Diese Geschichte, in der Ich-Form geschrieben, war eine neuartige Reise für mich. Deshalb bin ich zutiefst dankbar für Ermutigung, Rat und Unterstützung meines langjährigen Lektors Michael Korda und seines Kollegen, Cheflektor Chuck Adams. Mille grazie, liebe Freunde.
Wie immer danke ich Eugene Winick und Sam Pinkus, meinen literarischen Agenten, für ihren ständigen Einsatz, ihre Hilfe und Freundschaft.
Lisl Cade, meine geschätzte Pressereferentin, war wie immer meine rechte Hand. Ich bleibe ihr zu Dank verpflichtet.
Mein Dank geht auch an die stellvertretende Leiterin der Satzredaktion Gypsy da Silva, mit der ich so viele Jahre zusammengearbeitet habe. Ein Kuss im Gedenken an Carol Catt, die wir schmerzhaft vermissen werden.
Meine Ehrerbietung an Sgt. Steven Marron und Detective Richard Murphy, ehemals beim New York Police Department, Büro des Bezirksstaatsanwalts von New York County, für Rat und Hilfe in Fragen der polizeilichen Ermittlungsarbeit.
Segenswünsche an meine Assistentinnen und Freundinnen Agnes Newton und Nadine Petry sowie an meine treue Gegenleserin, meine Schwägerin Irene Clark.
Judith Kelman, Autorin und Freundin, war ein weiteres Mal sofort zur Stelle, als ich sie um Hilfe bat. Ich danke dir, Judith.
Dank schulde ich auch Bruder Emil Tomaskovic und Bruder Bob Warren, Franziskanermönche in Graymoor, Garrison, New York, für ihre wertvolle Hilfe beim Entwerfen von Szenen für dieses Buch und für die wunderbare Arbeit, die sie und ihre Mitbrüder zugunsten derer verrichten, die unserer Hilfe am meisten bedürfen.
Die Liebe und Dankbarkeit, die ich für meinen Ehemann, John Conheeney, und unsere Kinder und Enkel empfinde, wächst und vervielfältigt sich immer noch. Sie sind es, um die sich alles in meinem Leben dreht.
Grüße an alle meine Freunde, die darauf gewartet haben, dass ich dieses Buch zu Ende schreibe, damit wir uns »bald treffen« können.
Ich bin jetzt so weit!
Die Amerikanerin Mary Higgins Clark ist eine der erfolgreichsten Spannungsautorinnen der Welt. Ihre Romane erobern regelmäßig die vorderen Plätze der Bestsellerlisten und bestätigen ihren Ruf als »Meisterin des sanften Schreckens«. Mary Higgins Clark lebt in Saddle River, New Jersey.
WENN ICH HEUTE zurückblicke, muss ich oft darüber nachdenken, wie nahe ich in diesem furchtbaren Augenblick daran war, dasselbe Schicksal wie meine Schwester zu erleiden. Seit ich das Gasthaus verlassen hatte, waren mir Dad und Teddy in größerem Abstand gefolgt. Sie hatten gesehen, dass ein Van, den sie für einen Polizeiwagen hielten, hinter mir hergefahren war, und angenommen, dass ich schließlich doch noch um Polizeischutz gebeten hatte.
Dann hatten sie mich jedoch aus den Augen verloren, als ich vom Highway abgebogen war, und Dad hatte die Polizei von Phillipstown angerufen, um sicherzugehen, dass der Van hinter mir geblieben war.
In diesem Moment hatte er erfahren, dass ich gar keinen offiziellen Begleitschutz erhalten hatte. Die Polizei hatte Dad die Stelle beschrieben, an der ich vermutlich falsch abgebogen war, und versprochen, so schnell wie möglich nachzukommen.
Dad erzählte mir, er sei aus der Kurve gekommen und habe gesehen, wie der Van mit voller Geschwindigkeit wegfuhr. Er habe gerade zur Verfolgung ansetzen wollen, als Teddy das Wrack meines Wagens bemerkte. Teddy – der Bruder, der nicht geboren wäre, wenn Andrea weitergelebt hätte – rettete mir das Leben. Oft muss ich über diese Ironie des Schicksals nachdenken.
Rob Westerfield brach sich beide Beine, als Dad ihn mit seinem Wagen umfuhr, aber sie waren rechtzeitig zu den zwei Prozessen, die auf ihn warteten, wieder heil.
Der Bezirksstaatsanwalt von Westchester County nahm sofort die Untersuchung im Mordfall von Phil wieder auf. Er erließ einen Durchsuchungsbefehl für Robs neue Wohnung, und dabei wurde ein Versteck mit Trophäen, Andenken an seine grauenhaften Verbrechen, entdeckt. Weiß der Himmel, wo er sie verborgen hatte, während er im Gef ängnis gesessen hatte.
Er hatte ein Album mit Zeitungsausschnitten über Andrea und Phil angelegt, angefangen jeweils mit dem Tag, an dem ihre Leichen aufgefunden wurden. Die Ausschnitte waren chronologisch geordnet, und daneben waren Bilder von Andrea und Phil eingeklebt, Fotos von den Tatorten, von den Begräbnissen und von anderen Personen, die in die Tragödien verwickelt waren, darunter Paulie Stroebel und Dan Mayotte.
Auf jeder Seite hatte Rob eigene Bemerkungen hinzugef ügt, grausame und sarkastische Kommentare über seine Handlungen und die Menschen, die er ins Unglück gest ürzt hatte. Es gab ein Bild von Dan Mayotte im Zeugenstand, als er unter Eid aussagte, ein Mann mit dunkelblonden Haaren namens Jim habe im Vorraum des Kinos mit Phil geflirtet. Daneben hatte Rob geschrieben: »Ich habe sofort gemerkt, dass sie auf mich steht. Jim kriegt sie alle.«
Rob hatte die dunkelblonde Perücke getragen, als er mich verfolgt hatte. Der sprechendste Beweis für seine Schuld an Phils Tod jedoch war, dass er den Anhänger aufgehoben hatte; er hatte ihn auf die letzte Seite des Albums geklebt. Der Kommentar darunter lautete: »Danke, Phil. Andrea fand ihn ganz toll.«
Der Staatsanwalt beantragte beim Strafgericht, das Urteil über Dan Mayotte für null und nichtig zu erklären und einen neuen Prozess anzuberaumen: Das Volk vs. Robson Westerfield. Die Anklage lautete auf Mord.
Ich sah den Anhänger wieder, als er im Gerichtssaal gezeigt wurde, und dabei tauchte auch wieder die Erinnerung an die letzten gemeinsamen Augenblicke in Andreas Zimmer auf, als sie ihn, den Tränen nahe, angelegt hatte.
