ist stark genug, um es sogar mit unserer Trauer aufzunehmen und ihr manchen Schrecken zu entreißen.

Zum Abschluss: Kleine Hilfen für Helfer

Zum Schluss möchte ich noch einige Hilfen für „freundliche bzw. seelsorgerliche Weggefährten“ anschließen. Es geht um praktische Hilfen statt gut gemeinter Ratschläge. Denn wer am Abgrund steht, braucht Richtungswechsel.

Abbruch und Umbruch

Eine Steilküste birgt große Gefahren. Trotzdem ist sie nicht mit einem Schutzgitter versehen. In unserem Leben gibt es viele Angst machende, gefährliche Abgründe, etwa Krankheit und Trauer, Zerbruch von Beziehungen, Verlust des Arbeitsplatzes, finanzielle Sorgen, Burnout, Einsamkeit, Sinnlosigkeit ... Niemand ist davor sicher.

Wenn Menschen mit ihren Kräften, Hoffnungen und Möglichkeiten am Ende sind, wird der Abbruch zum Umbruch im Leben. Nichts wird mehr so sein, wie es war.

Zur Befindlichkeit am Abgrund

Der Abgrund der Steilküste macht unsicher und ängstlich. Und man wird abstürzen, wenn man die Richtung nicht ändert. Menschen in schweren Krisen kommen mit sich selbst nicht mehr zurecht, verstehen die Welt nicht mehr, zweifeln an Gott und haben manchmal das Empfinden: Alle sind gegen mich – zumindest ist keiner da, der mir hilft. Mancher verharrt in der Gefahrenzone und ist wie gelähmt.

Schritte in die richtige Richtung gehen

Die praktische Hilfe beginnt eigentlich damit, dass man sich einem Menschen in existenzieller Lage zuwendet und ihm damit einen ersten neuen Orientierungspunkt anbietet. Zuwenden kann sich nur der, der die gefährliche Situation und die Signale des anderen richtig deutet. Das können Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Nervosität oder Suchtverhalten sein, aber auch Isolation, Rückzug, Interessenlosigkeit oder auffälliges Schweigen ebenso wie verbale Hilferufe.

Neue Orientierung bedeutet für den Leidenden: Es gibt nicht nur mich und nicht nur den Absturz als Möglichkeit. Wer sich einem Menschen zuwendet, hilft ihm, sich nicht um sich selbst zu drehen, sondern Fixpunkte außerhalb der Krise wahrzunehmen.

Abstand und Aktivierung

Der Helfer muss nah kommen, ohne zu nah zu sein – und damit ebenfalls in der Gefahrenzone zu stehen. Völlig beherrschtes Verhalten kann als gefühllos, unecht und kalt empfunden werden; zu viel impulsiv-spontanes und emotionales Verhalten kann den Leidenden zusätzlich verunsichern. Darum braucht es eine emotionale Distanz, um Ruhe auszustrahlen (ohne unbeteiligt zu wirken).

Zur Aktivierung gehört zunächst einmal, dem Trauernden oder Ängstlichen oder Einsamen Raum zu geben, seine Gefühle zu äußern. Das kann sich im Weinen ausdrücken. Oder im Schreien. Oder in anklagenden Worten. Wenn Helfer das aushalten, weil sie es nicht auf sich persönlich beziehen, erfährt der andere, dass er ernst genommen und nicht belehrt wird.

Danach kann der Leidende vielleicht schon äußern, was er sich wünscht und was er will. Von Jesus Christus können wir lernen, dass die Nachfrage nach dem Willen des Menschen sehr wichtig ist. Denn daran kann man am ehesten anknüpfen (was der Mensch nicht will, tut er in der Regel nämlich nicht oder nicht anhaltend). Und der Helfer bekommt durch diese Botschaft nicht selten so etwas wie einen konkreten Arbeitsauftrag.

Eigenaktivität und Verantwortung

An die Hand nehmen ist gut, aber man muss auch wieder loslassen, damit ein Mensch seine Selbstständigkeit (= selbst stehen können!) nicht verliert bzw. sie zurückgewinnt. Wer kleine Schritte gehen kann, findet darin Mut zu größeren, etwa wenn er nach der Trauer wieder auf andere zugeht oder sich etwas Schönes gönnt. Wenn er in Krankheit entdeckt, dass nicht sein ganzes Leben mit allen Möglichkeiten lahmgelegt ist. Kleine Schritte durchbrechen die Aussichtslosigkeit.

Die Verantwortung für die nächsten Schritte sollte man niemandem abnehmen, denn sie gehört zu dem Wertvollsten, was wir haben. Wer das missachtet, macht gut gemeint (aber falsch) Menschen von sich abhängig und hält sie in der Hilfsbedürftigkeit.

Ein Betroffener muss mitdenken und kleine Aufgaben erledigen. Das fordert dazu heraus, sich selbst mit der Problemlösung zu befassen (im Rahmen der Möglichkeiten) und nicht nur über die Ausweglosigkeit und Not zu grübeln oder zu klagen.

Zuversicht und Ermutigung

Es geht nicht darum, Probleme zu verharmlosen, sondern Hilfen aufzuzeigen und zu kleinen Schritten anzuleiten. Der Leidende kann lernen, sich selbst wieder etwas zuzutrauen und zugleich externe Hilfe anzunehmen, durch die er weiter stabilisiert wird. Wer die kleinen Schritte des anderen positiv hervorhebt, ermutigt ihn zu weiteren Entscheidungen, Konsequenzen und Handlungen.

