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Daniela Danz wurde 1976 in Eisenach geboren. Sie studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Tübingen, Prag, Berlin, Leipzig und Halle, wo sie über die Architektur von Krankenhauskirchen promovierte. Sie arbeitet als Autorin, leitet das Schillerhaus in Rudolstadt und hat einen Lehrauftrag an der Universität Hildesheim. Zuletzt wurde sie 2014 mit dem Rainer-Malkowski-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und 2016 mit einem Stipendium der Deutschen Akademie Rom ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Kranichfeld.

 

Bücher im Wallstein Verlag: Türmer. Roman (2006); Pontus. Gedichte (2009); V. Gedichte (2014).

Daniela Danz

Lange Fluchten

Roman

 

 

 

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In dankbarer Erinnerung an Heiner Bauer

Inhalt

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

VIX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

I

Man kann die Luft schneiden, der Rauch steht in dem engen Raum. Die Trophäen an der Wand scheinen ohne System angeordnet: verschiedene Geweihe, auch ganz unbedeutende, eine größere Menge Fangzähne auf einer an die Wand geklebten Plastikschiene, Hasenpfoten und eine schüttere Lunte. Auf dem Spind umgekippt eine präparierte Amsel, darüber ein abgeschnittener Gänseflügel, der lange nichts mehr entstaubt hat. Die Jacke an einem Fleischerhaken, eine halbe Wurst an einem anderen, ein 10 × 42-Dachkantglas, ein Regalbrett mit ein paar Büchern: Amanns Kerfe und Bodenpflanzen des Waldes, ein tschechisches Ornithologielexikon, etwas Geologie, Krimis und Romane, ein verschweißter Bildband über den Zweiten Weltkrieg und ein serbokroatisches Wörterbuch. Auf einem klebrigen Tisch zwischen Papieren und leeren Verpackungen ein Gurkenglas voller Kippen und Asche. In einem Sessel daneben sitzt er. Er sieht aus dem Containerfenster auf ein paar Sträucher, eine Sandkiste, die schief hängende Schaukel, den roten Lada Niva. Er raucht. Die verdreckten Stiefel noch immer an den Füßen, die Filzweste über dem Hemd. So sitzt er seit Stunden, seit er am Morgen aus dem Wald gekommen ist. Im Kühlschrank ist nichts. Seine Frau hat das untere Geschoss des Containers aufgegeben, ist mit den beiden Jungen in die oberen zwei Räume gezogen. Die haben Fenster nach Westen und Osten. Oben hat sie einen eigenen Kühlschrank. Überhaupt hat sie einiges, was man zum Leben braucht, einiges mehr als er. Vorhin, als er kurz austreten war, hatte es in der nebligen Morgenluft nach gebratenem Schinken gerochen. Er war zwanzig Stunden im Wald gewesen, ohne zu essen. Aber hoch konnte er nicht gehen. Die Jungen sollten ihn so nicht sehen. Die mussten erst in die Schule. Dann konnte er hochgehen, essen, vielleicht etwas schlafen. Schlaf brauchte er nicht viel.

Sieh, das ist die eine Möglichkeit. Wir könnten auch zurückgehen bis zu der Stelle, an der es abbrach, das alte Leben. Oder waren es viele Stellen? Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.