Dad saß neben mir im Gerichtssaal und legte seine Hand auf meine. »Du hattest Recht mit dem Anhänger, Ellie«, flüsterte er.
Ja, ich hatte Recht behalten, und am Ende habe ich mich mit der Tatsache abgefunden, dass ich – weil ich sah, wie sie ihn anlegte und daher vermutete, sie würde sich mit Rob im Versteck treffen – nicht sofort alles meinen Eltern erz ählte. Vielleicht wäre es zu spät gewesen, um sie noch zu retten, aber für mich ist es an der Zeit, die Möglichkeit, dass es nicht zu spät gewesen sein könnte, auf sich beruhen zu lassen, und mich von diesem Gedanken, der mich so lange verfolgt hat, nicht mehr beherrschen zu lassen.
Robson Westerfield wurde wegen Mordes an Amy Phyllis Rayburn verurteilt.
In einem zweiten Prozess wurden Rob und sein Fahrer wegen versuchten Mordes an mir verurteilt.
Rob Westerfields Haftstrafen wurden zusammengezogen. Falls er noch einhundertdreizehn Jahre lebt, wird er wieder für eine Haftentlassung auf Bewährung infrage kommen. Als er nach dem zweiten Urteil aus dem Gerichtssaal geführt wurde, blieb er kurz stehen, um seine Armbanduhr mit der Uhr im Gerichtssaal zu vergleichen. Dann stellte er sie sorgfältig nach.
»Überflüssig«, kommentierte ich stumm. »Zeit spielt für dich keine Rolle mehr.«
Will Nebels wurde mit der neuen Beweislage konfrontiert und gab im Verhör zu, dass Hamilton ihm eine grö ßere Summe angeboten hatte, falls er behaupte, gesehen zu haben, wie Paulie in die Garage gegangen sei. William Hamilton, dem die Anwaltslizenz entzogen wurde, sitzt jetzt selber eine Haftstrafe ab.
Mein Buch erschien bereits im Frühjahr und wurde ein Erfolg. Das andere Buch – die gesäuberte und geschönte Version von Rob Westerfields traurigem Leben – wurde zurückgezogen. Pete stellte mich der Führungsmannschaft von Packard Cable vor, und diese bot mir eine Anstellung als investigative Reporterin an. Es schien mir eine gute Möglichkeit für mein berufliches Fortkommen zu sein. Manche Dinge ändern sich eben nie. Pete ist wieder mein Vorgesetzter.
Aber das ist in Ordnung. Wir haben vor drei Monaten geheiratet, in der St. Christopher-Kirche im Kloster Graymoor. Dad trat als Brautführer auf.
Pete und ich haben ein Haus in Cold Spring mit Blick auf den Hudson gekauft. Wir verbringen unsere Wochenenden dort. Ich kann mich an der Aussicht nicht satt sehen – der majestätische Fluss, vom Steilufer gerahmt. Meine Seele hat endlich ihr Heim gefunden, das Heim, nach dem ich mich all die Jahre gesehnt habe.
Ich sehe Dad regelmäßig. Wir haben beide das Gefühl, dass wir die verlorene Zeit wieder aufholen müssen. Teddys Mutter und ich sind gute Freundinnen geworden. Manchmal besuchen wir alle zusammen Teddy in seinem College. Er spielt in der Basketballmannschaft von Dartmouth. Ich bin sehr stolz auf ihn.
Es hat lange gedauert, bis sich der Kreis geschlossen hat. Aber jetzt hat er sich geschlossen, und dafür bin ich zutiefst dankbar.
Mary Higgins Clark, geboren 1928 in New York, wuchs in der Bronx auf. Ihr Vater starb, als sie kaum elf Jahre alt war. Die Mutter zog sie und ihre beiden Brüder allein groß. Nach der Highschool machte sie eine Ausbildung zur Sekretärin und war drei Jahre in einer Werbeagentur tätig, bevor sie das Reisefieber packte und sie ab 1949 als Stewardess für PanAm arbeitete. Ein Jahr später heiratete sie ihren Nachbarn Warren Clark. Kurz nach ihrer Hochzeit begann sie, Erzählungen zu schreiben. Sie verkaufte die erste im Jahr 1956 für einhundert Dollar an eine Zeitschrift. Nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemanns im Jahr 1964 verfasste sie bald ihr erstes Buch, einen biographischen Roman über George Washington. Sie schrieb immer morgens zwischen fünf und sieben Uhr, bevor die fünf Kinder zur Schule mussten. Der erste Kriminalroman, Wintersturm, aus dem Jahr 1975 bedeutete einen Wendepunkt in ihrem Leben und in ihrer Karriere: Er wurde zum Bestseller. Neben dem Schreiben studierte sie Philosophie und schloss 1979 ihr Studium mit »Summa cum laude« ab.
Mary Higgins Clark zählt seit dem Erscheinen ihres Debütromans zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Mit ihren Büchern führt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den begehrten »Edgar Award«. 1996 heiratete sie John Conheeney. Die Autorin lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey.
ALS ELLIE AN JENEM Morgen aufwachte, hatte sie das Gef ühl, dass etwas Schreckliches passiert war.
Instinktiv griff sie nach Bones, ihrem weichen Schmusehund, mit dem sie, soweit sie zurückdenken konnte, das Kopfkissen geteilt hatte. Als sie im letzten Monat sieben Jahre alt geworden war, hatte ihre fünfzehnj ährige Schwester Andrea sie deswegen gehänselt und gemeint, es sei an der Zeit, dass sie Bones zum alten Eisen werfe.
Dann fiel Ellie ein, was nicht stimmte: Andrea war gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Nach dem Abendessen war sie zu ihrer besten Freundin Joan gegangen, um für eine Mathearbeit zu lernen. Sie hatte versprochen, um neun Uhr wieder zu Hause zu sein. Um Viertel vor neun war Mommy zu Joans Haus gegangen, um Andrea abzuholen, aber sie hatten ihr gesagt, dass Andrea schon um acht Uhr aus dem Haus gegangen sei.
Mommy war besorgt und den Tränen nahe zurückgekehrt, und fast im gleichen Augenblick war Daddy von der Arbeit gekommen. Daddy war Lieutenant bei der New York State Police. Sofort hatten er und Mommy bei sämtlichen Freundinnen von Andrea angerufen, aber niemand hatte etwas von ihr gehört. Dann hatte Daddy gesagt, er wolle zur Bowlingbahn und zur Eisdiele fahren, vielleicht sei Andrea dorthin gegangen.