Der christliche Glaube an Gott und die Erfahrung seiner Hilfe, die gerade den Kranken, Leidenden, Angefochtenen, Einsamen gilt (siehe die Seligpreisungen Jesu in Matth 5, 1–12), eröffnet eine Perspektive, die nicht in den menschlichen Möglichkeiten liegt und darum weit darüber hinausgeht.

Handgreifliche Liebe

Wenn wir ganz praktisch werden, dann begleiten wir einen ängstlichen Menschen zum Arzt; schenken einem Einsamen kein neues Buch, sondern zwei Stunden unserer wertvollen Zeit; erledigen mit Trauernden Behördengänge und Schriftverkehr; kochen für die gestresste Familienmutter einen Eintopf; lesen und beten mit dem Zweifler; machen mit dem Suizidgefährdeten feste Zeiten für neue Treffen aus; suchen Adressen empfehlenswerter Beratungsstellen heraus; begleiten einen „reuigen“ Sünder auf dem Weg zur Entschuldigung usw.

Liebe hält Menschen am Abgrund fest, zeigt ihnen eine neue hoffnungsvolle Richtung auf und geht die ersten Schritte mit.

Trennlinie.tif

Harald Petersen ist Pastor und Seelsorgereferent des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland. Bücher und Seminare des Autors finden Sie unter: www.petersen-harald.de.

Zitat

Nicht den Tod sollte man fürchten,
sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.

Marc Aurel

Auch wenn ich Leib und Leben verliere,
du, Gott, hältst mich;
du bleibst mir für immer!

Aus Psalm 73

Inhalt

Cover

Titel

Copyright

Zitat

Vom Umgang mit Verlust und Trauer.
Eine Einführung

Thomas Klappstein

„Wir konnten dem Täter vergeben“

Sandra Schlitter

Herbstzeitlose

Fabian Vogt

Winterseele – Frühlingsherz

Christina Brudereck

Nicht das Ende der Liebe

Anne und Nikolaus Schneider

Etwas, das nicht ersetzt werden kann

Frank Bonkowski

Kinder, Kinder

Elke Werner

„Ich höre immer noch die Worte
der Richterin in meinen Ohren“

Dave S.

„Aber was ist, wenn sie Dave dann doch töten?“

Elisabeth Deutscher

„Warum hast du mir das angetan, Gott?“

Heinrich Silber

Salome

Sabine Herold

Reich an etwas ganz Neuem

Sigrid Röseler

Sicher in der Liebe Jesu, sicher im Leib Christi

Adrian Plass

Gibt es ein Leben vor dem Tod?

Thomas Klappstein

Menschen am Abgrund
Ein seelsorgerlicher Beitrag zu Verlust und Trauer

Harald Petersen

Vom Umgang mit Verlust und Trauer.
Eine Einführung

Von Thomas Klappstein

Es gibt Momente im Leben, da steht die Welt für einen Augenblick still, und wenn sie sich weiterdreht, ist nichts mehr, wie es war. So einen Moment haben die Menschen erlebt, die in diesem Buch zu Wort kommen. So einen Moment haben auch viele der Leser dieses Buches schon erlebt. So einen Moment erleben Menschen in besonderer Weise immer dann, wenn sie einen Verlust erleiden. Ob der Verlust eines lieben Menschen, der einen über viele Jahre begleitet hat, der Verlust der Gesundheit, die so vieles im Leben erst möglich gemacht hat, oder die Trennung von einem Ehepartner, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen wollte ... Im ersten Moment steht man dem immer hilflos gegenüber. Es fällt schwer zu verstehen, warum dies so passiert ist.

Oft bohrende und schmerzende „Warum?-Fragen“ kommen einem in den Sinn, auf die es kein einfaches und eindeutiges „Darum!“ gibt. Eigentlich überhaupt keine Antwort.

Auch weil solche Verlusterfahrungen Momente sind, auf die man sich nicht wirklich vorbereiten kann, die eigentlich immer zu früh kommen. Ob nun absehbar oder unvermittelt. Die eine Lücke hinterlassen im Leben. Der Arbeitgeber braucht einen nicht mehr. Die Ehe, die „für immer“ halten sollte, ist nur noch ein Scherbenhaufen. Der Platz eines lieben Menschen bleibt leer, seine Stimme ist verstummt.

Man wird zum ersten Mal oder erneut mit dieser Tatsache und unumstößlichen Lebenswahrheit konfrontiert, die man in guten Zeiten so gerne ausblendet: Alle unsere Wege haben ein Ende.

Jedes Leben ist es wert, gelebt zu werden. Und jeder Verlust hinterlässt eine Lücke darin. Lässt Menschen die Endlichkeit schmerzlich spüren. Im ersten Moment mag man gar nicht so sehr an die Zukunft denken. Immer wieder geht man alte Wege, sucht alte Plätze auf; schwelgt in Erinnerungen an die Zeit davor, an all die Möglichkeiten, die man hatte. Und man spürt einen Stich in seinem Herzen. Nicht selten Einsamkeit. Man geht die alten Wege und hofft, dass der Weg für einen doch eines Tages weitergehen wird.