Er sieht nach dem Regal, er könnte die Kiste mit den Fotos herunterholen. Fotos des Lebens, das er hatte. Kindheit, ja, er hat eine Kindheit gehabt, aber was hatte er getan in all der Zeit? An den langen Nachmittagen, den dunklen Abenden im Winter und in den hellen Nächten? Hatte er im Dickicht gesessen und seine Kindheit geträumt, das würde erklären, warum sich nichts fand, was ihm darüber Auskunft geben konnte, ob er nur als Träger altmodischer Hosen herumgelaufen war oder was ihn beschäftigt hat? Keine Postkarten, keine Liebesbriefe, nichts. Urlaubsbilder, Ostsee, Tschechoslowakei, Harz. Dann setzt seine Erinnerung ein: der Sommer, als er sechzehn geworden war und den Mopedführerschein bekam. Wacklige Bilder mit Blitzlicht von nächtlichen Partys, sein Freund Henning mit Glatze, weil er eine Wette verloren hatte. Dann ein Bild von seiner Vereidigung, ein paar Posen mit dem G3. Bilder von seinen Söhnen, Bilder von Urlauben – Spanien, Österreich, Ostsee. Ein Bild, auf dem er hier auf seinem Sofa im Container sitzt und ruhig in die Kamera sieht, um ihn Kartons, es muss kurz nach dem Einzug gewesen sein. Wer hatte ihn da fotografiert? War er da noch ganz? Zumindest hatte er einen Beruf, den einzigen Beruf, für den er gemacht war: Soldat. Soldat auf Zeit, und sie war abgelaufen, die Zeit. Nun war er Zivilist. Oder sollte es sein. Damals als sein Großer geboren wurde, hatte er es probiert, und tatsächlich, sie hielt, die Illusion, eine ganze Weile: einfach ein Mann sein, ein Mann mit Familie. Es gab einen Traum, den er in den letzten beiden Jahren vier Mal geträumt hatte, immer genau gleich: Er rennt über eine Feuertreppe aufs Dach einer Fabrikhalle, seine Söhne auf dem Arm, sie sind noch klein, und hinter sich hört er die Verfolger, und er will diesen Moment ausdehnen, dieses Gefühl, die Kinder zu retten, das Rechte zu tun, überhaupt ein Gefühl zu haben. Will es bis auf die Spitze treiben und wirft die Jungen über die Dachkante nach unten. Den Rettern zu, die dort sein müssen. Erst den einen, dann den anderen, damit sie in Sicherheit sind und er die Verfolger aufhalten kann. Aber als er sich zu den Verfolgern umdreht, ist da niemand, nur Wind. Und Anne kommt in einem Cocktailkleid mit einer Gruppe Feiernder aufs Dach, und sie lachen und es ist Silvester. Und ihn graut, ihn graut so sehr, dass er aufwacht. Er versucht wieder einzuschlafen, um über die Dachkante hinuntersehen zu können, seine Söhne zu sehen, es war ja nicht hoch, ein paar Meter vielleicht. Aber er schläft nicht mehr ein, und alles bleibt wahr. Sie leben im Raum über ihm, ja, sie leben, aber nicht durch ihn, nur trotz ihm, und die zwei Meter zwischen ihm und ihren Betten sind so weit wie irgendwas sonst auf der Welt.

Die Schaukel vorm Fenster hängt da ohne Bewegung, ihm ist schlecht, er holt sich ein Bier aus dem Kasten, um etwas im Magen zu haben. 6.50 Uhr. Jetzt würde Anne im Schlafanzug die Brote für die Jungen in die Schultaschen stecken und warten, bis sie ihre Jacken und Schuhe angezogen hätten. Ihre Haare nur lose zusammengebunden. Man könnte sie lieben, es liegt gewiss nicht an ihr. Sie ist schön mit ihrer durchsichtigen Haut und den kühlen Augen, ordentlich, ein durch und durch ordentlicher Mensch. Und ihre Haare haben den Geruch all der Dinge, die echt sind: Sommerhitze, Küchendunst oder rauchige Herbstluft, wenn sie hereinkommt vom Wäscheaufhängen. Früher, wenn er mit ihr geschlafen hatte, rochen ihre Haare am anderen Tag noch nach ihnen beiden. Neulich hat er in der Stadt zwei fremde Beine unter einem engen Rock gesehen, fest und mit sicherem Tritt gingen sie die Straße entlang, er sah den straffen Wechselschritt unter dem Rock. Das schien ihm kurz wie der unbewachte Einlass in die Liebe, der über die Feuertreppe. Hochrennen, reinstürmen, einnehmen. Er wollte nicht das Gesicht der Frau sehen, nichts sonst von ihr, er wollte nur das Gefühl behalten. Ging hastig zum Auto, den Takt ihrer Schritte noch im Kopf. Nach Hause, schnell, die Treppe hoch, klopfen – nein, er klopfte nicht, er hatte klopfen wollen, aber es war weg, das Gefühl. Die Schaukel hing da, genauso wie heute und jeden Tag, der Motor seines Autos tickte nach, und er wusste nicht mehr, was er gewollt hatte. Immerhin kam Wut in ihm hoch, mit der er gegen ihre Tür trat. Sie öffnete nicht, vielleicht hatte sie schon Angst vor ihm oder glaubte, er wäre wieder betrunken.