»Wenn sie gelogen hat und gar nicht bis neun Uhr Hausaufgaben machen wollte, dann lass ich sie das nächste halbe Jahr nicht mehr ausgehen«, hatte er mit grimmiger Miene gesagt und sich dann an Mommy gewandt: »Ich hab es schon tausendmal gesagt: Ich möchte nicht, dass sie alleine draußen herumläuft, wenn es dunkel wird.«
Daddys Stimme war laut geworden, aber Ellie spürte, dass er mehr besorgt als wütend war.
»Ich bitte dich, Ted, sie ist um sieben Uhr aus dem Haus gegangen und wollte nur zu Joan. Sie wollte um neun wieder zu Hause sein, und ich bin sogar hingegangen, um sie abzuholen.«
»Aber wo steckt sie dann, zum Teufel?«
Sie hatten Ellie ins Bett geschickt, und nach einiger Zeit war sie schließlich eingeschlafen. Vielleicht ist Andrea inzwischen wieder zu Hause, dachte sie beim Aufwachen in banger Hoffnung. Sie schlüpfte aus dem Bett, rannte zur Tür und den Flur entlang zu Andreas Zimmer. Sei da, flehte sie. Bitte, sei da. Sie öffnete die Tür. Andreas Bett war unbenutzt.
Ihre Schritte waren kaum zu hören, als Ellie mit bloßen Füßen die Treppe hinunterlief. Die Nachbarin, Mrs. Hilmer, saß mit Mommy in der Küche. Mommy hatte dieselben Sachen wie gestern Abend an, und sie sah aus, als ob sie sehr lange geweint hätte.
Ellie lief zu ihr. »Mommy.«
Mommy umarmte sie und fing zu schluchzen an. Ellie spürte die Hand ihrer Mutter, die ihre Schulter umklammerte, so fest, dass es beinahe wehtat.
»Mommy, wo ist Andrea?«
»Wir … wissen … es nicht. Daddy und die Polizei suchen nach ihr.«
»Komm, Ellie, zieh dich schon mal an, dann mach ich dir inzwischen Frühstück«, sagte Mrs. Hilmer.
Niemand hatte ihr gesagt, sie solle sich beeilen, weil der Schulbus bald käme. Ohne zu fragen, wusste Ellie, dass sie heute nicht zur Schule gehen musste.
Sie wusch sich pflichtschuldig Gesicht und Hände, putzte ihre Zähne, bürstete sich die Haare, zog dann ihre Spielkleider an – ein T-Shirt und ihre blaue Lieblingshose – und ging wieder hinunter.
Gerade als sie sich an den Tisch gesetzt hatte, auf den Mrs. Hilmer Saft und Cornflakes gestellt hatte, kam Daddy zur Tür herein. »Keine Spur von ihr«, sagte er. »Wir haben überall gesucht. Es gibt einen Typen, der gestern in der Stadt von Tür zu Tür gegangen ist, um für irgendeinen blöden Zweck Geld zu sammeln. Er war am Abend im Imbisslokal und ist gegen acht Uhr wieder gegangen. Auf dem Weg zum Highway müsste er an Joans Haus vorbeigekommen sein, ungefähr um die Zeit, als Andrea es verlassen hat. Sie sind auf der Suche nach ihm.«
Ellie bemerkte, dass Daddy den Tränen nahe war. Er hatte überhaupt keine Notiz von ihr genommen, aber das machte ihr in diesem Moment nichts aus. Es kam manchmal vor, dass Daddy in trüber Stimmung nach Hause kam, weil ihn etwas in seiner Arbeit mitgenommen hatte, und dann sagte er eine Weile fast nichts. Jetzt hatte er denselben Gesichtsausdruck.
Andrea hatte sich versteckt, dessen war sich Ellie sicher. Wahrscheinlich war sie absichtlich so früh von Joan weggegangen, weil sie sich mit Rob Westerfield im Versteck treffen wollte, dann war es vielleicht spät geworden, und sie hatte Angst gehabt, nach Hause zu gehen. Daddy hatte ihr gedroht, wenn sie ihn auf die Frage, wo sie gewesen sei, noch einmal anlügen würde, dann würde er ihr verbieten, im Schulorchester mitzuspielen. Das hatte er gesagt, als er herausbekommen hatte, dass sie mit Rob Westerfield eine Runde in dessen Auto gedreht hatte, statt in der Bücherei zu sitzen, wie sie behauptet hatte.
Andrea wollte unbedingt in das Orchester. Im letzten Jahr war sie als Einzige aus der ersten Highschoolklasse bei den Flöten aufgenommen worden. Aber wenn sie vorzeitig von Joan weggegangen und Rob im Versteck getroffen hatte und Daddy würde davon erfahren, dann konnte sie sich die Sache an den Hut stecken. Mommy sagte zwar immer, Andrea könne Daddy um den Finger wickeln, aber letzten Monat hatte sie das nicht gesagt. Da hatte ein Polizist Daddy nämlich gesteckt, dass er Rob Westerfield wegen zu schnellen Fahrens angehalten hätte und dass Andrea mit ihm im Auto gewesen sei.
Daddy hatte bis nach dem Essen gewartet. Dann hatte er Andrea gefragt, wie lange sie in der Bücherei gewesen sei.
Sie hatte nicht geantwortet.
Darauf hatte er gesagt: »Du bist also schlau genug, um zu kapieren, dass der Kollege, der Westerfield angehalten hat, mir erzählen würde, dass du mit ihm zusammen warst. Andrea, dieser Kerl ist nicht nur reich und verzogen, er ist durch und durch verdorben. Wenn er sich im Rausch der Geschwindigkeit umbringen will, dann soll er das meinetwegen tun, aber du wirst jedenfalls nicht im gleichen Auto sitzen. Ich verbiete dir ein für alle Mal, noch irgendetwas mit ihm zu tun zu haben.«
Das Versteck befand sich in der Garage hinter dem riesigen Haus, das die alte Mrs. Westerfield, Robs Großmutter, den Sommer über bewohnte. Die Tür war nie abgeschlossen, und manchmal schlichen sich Andrea und ihre Freundinnen hier ein und rauchten Zigaretten. Andrea hatte Ellie ein paar Mal mitgenommen, als sie auf sie aufpassen sollte.
Ihre Freundinnen waren sauer auf Andrea gewesen, weil sie sie mitgebracht hatte, aber sie hatte gesagt: »Ellie ist in Ordnung. Sie wird uns nicht verpetzen.« Ellie war richtig stolz gewesen, als Andrea das gesagt hatte. Andererseits hatte sie Ellie kein einziges Mal an der Zigarette ziehen lassen.
Ellie war sicher, dass Andrea gestern Abend früher von Joan weggegangen war, weil sie sich mit Rob Westerfield treffen wollte. Ellie hatte gehört, wie sie vorher mit ihm telefoniert hatte, und als sie auflegte, hatte sie fast geweint. »Ich hab Rob erzählt, dass ich mit Paulie auf die Fete gehe«, sagte sie, »und jetzt ist er stinksauer auf mich.«
Ellie musste an dieses Gespräch denken, während sie ihre Cornflakes zu Ende aß. Daddy stand am Herd. Er hielt eine Tasse Kaffee in der Hand. Mommy hatte wieder angefangen zu weinen, aber fast lautlos.
Plötzlich schien Daddy überhaupt erst aufzufallen, dass Ellie auch in der Küche war: »Ellie, ich glaube, es wäre besser, wenn du in die Schule gehst. Ich bringe dich in der Mittagspause hin.«
»Darf ich jetzt rausgehen?«
»Ja. Aber bleib in der Nähe vom Haus.«
Ellie holte ihre Jacke und schlüpfte schnell zur Tür hinaus. Es war der fünfzehnte November, und die Blätter waren feucht und glitschig unter den Füßen. Am Himmel hingen schwere Wolken, und es sah wieder nach Regen aus. Ellie wünschte, sie würden zurück nach Irvington ziehen, wo sie früher gewohnt hatten. Hier war es so einsam. Ihr Haus und das von Mrs. Hilmer waren die beiden einzigen in ihrer Straße.
Daddy hatte gerne in Irvington gewohnt, aber sie waren hierher gezogen, fünf Ortschaften weiter, weil Mommy ein größeres Haus mit einem größeren Garten haben wollte. Das konnten sie sich leisten, als sie weiter in den Norden von Westchester County zogen, in eine Stadt, die noch nicht zu einem Vorort von New York geworden war.
Wenn Daddy sagte, dass er Irvington vermisse, wo er aufgewachsen war und wo sie bis vor zwei Jahren gewohnt hatten, dann hielt ihm Mommy immer entgegen, wie groß das neue Haus sei. Darauf pflegte er zu erwidern, dass sie in Irvington einen unbezahlbaren Blick auf den Hudson und die Tappan-Zee-Brücke gehabt hätten und dass er nicht fünf Meilen fahren musste, um eine Zeitung oder ein Brot zu kaufen.
Das Grundstück war ringsum von Wald umgeben. Das große Haus von Mrs. Westerfield befand sich direkt hinter dem von Ellies Eltern, aber dazwischen war der Wald. Ellie blickte zum Küchenfenster, um sicherzugehen, dass niemand sie gesehen hatte, und rannte los.
Fünf Minuten später war sie am anderen Ende des Waldes angelangt und lief über die Wiese zum Eingang des Westerfieldschen Anwesens. Mit einem beklommenen Gefühl rannte sie die lange Auffahrt entlang und um die Villa herum – eine winzige Figur, die in der zunehmenden Düsterkeit des herannahenden Sturms zu verschwinden schien.
Es gab einen seitlichen Eingang zur Garage, der nie abgesperrt war. Trotzdem konnte Ellie die Klinke nur mit Mühe hinunterdrücken. Schließlich schaffte sie es und betrat den dämmrigen Raum. Die Garage bot Platz für vier Autos, aber das einzige, das Mrs. Westerfield nach dem letzten Sommer zurückgelassen hatte, war der Van. Andrea und ihre Freundinnen hatten sich ein paar alte Decken zum Sitzen mitgenommen. Sie saßen immer an der gleichen Stelle, ganz hinten, hinter dem Van, sodass sie nicht gesehen werden konnten, wenn jemand zufällig durch das Fenster schaute. Ellie wusste, dass Andrea sich dort verstecken würde, falls sie hier war.
Sie wusste nicht, warum, aber plötzlich hatte sie Angst. Sie musste sich praktisch zwingen, einen Fuß vor den andern zu setzen und sich dem hinteren Teil der Garage zu nähern. Aber dann sah sie hinter dem Van ein Stück Decke hervorschauen. Andrea musste hier sein! Die Mädchen hätten niemals die Decken auf dem Boden liegen gelassen; sie legten sie immer zusammen und versteckten sie im Schrank mit den Putzsachen, bevor sie die Garage verlie ßen.
»Andrea …« Leise rief sie ihren Namen, damit Andrea nicht erschrak. Wahrscheinlich schlief sie, dachte Ellie.
Ja, sie schlief. Obwohl es in der Garage dämmrig war, konnte Ellie Andreas lange Haare erkennen, die unter der Decke hervorschauten.
»Andrea, ich bin’s.« Ellie kniete sich neben Andrea und zog die Decke von ihrem Gesicht.
Andrea trug eine Maske, eine schreckliche Gespenstermaske, die ganz verschmiert und klebrig aussah. Ellie beugte sich vor, um sie wegzuziehen, und ihre Finger berührten eine eingedrückte Stelle in Andreas Stirn. Als sie zurückzuckte, bemerkte sie die Blutlache, in der sie kniete.
Und dann, von irgendwo her in dem großen Raum, hörte sie ganz deutlich jemanden atmen – heftige, schwere, tiefe Atemzüge, die mit einer Art Gekicher endeten.
In panischer Angst versuchte sie aufzustehen, aber sie rutschte auf dem Blut aus und fiel vornüber auf Andreas Brust. Ihre Lippen berührten etwas Glattes und Kühles – Andreas goldenen Anhänger. Dann rappelte sie sich hoch, drehte sich um und rannte los.
Ihr war nicht bewusst, dass sie den ganzen Weg über schrie, bis sie schon fast zu Hause angelangt war und Ted und Genine Cavanaugh in den Garten hinausliefen und ihre jüngere Tochter sahen, die mit ausgestreckten Armen aus dem Wald gerannt kam, eine zarte Gestalt, über und über bedeckt vom Blut ihrer Schwester.
ABGESEHEN VON DER BASEBALLSAISON, wenn sein Team trainierte oder ein Spiel bestritt, arbeitete der sechzehnjährige Paulie Stroebel nach der Schule und an den Samstagen in Hillwoods Tankstelle. Ansonsten hätte er im Feinkostgesch äft seiner Eltern einen Block weiter in der Main Street ausgeholfen, etwas, was er schon immer getan hatte, seit er sieben Jahre alt war.
In der Schule lernte er nur langsam, war aber in technischen Dingen geschickt und liebte es, Autos zu reparieren. Seine Eltern hatten Verständnis, dass er lieber für jemand anderen arbeiten wollte. Mit seinen strubbeligen blonden Haaren, blauen Augen, runden Backen und seinen stämmigen eins dreiundsiebzig galt Paulie bei seinem Boss in der Tankstelle als ruhiger, hart arbeitender Angestellter und bei seinen Mitschülern an der Delano Highschool als ziemlich schwachköpfiger Trottel. Sein einziger Erfolg in der Schule bestand darin, dass er in die Footballmannschaft aufgenommen wurde.