Er hört Wasserrauschen. Was soll werden aus diesem Tag, der wie eine üble Wüste vor ihm liegt? Schlafen. Aber er kann es nicht, in ihm rennt etwas, rennt und dreht sich. Und die Schaukel hängt einfach vom Baum herunter. Seit dem Abend, als er sich an eines der Seile gehängt hatte und daran schaukelte und brüllte und hinter dem Containerfenster seine Familie stand, beschämt, wie er wohl bemerkte. Wann hatte er ihn bekommen: diesen ersten Riss, einen Haarriss? Etwas läuft seitdem aus ihm heraus, einfach fort. Er denkt daran, wie Anne eine Vase hochheben und untersuchen würde, wo sie undicht war. Sie würde den Riss nicht finden, aber die Wasserlache immer wegwischen. Sie konnte ein Leben leben, bei dem alles, was schiefging, wieder gerade wurde. Alles, was bei ihm schief wurde, blieb schief, keiner konnte das wieder richten. Auch diese Schaukel, wie sie da schief hängt, gehört offenbar zu seiner Welt, sonst wäre sie von Anne schon längst wieder gerade aufgehängt worden.

Jetzt Schritte auf der Treppe, die Erschütterung des ganzen Containers, weil die Jungen wieder versuchen, nebeneinander zu rennen. Immer stürzen sie so die Treppe hinunter. Immer mit diesem Geräusch, das nur er kennt, weil hier unten sonst niemand ist. Aber was soll er sagen – dass es ihn wahnsinnig macht? Jetzt rausgehen, sagen, dass es ihn wahnsinnig macht. Er drückt den Rest seiner Zigarette aus. Hört von draußen den Klingelton dieser diabolischen Mickey-Mouse-Melodie. Der Große sagt: »Alex? Ja, ich bin schon los.« Er hat eine schöne Stimme bekommen. Er braucht seinen Vater nicht mehr. Der Kleine hat ihn nie gebraucht. Er sinkt tiefer in den Sessel und steckt sich eine neue Zigarette an. Wenn Anne jetzt auch losfahren würde, könnte er hoch und nachsehen, was sich zu essen fände.

Ich gehe ins Gras. Es ist hoch, geht mir bis zur Hüfte, Gänge darin, Höhlen, es führt mich irgendwohin, und ich soll folgen, ich folge, und es ist warm und Bienen fliegen. Ein Hase flüchtet, ich will mich hinlegen, aber es führt immer ein Gang weiter. Die Gänge sind schmal, und ich trete die langen Halme nieder. Ich sollte zurückgehen, die Wiese ist unter allem Summen totenstill, gespenstisch. Etwas lauert. Ich fasse nach der Pistole. Ich sollte umkehren. Zirpen. Ich sehe am Waldrand eine Kanzel, ein sicherer Ort. Ich klettere die Leiter hoch, die Tür ist nicht verschlossen. Ich öffne sie, sehe Füße, eine braune Cordhose. Ein Mann liegt auf dem grünen Teppichboden, er schläft. Race Cup Freestyle steht auf der Jacke. Die Sonne zeichnet durch die Bretterwand schmale Streifen auf sein Gesicht. Ich betrachte immerfort das Muster an seinen Schläfen. Die warme Sonne, Zirpen aus der Wiese, eine Biene. Ich steige auf in die Luft und höre mich summen. Ich fliege zurück zu meinem Stock, kilometerweit mit schweren Beinen. Ich summe.

Der Anlasser ihres Autos muckert, er hätte danach schauen sollen, schon seit Wochen. Jetzt. Jetzt rausgehen und das richten. Aber sie wird es schon hinkriegen. Ihm ist, als habe sich die Schaukel eben bewegt. Er war schon zu oft nicht zur Stelle gewesen, wenn sie ihn brauchten, das ist es. Nach fünf Versuchen springt der Motor endlich an. Er atmet auf. Sie fährt weg, alles ist plötzlich leicht. Vielleicht ist sie das Problem und nicht er. Er geht hoch, brät sich ein paar Eier, schaltet den Fernseher an, die Welt ist noch da, man kann in sie zurückgelangen, er fühlt in den Beinen Müdigkeit aufsteigen.