Als am Freitag die Nachricht vom Mord an Andrea Cavanaugh die Schule erreichte, wurden Beratungslehrer in alle Klassen geschickt, um den Schülern die furchtbare Neuigkeit mitzuteilen. Paul war gerade in eine Aufgabe vertieft, als Miss Watkins eintrat, kurz mit dem Lehrer flüsterte und dann auf den Schreibtisch klopfte, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
»Ich muss euch etwas sehr Trauriges mitteilen«, begann sie. »Soeben haben wir erfahren …« In stockenden Sätzen klärte sie die Schüler darüber auf, dass ihre Mitschülerin Andrea Cavanaugh ermordet worden war, Opfer eines brutalen Verbrechens. Es erfolgte ein Chor aus schockierten Ausrufen und ungläubigem Protest.
Doch ein lautes »Nein!« übertönte alles andere. Der stille, ruhige Paulie Stroebel war mit schmerzverzerrtem Gesicht aufgesprungen. Während seine Klassenkameraden ihn anstarrten, begannen seine Schultern zu zucken. Heftiges Schluchzen entrang sich seiner Brust, und er stürzte aus dem Klassenzimmer. Bevor sich die Tür hinter ihm schloss, sagte er noch etwas, aber seine Stimme war so erstickt, dass die meisten es nicht verstanden. Nur der Schüler, der am nächsten zur Tür saß, hätte später schwören können, dass Paulie gesagt hatte: »Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist!«
Emma Watkins, die Beratungslehrerin, die selbst noch ganz benommen von der schrecklichen Nachricht war, hatte das Gefühl, ein Messer hätte sie durchbohrt. Sie mochte Paulie sehr und konnte sich in die Lage des sich unermüdlich abrackernden Schülers einfühlen, der sich so verzweifelt um die Gunst der anderen bemühte.
Sie war sicher, dass die gequälten Worte, die er hervorgesto ßen hatte, gelautet hatten: »Ich hab nicht geglaubt, dass sie tot ist!«
An jenem Nachmittag erschien Paulie zum ersten Mal nicht zur Arbeit auf der Tankstelle und rief auch nicht seinen Boss an, um seine Abwesenheit zu erklären. Als seine Eltern an jenem Abend nach Hause kamen, fanden sie ihn auf seinem Bett liegend, den Blick an die Decke gerichtet, Fotos von Andrea verstreut neben ihm.
Hans und Anja Wagner-Stroebel waren beide in Deutschland geboren und als Kinder mit ihren Eltern in die Vereinigten Staaten gekommen. Sie hatten sich erst kennen gelernt und geheiratet, als sie schon auf die vierzig zugingen, und mit ihren zusammengelegten Ersparnissen das Feinkostgeschäft eröffnet. Sie waren von Natur aus eher zurückhaltend und kümmerten sich mit größter Fürsorge um ihren einzigen Sohn.
Jeder, der den Laden betrat, sprach über den Mord, alle fragten sich, wer um alles in der Welt solch ein furchtbares Verbrechen begehen konnte. Die Cavanaughs gehörten zu den Stammkunden des Ladens, und die Stroebels beteiligten sich an den aufgeregten Diskussionen, ob Andrea vielleicht mit jemandem in der Garage auf dem Westerfield-Besitz verabredet gewesen sei.
Alle waren sich einig, dass sie hübsch, aber ein bisschen eigensinnig gewesen war. Am Abend ihrer Ermordung sollte sie zusammen mit Joan Lashley bis neun Uhr Hausaufgaben machen, war aber schon früher wieder fortgegangen. Wollte sie sich noch mit jemandem treffen, oder war sie auf dem Nachhauseweg überfallen worden?
Als Anja Stroebel die Fotos auf dem Bett ihres Sohnes sah, sammelte sie sie eilig auf und steckte sie in ihre Handtasche. Als ihr Gatte sie fragend anblickte, schüttelte sie den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass er keine Fragen stellen solle. Dann setzte sie sich neben Paulie und nahm ihn in die Arme.
»Andrea war so ein hübsches Mädchen«, sagte sie mit sanfter Stimme, aus der man, wie immer, wenn sie aufgeregt war, den deutschen Akzent deutlich heraushörte. »Ich sehe sie noch vor mir, wie sie dir gratuliert hat, als du im letzten Frühjahr so großartig den Ball gefangen und das Spiel gerettet hast. Wie alle ihre Freunde bist du natürlich sehr, sehr traurig.«
Zuerst kam es Paulie so vor, als ob seine Mutter aus weiter Entfernung zu ihm spräche. Wie alle ihre Freunde. Was wollte sie damit nur sagen?
»Die Polizei wird sich zunächst alle vornehmen, mit denen Andrea besonders eng befreundet war, Paulie«, sagte sie langsam, aber bestimmt.
»Ich habe sie auf eine Fete eingeladen«, sagte er stockend. »Sie hat gesagt, dass sie mit mir hingehen würde.«
Anja war sicher, dass ihr Sohn sich noch nie zuvor mit einem Mädchen verabredet hatte. Letztes Jahr hatte er sich geweigert, auf das Fest der zweiten Klasse zu gehen.
»Dann mochtest du sie also gerne, Paulie?«
Paulie Stroebel fing an zu weinen. »Mama, ich habe sie so wahnsinnig geliebt.«
»Du mochtest sie, Paul«, sagte Anja unbeirrt. »Merk dir das genau.«
Am Samstag meldete sich Paulie Stroebel auf der Tankstelle zur Arbeit und entschuldigte sich ruhig und gefasst dafür, dass er am Freitag nicht erschienen war.
Am frühen Samstagnachmittag lieferte Hans Stroebel persönlich einen Virginiaschinken und Salate am Haus der Cavanaughs ab und bat ihre Nachbarin Mrs. Hilmer, welche die Tür öffnete, der Familie sein herzliches Beileid zu übermitteln.
»ES IST DUMM, dass Ted und Genine beide Einzelkinder sind«, hörte Ellie Mrs. Hilmer am Samstag mehrfach sagen. »Es macht die Sache leichter, wenn man in einer solchen Zeit viele Verwandte um sich hat.«
Ellie wollte gar nicht, dass mehr Verwandte um sie herum waren. Sie wollte nur, dass Andrea wieder da wäre, und sie wollte, dass Mommy zu weinen aufhörte, und sie wollte, dass Daddy mit ihr redete. Er hatte fast kein Wort mehr mit ihr gesprochen, seitdem sie ihm von ihrer schrecklichen Entdeckung in der Garage erzählt hatte.