II

Als er aufwacht, ist es dunkel, dunkel und still. Er sucht seine Uhr. 22.17. Er hat noch immer die Jagdsachen an. Vielleicht sollte er ausgehen, es ist Freitagabend. Er ruft Thomas an, Musik im Hintergrund, Party. Jetzt fällt es ihm ein, der Geburtstag. Er hatte über ein halbes Jahr nicht angerufen, seit dem letzten Treffen nicht. »Mensch, dass es dich noch gibt.« Alles so normal. Ja, er komme vorbei, müsse sich nur umziehen. Von oben leise der Fernseher. Soll er Anne fragen, ob sie mitwill? Nein, vielleicht hat sie sich schon ausgezogen, die Haare offen, weich, müde. Und dann die Frage, was er heute gemacht habe – nein, besser nicht.

Die Musik wummert ihm schon am Hauseingang entgegen, er nimmt in ihrem Rhythmus drei Stufen mit einem Mal, in den dritten Stock muss er. Die Tür kracht unten ins Schloss. Atari Teenage Riot. Er hat solche Lust auf diese Party, jede Faser seiner Hose und seines Shirts fühlt er an sich, die Haut an den Wangen spannt noch vom Rasieren. Die Bässe jetzt nur noch eine Treppenwindung entfernt. Die Wohnungstür steht offen. Er steht auf der Schwelle, sekundenlang zögert er, Anspannung wie am Rand eines Wasserbeckens, ein Pool mit blauem Wasser, die Sonne knallt, er ist nackt, hebt die Arme über den Kopf und springt hinein. Unter Wasser das kräftige Gleiten, der Auftrieb, die Last des Wassers, da durchstößt sein Kopf die Oberfläche, die Bässe sind wieder da, Susa steht neben ihm, er beugt sich hinunter zu ihr, umfasst sie, wie zart sie ist, küsst sie auf die Wange und schiebt sie beiseite, er will in die Mitte des Raums, mit ein paar kräftigen Zügen hineinspringen in die erregten Menschen, hindurchschwimmen durch diese zuckenden Frauenkörper und auftauchen auf der anderen Seite, die warme Sonne auf der Haut, Helligkeit. Und dann rennen, rennen, rennen, splitternackt. Er wird aufgehalten: Einer umarmt ihn, klopft ihm auf den Rücken. Ja, ringen, im Knäuel über den Boden rollen. Er versucht ihn umzuwerfen, aber sie geraten nur leicht ins Wanken, lachen und lösen sich voneinander. Er biegt in den Flur ab. Er hätte gern, dass diese Wohnung wie ein Laufband wäre, endlos lang bis zur Erschöpfung. Hier steht die Anlage, es klopfen ihm verschiedene Bekannte auf die Schultern, aber es ist so laut, dass kein Gespräch möglich ist. Vor den Boxen ist noch Platz, und er beginnt zu tanzen. Er tanzt mit geschlossenen Augen, um niemanden ansehen zu müssen.

Eine Straße in der Mittagshitze, der Asphalt flirrt in der Ferne. Links und rechts endlose Felder ohne ein Gehöft. Ich zähle die Büsche, beginne nach jedem zehnten von vorn, ich suche die Stelle, ein Auto überholt mich, es hält.

Er hält, das Lied hält, die Stimmen, überall Stimmen, Lachen, mit einem Mal ist alles laut, er reißt die Augen auf, alles voller Menschen um ihn, der Ausgang ganz hinten, er stößt die neben ihm Stehenden zur Seite, er bahnt sich einen Weg, manche halten ihn auf, wollen ihn nicht durchlassen, er rennt, er sieht die Tür, das Treppenhaus, die Klinke und die Straße. Bremsen, er rennt, bis er Stiche in der Lunge spürt, lässt sich gegen einen Baum fallen, umarmt ihn, die raue Rinde, beißt etwas davon ab. Es schmeckt nach Rinde. Es schmeckt einfach nur nach Rinde. Verdammt! Es passiert immer wieder, es kommt, ohne dass er es kommen sieht. Nur ganz kurz vorher ist so ein Moment, wo er noch rechtzeitig abbiegen könnte, wenn er sich nicht verlieren würde, wenn er sich im Griff behielte, aber er verpasst ihn immer. Es hilft nur, im Container zu sitzen, allein bleiben, keinen ranlassen. Mann! Er schlägt gegen den Baum, und es tut weh, zum Glück tut es weh. Es ist doch alles normal, er sieht an sich herunter, alles sieht normal aus. Gut, es war nichts, die Musik war einfach zu laut, zu schnell. Er kann zurück. Er wird da jetzt wieder hingehen, nicht wie vorhin, sondern ganz kontrolliert, sich unterhalten, alles normal.

Susa steht an der Tür: Was los war eben? Jetzt hat er es in der Hand, abwiegeln oder etwas in Richtung Wahrheit. Ihre nackte Schulter, so glatt, so hell. Er fasst sie an der Schulter, schiebt sie in eine ruhige Ecke, er merkt, wie sie sich schieben lässt. Eine Möglichkeit blitzt auf. Diese Nacht vor Jahren auf dem Scharfenstein. Er dreht sie zu sich, sie lässt sich drehen, er hat sie halb im Arm. Etwas aus dem Vorhof der Wahrheit erzählen, jedenfalls erzählen, eine Geschichte, dass sie bei ihm bleibt. Vom Fuchs, dem Traumfuchs, der plötzlich aus dem Nichts auftaucht und da ist mit seinem roten Fell und der weißen Lunte. Den er streichelt, über die Schnauze, die ganze schöne Form des Kopfes, dessen Fell sich legt unter seiner Hand, der furchtbar zahme Fuchs. Aber er muss erzählen von irgendeinem Anfang, hineinspringen ins Reden.

»Ich saß gestern am Waldrand«, ein ungelenker Anfang, aber irgendwie muss er beginnen. »Stunden, ewig. Es war wie früher, mit siebzehn, als ich im Wald saß und die Zeit verging und es Abend war. Da war plötzlich der Fuchs da, wie aus dem Erdboden heraus. Er schnürt durch die Wiese, geduckt, dann bleibt er stehen, wittert, sieht in meine Richtung, durchs Fernglas sieht er mich direkt an und kommt auf mich zu. So weit, dass er mich wittern müsste, zumal der Wind in seine Richtung steht. Ich kann die Entfernung nicht mehr einschätzen, aber ich kann auch das Glas nicht runternehmen, weil er mich dann bemerken würde. Da knallt es. Es sieht aus, als ob er fällt, aber weil ich das Glas heruntergerissen habe und mich kurz orientieren muss, sehe ich es nicht richtig. Ich sehe etwas Dunkles in der Wiese liegen, größer als ein Fuchs. Ich nehme wieder das Glas und suche es, und plötzlich ist da ein Mann, der mich ansieht. Direkt in die Augen, er hebt sein Gewehr und zielt auf mich …« Er hätte nicht so lange stehen sollen nach dem Anfall vorhin, jetzt wird ihm schwindlig. Er hält sich an ihrem Ärmel fest, der über den Oberarm herunterrutscht, dass man ihren BH sieht, er schämt sich, aber er kann nichts machen, seine Beine sind wie nicht mehr vorhanden. Sie zieht ihn zur Fensterbank hinter ihr. Streichelt lange seine Hand. Allmählich kehrt seine Kraft zurück.

»Ist es besser?«, fragt sie.

»Ja, ist wieder okay.« Sein Mund ist trocken. »Hier muss es doch auch was zu trinken geben«, überspielt er seine Scham.

Sie bahnen sich einen Weg durch die Leute, der Widerstand all der Körper tut gut, er zieht Susa an der Hand hinter sich her. Er schiebt sie vor sich an den Tisch mit den Getränken, langt über ihre Schulter und schenkt ihr ein Glas Wein ein. Von hinten hält er es vor ihren Mund, und sie trinkt gehorsam. Sie dreht sich zu ihm um. Weil sie so dicht vor dem Tisch steht, ist ihr Gesicht ganz nah an seinem Kinn, er spürt ihre weiche Brust. Sie setzt ihr Weinglas an seine Lippen, und er trinkt es ganz aus. »Lass uns gehen, Susa«, sagt er, und sie nickt.

Ihr weiches, warmes Haar bedeckt seine Brust wie eine Decke, der Waldboden unter ihm fühlt sich an wie ein Nagelbrett. Selbst diese leichten Frauen werden nach einiger Zeit schwer. Er sieht die Buchenkronen über ihrem Kopf und manchmal einen Stern hindurch. Dieser Tag hatte genau drei leichte Momente: als Anne weggegangen war, als er auf der Schwelle zu Thomas’ Wohnung stand, und jetzt. Vielleicht aber auch schon mehr eben als jetzt, vielleicht ist das schon wieder die beginnende Schwere.

Susa stützt sich auf und sieht ihn an. Sie hatte eigentlich die ganze Zeit gar nichts gesagt, nicht mal seinen Namen geflüstert oder so etwas.