Später, nachdem er beim Versteck gewesen war und Andrea gesehen hatte und all die Polizisten gekommen waren, hatte er gesagt: »Ellie, du hast doch gestern Abend schon geahnt, dass sie zur Garage gegangen war. Warum hast du uns denn nichts gesagt?«
»Du hast mich nicht gefragt und mich gleich zu Bett geschickt.«
»Ja, das stimmt«, gab er zu. Aber später hörte sie, wie er zu einem der Beamten sagte: »Wenn ich nur gewusst hätte, dass Andrea dort war. Vielleicht wäre sie um neun Uhr noch am Leben gewesen. Vielleicht hätte ich sie noch rechtzeitig gefunden.«
Jemand von der Polizei stellte Ellie Fragen über das Versteck und wer sonst noch dort hingegangen sei. In ihrem Kopf hörte sie Andrea sagen: »Ellie ist in Ordnung. Sie wird uns nicht verpetzen.«
Ellie musste an Andrea denken und dass sie nie mehr zur ückkommen würde, und fing so heftig zu weinen an, dass die Polizisten aufhörten, sie zu befragen.
Am Samstagnachmittag stand ein Mann vor der Tür, der sich als Detective Marcus Longo vorstellte. Er führte Ellie in das Esszimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Er machte einen freundlichen Eindruck. Er sagte, er hätte einen kleinen Jungen, der genauso alt sei wie sie, und dass sie sich richtig ähnlich sähen. »Er hat auch so blaue Augen wie du«, sagte er. »Und genau die gleiche Haarfarbe. So wie Sand, wenn die Sonne draufscheint.«
Dann sagte er, dass vier von Andreas Freundinnen zugegeben hätten, öfter mit ihr im Versteck gewesen zu sein, aber keine von ihnen sei an jenem Abend dort gewesen. Er nannte die Mädchen und fragte: »Ellie, kennst du noch irgendein anderes Mädchen, das sich mit deiner Schwester dort getroffen haben könnte?«
Wenn die Mädchen es schon selbst zugegeben hatten, würde sie wohl niemanden verpetzen. »Nein«, flüsterte sie. »Mehr waren es nicht.«
»Gibt es noch irgendeinen anderen, den Andrea im Versteck getroffen haben könnte?«
Sie zögerte. Sie konnte ihm unmöglich von Rob Westerfield erzählen. Damit würde sie wirklich Verrat an Andrea begehen.
Detective Longo sagte: »Ellie, jemand hat Andrea so schlimm geschlagen, dass sie jetzt nicht mehr lebt. Du darfst diesen Menschen nicht schützen. Andrea würde bestimmt wollen, dass du uns alles erzählst, was du weißt.«
Ellie schaute auf ihre Hände. In dem großen alten Farmhaus war dieser Raum ihr Lieblingszimmer. Früher waren die Wände mit einer hässlichen Tapete beklebt gewesen, aber jetzt waren sie in einem freundlichen Gelb gestrichen, und über dem Tisch hing ein neuer Kronleuchter, dessen Glühbirnen wie Kerzen aussahen. Mommy hatte den Kronleuchter auf einem kleinen Flohmarkt gefunden und gesagt, er sei ein wahres Schmuckstück. Sie hatte eine Ewigkeit gebraucht, um ihn zu putzen, aber jetzt wurde er von allen Besuchern bewundert.
Sie aßen immer im Esszimmer zu Abend, obwohl Daddy es blödsinnig fand, so viel Umstände zu machen. Mommy besaß ein Buch mit Anleitungen, wie der Tisch für ein offizielles Essen zu decken war. Andrea hatte die Aufgabe, jeden Sonntag den Tisch nach diesen Anleitungen zu decken, auch wenn sie keine Gäste erwarteten. Ellie hatte ihr immer dabei geholfen, und es hatte ihnen Spaß gemacht, das gute Silber und Porzellan aufzulegen.
»Der heutige Ehrengast ist Lord Malcolm Bigbottom«, hatte Andrea gesagt. Dann hatte sie im Benimmbuch nachgeschaut und ihn auf den Stuhl zur Rechten von Mommy platziert. »Oh nein, Gabrielle, das Wasserglas muss rechts oberhalb vom Messer stehen.«
Ellies richtiger Name war Gabrielle, aber sie wurde nie so genannt, außer im Scherz von Andrea. Sie fragte sich, ob es ab jetzt ihre Aufgabe sein würde, jeden Sonntag den Tisch zu decken. Hoffentlich nicht. Ohne Andrea würde es nicht so lustig sein.
Es war ein komisches Gefühl, so zu denken. Auf der einen Seite wusste sie, dass Andrea tot war und am Dienstagmorgen auf dem Friedhof von Tarrytown in Anwesenheit von Grandma und Grandpa Cavanaugh begraben werden würde. Auf der anderen Seite erwartete sie immer noch, dass Andrea jeden Augenblick ins Haus treten, sie beiseite nehmen und ihr irgendein Geheimnis anvertrauen würde.
Ein Geheimnis. Manchmal hatte sich Andrea mit Rob Westerfield in dem Versteck getroffen. Aber Ellie hatte ihr hoch und heilig versprochen, es niemals zu verraten.
»Ellie, wer auch immer Andrea das angetan hat, er könnte auch anderen etwas antun, wenn man ihn nicht aufhält«, sagte Detective Longo. Seine Stimme war ruhig und freundlich.
»Glauben Sie, dass es meine Schuld ist, dass Andrea tot ist? Daddy glaubt das.«
»Nein, Ellie, das glaubt er nicht«, sagte Detective Longo. »Aber alles, was du uns jetzt erzählen kannst über irgendwelche Geheimnisse zwischen dir und Andrea, wird uns weiterhelfen.«
Rob Westerfield, dachte Ellie. Vielleicht würde sie ihr Versprechen nicht wirklich brechen, wenn sie Detective Longo von ihm erzählte. Wenn Rob derjenige war, der Andrea getötet hatte, dann sollte es jeder wissen. Sie schaute auf ihre Hände. »Manchmal hat sie sich mit Rob Westerfield im Versteck getroffen«, flüsterte sie.
Detective Longo lehnte sich vor. »Weißt du, ob sie sich an jenem Abend treffen wollten?«, fragte er.
Ellie merkte ihm an, dass ihn die Erwähnung von Rob in äußerste Spannung versetzt hatte. »Ich glaube, ja. Paulie Stroebel hat sie gefragt, ob sie mit ihm zur Thanksgiving-Fete gehen will, und sie hat eingewilligt. Eigentlich wollte sie gar nicht mit ihm hingehen, aber Paulie hatte ihr gesagt, er weiß, dass sie sich heimlich mit Rob Westerfield trifft, und sie hatte Angst, dass er es Daddy weitererzählt, wenn sie nicht mit ihm hingeht. Aber dann war Rob wütend auf sie, und sie wollte ihm erklären, dass sie Paulie nur zugesagt hatte, damit er Daddy nichts verrät. Vielleicht ist sie deshalb früher von Joan weggegangen.«
»Woher wusste Paulie, dass sich Andrea mit Rob Westerfield traf?«
»Andrea hat gemeint, dass er ihr ein paar Mal heimlich auf dem Weg zum Versteck gefolgt ist. Paulie wollte, dass sie seine Freundin wird.«
JEMAND HATTE DIE WASCHMASCHINE benutzt.
»Was war denn so dringend, dass es nicht warten konnte, bis ich wieder da bin, Mrs. Westerfield?«, fragte Rosita leicht besorgt, als ob sie befürchtete, ihre Pflichten vernachlässigt zu haben. Sie war am Donnerstag weggefahren, um ihre kränkelnde Tante zu besuchen. Jetzt war es Samstagmorgen, und sie war soeben zurückgekehrt. »Sie sollten sich nicht um die Wäsche kümmern, Sie haben doch ohnehin schon so viel Arbeit.«
Linda Westerfield wusste nicht, warum plötzlich eine Alarmglocke in ihrem Kopf schrillte. Aus irgendeiner Vorahnung heraus antwortete sie ausweichend auf Rositas Bemerkung.
»Ach, wissen Sie, wenn ich einen Anstrich überprüfe und versehentlich mit der Farbe in Berührung komme, dann ist es manchmal am einfachsten, die Kleider sofort in die Maschine zu stecken«, sagte sie.
»Also, wenn ich mir die Menge an Waschmittel ansehe, die Sie verbraucht haben, dann müssen Sie ganz ordentlich mit der Farbe in Berührung gekommen sein. Und, Mrs. Westerfield, ich hab gestern in den Nachrichten das mit dem Cavanaugh-Mädchen gehört. Ich muss die ganze Zeit daran denken. Wer hätte es für möglich gehalten, dass so etwas in einer kleinen Stadt wie der unsrigen passieren kann? Es bricht einem das Herz.«
»Ja, es ist schrecklich.« Es musste Rob gewesen sein, der die Maschine benutzt hatte, dachte Linda. Vince, ihr Ehemann, wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas zu machen. Er hätte wahrscheinlich nicht einmal gewusst, wie er das Gerät überhaupt bedienen sollte.
Rositas Augen waren glänzend geworden, und sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Die arme Mutter.«
Rob? Was sollte er denn so Wichtiges zu waschen haben?
Früher, mit elf, hatte er mal versucht, den Zigarettengeruch aus seinen Kleidern zu waschen.
»Andrea Cavanaugh war so ein hübsches Ding. Und ihr Vater ist Lieutenant bei der Polizei! Eigentlich sollte man meinen, dass so ein Mann in der Lage sein müsste, seine Tochter zu beschützen.«
»Ja, sollte man meinen.« Linda saß an der Küchentheke und überflog Entwürfe von Fenstern, die sie für das neue Haus eines Kunden angefertigt hatte.
»Dass jemand dazu fähig ist, so einem Mädchen den Kopf einzuschlagen. Muss ein Monster sein. Ich hoffe nur, dass sie ihn gleich aufhängen, wenn sie ihn finden.«
Rosita redete weiter vor sich hin und schien keine Antwort zu erwarten. Linda legte die Entwürfe zurück in die Mappe. »Mr. Westerfield und ich sind heute mit ein paar Freunden zum Abendessen im Restaurant verabredet, Rosita« , sagte sie, als sie sich von ihrem Hocker gleiten ließ.
»Und Rob, ist er zu Hause?«
Gute Frage, dachte Linda. »Er ist joggen gegangen und wird jeden Augenblick zurück sein. Fragen Sie ihn dann selbst.« Das kurze Zittern ihrer Stimme war Linda nicht entgangen. Rob war gestern den ganzen Tag unruhig und schlecht gelaunt gewesen. Als sich die Nachricht von Andrea Cavanaughs Tod wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitete, hatte sie erwartet, dass er bestürzt reagieren würde. Stattdessen tat er das Ganze ab. »Ich hab sie kaum gekannt, Mom«, sagte er.
War es vielleicht so, dass Rob, wie viele Neunzehnjährige, den Gedanken an den Tod eines jungen Menschen nicht ertragen konnte? Dass er davon in unerträglicher Weise an seine eigene Sterblichkeit erinnert wurde?
Linda stieg langsam die Treppe hinauf, wie beschwert von der plötzlichen Ahnung einer drohenden Katastrophe. Vor sechs Jahren waren sie aus ihrem Haus in der East Seventieth Street in Manhattan in diese Residenz aus dem achtzehnten Jahrhundert gezogen. Rob war damals aufs Internat gegangen. Sie und ihr Mann hatten beide den Wunsch gehabt, ständig in dieser Stadt zu leben, in der sie schon seit jeher den Sommer im Haus von Vinces Mutter verbracht hatten. Vince hatte gemeint, es gebe hier großartige Möglichkeiten, Geld zu verdienen, und er hatte angefangen, in Grundbesitz zu investieren.
Das Haus, in dem die Zeit stillgestanden zu sein schien, verschaffte ihr immer wieder ein angenehmes Gefühl von Ruhe und Geborgenheit. Heute aber hielt Linda weder inne, um das polierte Holz des Geländers unter ihrer Hand zu spüren, noch blieb sie stehen, um den Blick vom Fenster im Flur auf das Tal zu genießen.
Sie lief direkt zu Robs Zimmer. Die Tür war geschlossen. Da sie ihn jede Minute zurückerwartete, öffnete sie hastig die Tür und trat ein. Das Bett war nicht gemacht, aber das übrige Zimmer war ungewöhnlich ordentlich aufger äumt. Rob war pingelig, was seine Kleidung betraf; manchmal bügelte er Hosen nach, die frisch aus der Reinigung gekommen waren, um die Bügelfalte noch schärfer zu machen, aber mit den getragenen Sachen ging er völlig sorglos um. Eigentlich hatte sie erwartet, die Kleider, die er gestern und am Donnerstag getragen hatte, auf dem Fußboden vorzufinden, wo sie auf die Rückkehr Rositas warteten.
Rasch durchquerte sie das Zimmer und schaute in seinem Bad im Wäschekorb nach. Auch der war leer.
Irgendwann zwischen Donnerstagmorgen, als Rosita aus dem Haus gegangen war, und heute früh hatte Rob die Kleider, die er gestern und am Donnerstag getragen hatte, gewaschen und getrocknet. Warum?