»Hier jagst du?«, fragt sie jetzt. Seltsame Frage.

»Nicht hier, auf der anderen Seite. Da hinten auf der Kanzel bin ich oft.«

»Wann jagt man denn?«

»Kommt drauf an, meist in der Dämmerung.«

»Und da sitzt du dann stundenlang? Was machst du die ganze Zeit?«

»Jagen.«

Sie lacht, wirft eine Handvoll Blätter auf ihn. Sie kennt ihn nicht, sonst würde sie nicht mehr so einfach fragen. So wie Anne kaum mehr fragte.

»Du sitzt die ganze Zeit herum und jagst. Im Kopf oder wie?«

»Ja, das trifft es wahrscheinlich.«

Sie zieht das Gummi seiner Unterhose lang und lässt es schnippen.

Er verzieht das Gesicht, als ob es schmerzt.

»Entschuldige. Ich hab das Gefühl, du bist nicht ganz hier.«

Sie kennt ihn nicht.

»Du bist entweder betrunken oder hast Gewissensbisse wegen Anne.«

Gar nichts weiß sie. Und er weiß nicht, ob es ihn stört oder nicht, dass sie so naiv ist. Anne würde mit ihm schweigen, vielleicht wusste sie auch nichts, aber sie scheuchte ihn nicht auf. Susa kommt ihm wie seine Tochter vor, er lächelt, streicht über ihr Haar. »Gib mir mal meine Hose«, flüstert sie ihm ins Ohr, als wäre es ein Geheimnis.

Er kramt Zigaretten heraus, bietet ihr eine an. Sie rollt sich von ihm herunter, dann rauchen sie. Das ist eigentlich am seltsamsten, diese Momente, wenn alles so einfach ist, wenn es sich anfühlt, als fielen alle Gewichte ab, und wenn man sich gar nicht mehr spürt. Gestern hat er dort drüben gesessen und gedacht, dass die Zeit stehengeblieben sei, dass er da einfach sterben könnte. Weggehen aus sich selbst. Er merkt, wie er allmählich aus dem Moment zu fallen droht. Nicht abdriften jetzt. Ein Gespräch anfangen.

»Damals auf dem Scharfenstein«, beginnt er, ohne zu wissen, worauf es hinauslaufen soll, »wolltest du doch mit Thomas zusammenziehen. Ihr wart doch …« Susa legt ihm einen Finger auf den Mund: »Nicht jetzt, das ist ganz lange her.«

Aber das Schweigen, in das sie jetzt fallen, ist nicht mehr das alte. Susa bricht es schließlich, indem sie fragt: »Du wolltest damals in den Kosovo?«

Jetzt möchte er ihr die Hand vor den Mund halten, aber das würde ihre Neugier erst recht anstacheln. Er schweigt sehr deutlich. »Musst du morgen früh irgendwo sein, kann ich dich hinfahren?«, fragt er.

Sie setzt sich mit einem Ruck auf und fängt an, den Waldboden nach ihren Sachen abzutasten. Wenn sie etwas von ihm findet, schleudert sie es auf seinen Bauch.

»Wir waren fast ein Paar. Du erzählst mir hier Storys vom Fuchs, und wenn ich dich was frage, kriege ich keine Antwort.«

Furchtbar. Schimpfende Frauen, er erträgt das nicht, das konnte er schon bei seiner Mutter nicht ertragen. Egal, was er jetzt sagt, Hauptsache, sie hält den Mund. »Also: Ich war nicht im Kosovo. Sie haben mich zurückgestellt. Und jetzt sind meine zwölf Jahre rum, ich bin draußen. Und die sind froh, weil ich nämlich nicht mehr so richtig funktioniere.«

»Na, sei doch auch froh.«

»Es scheint sehr schwer zu kapieren zu sein, dass es Menschen gibt, die ihren Beruf nicht aufgeben wollen, weil es eben das ist, wofür sie gemacht sind.«

»Dann mach halt weiter.«

»Susa, das geht nicht! Ich war auf Zeit, und von da führt eben kein Weg weiter. Ich hab ein bisschen Mist gebaut, und sie übernehmen heute sowieso fast niemanden mehr. Wenn du es genau wissen willst: Seit einem Jahr warte ich auf eine Entscheidung, ob ich eine sogenannte Wehrdienstbeschädigung habe oder nicht. Wenn ja, gibts Geld, wenn nein, gibts nichts.«