Linda hätte gerne noch in seinem Schrank nachgesehen, aber sie befürchtete, dass er sie dabei überraschen könnte. Sie fühlte sich in diesem Augenblick einer Auseinandersetzung nicht gewachsen. Sie verließ das Zimmer, achtete darauf, die Tür wieder zu schließen, und lief über den Flur hinunter in den Neuanbau, den sie und Vince hatten machen lassen, um das Haus zu vergrößern.
Mit einem Mal meinte sie, die ersten Anzeichen einer Migräne zu verspüren, ließ die Mappe im Wohnzimmer auf das Sofa fallen, ging ins Badezimmer und öffnete den Arzneischrank. Sie schluckte zwei Tabletten, und als sie dabei in den Spiegel sah, erschrak sie beim Anblick ihres Gesichtes, das blass und voller Angst war.
Sie trug ihren Jogginganzug, weil sie vorgehabt hatte, nach der Arbeit an den Entwürfen eine Runde zu laufen. Ihr kurz geschnittenes kastanienbraunes Haar wurde von einem Band gehalten. Ihr Gesicht war ungeschminkt. Unter ihrem prüfenden, kritischen Blick kam sie sich mit den verräterischen Fältchen, die sich um Augen und Mundwinkel gebildet hatten, älter als vierundvierzig vor.
Das Badezimmerfenster ging auf den Vorgarten und die Auffahrt hinaus. Als sie einen Blick hinauswarf, sah sie ein unbekanntes Auto auf das Haus zufahren. Einen Augenblick später ging die Klingel. Sie wartete darauf, dass Rosita ihr über die Gegensprechanlage mitteilen würde, wer gekommen sei, aber stattdessen kam Rosita die Treppe herauf und überreichte ihr eine Visitenkarte.
»Er möchte mit Rob sprechen, Mrs. Westerfield. Ich habe ihm gesagt, dass Rob beim Joggen ist, und er hat gesagt, er würde warten.«
Linda war fast zwanzig Zentimeter größer als Rosita, die nur knapp einen Meter fünfundfünfzig maß, aber sie musste sich fast an der kleinen Frau festhalten, als sie den Namen auf der Karte las: Detective Marcus Longo.
ELLIE HATTE DAS GEFÜHL, überall nur im Weg zu stehen. Als der nette Polizeibeamte gegangen war, wollte sie zu ihrer Mutter, aber Mrs. Hilmer sagte, der Doktor habe ihr etwas gegeben, damit sie schlafen könne. Daddy blieb fast die ganze Zeit in seinem kleinen Zimmer hinter geschlossener Tür. Er sagte, er wolle allein sein.
Grandma Reid, die in Florida wohnte, traf am späten Samstagnachmittag ein, aber sie weinte die ganze Zeit nur.
Mrs. Hilmer und einige von Mommys Freundinnen aus dem Bridge-Club saßen in der Küche. Ellie hörte, wie eine von ihnen, Mrs. Storey, sagte: »Ich komme mir so überfl üssig vor, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass Genine und Ted sich vielleicht weniger allein gelassen fühlen, wenn wir in ihrer Nähe sind.«
Ellie ging nach draußen und kletterte auf die Schaukel. Sie holte kräftig Schwung, bis die Schaukel immer höher und höher schwang. Am liebsten wollte sie sich mit der Schaukel überschlagen. Am liebsten wollte sie von ganz oben hinunterfallen und auf dem Boden aufschlagen und sich wehtun. Vielleicht würde es in ihr drinnen dann nicht mehr so wehtun.
Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Sonne ließ sich nicht blicken, und es war kühl. Nach einer Weile gab Ellie auf; die Schaukel wollte sich nicht überschlagen. Sie ging ins Haus zurück und trat in den schmalen Gang vor der Küche. Sie hörte die Stimme von Joans Mutter. Sie saß bei den anderen Damen, und Ellie hörte, dass sie weinte. »Ich war überrascht, dass Andrea so früh wieder gehen wollte. Es war schon dunkel draußen, und ich habe kurz überlegt, sie nach Hause zu fahren. Wenn …«
Ellie hörte Mrs. Lewis sagen: »Wenn Ellie ihnen bloß erz ählt hätte, dass Andrea manchmal zu dieser Garage ging, in dieses ›Versteck‹, wie die Mädchen es nennen. Vielleicht wäre Ted noch rechtzeitig dort gewesen.«
»Wenn Ellie bloß …«
Ellie schlich mit vorsichtigen Schritten die Treppe hoch, um nicht gehört zu werden. Grandmas Koffer lag auf ihrem Bett. Das war merkwürdig. Schlief Grandma denn nicht in Andreas Zimmer? Es war jetzt leer.
Vielleicht sollte sie selbst in Andreas Zimmer schlafen. Dann könnte sie, falls sie heute Nacht aufwachte, so tun, als ob Andrea jeden Augenblick zurückkommen würde.
Die Tür zu Andreas Zimmer war geschlossen. Sie öffnete sie so leise, wie sie es immer am Samstagmorgen getan hatte, wenn sie hineinspähte, um nachzuschauen, ob Andrea noch schlief.
Daddy stand an Andreas Schreibtisch. Er hielt ein gerahmtes Foto in der Hand. Ellie wusste, dass es das Babyfoto von Andrea war, das mit dem Silberrahmen, auf dem oben »Daddys kleiner Schatz« eingraviert war.
Sie beobachtete, wie er den Deckel der Spieldose öffnete. Das war auch ein Geschenk, das er für Andrea gekauft hatte, gleich nach der Geburt. Als Baby wollte Andrea nie ins Bett – aber wenn Daddy die Spieldose aufzog und mit Andrea im Arm durch das Zimmer tanzte und leise den Text des Liedes mitsang, sank sie jedes Mal schnell in den Schlaf.
Ellie hatte gefragt, ob Daddy sie auf die gleiche Art zum Schlafen gebracht hatte, aber Mommy hatte gesagt, dass das nie nötig gewesen sei. Vom Tag ihrer Geburt an sei Ellie unkompliziert gewesen und von allein eingeschlafen.
Einige Worte aus dem Lied gingen Ellie durch den Kopf, als die Melodie durch den Raum klang. »… Du bist Daddys kleiner Schatz, wirst es immer sein… Du bist mein Weihnachtsengel, mein Christbaumstern … Und du bist Daddys kleiner Schatz.«
Sie sah, wie Daddy sich auf die Kante von Andreas Bett setzte und zu schluchzen anfing.
Ellie schlich aus dem Zimmer und schloss die Tür so leise, wie sie sie geöffnet hatte.