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Ruth Klüger
Katastrophen

Ruth Klüger
Katastrophen

Über deutsche Literatur

imge

In memoriam
Heinz Politzer
Lehrer, Lyriker,
»Rabbi of Dwinelle Hall«

Inhalt

Vorwort

Gibt es ein »Judenproblem«
in der deutschen Nachkriegsliteratur?

Thomas Manns jüdische Gestalten

Thomas Mann als Literaturkritiker
Dankesrede für den Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck

»Die Ödnis des entlarvten Landes«:
Antisemitismus im Werk jüdisch-österreichischer Autoren

Die Leiche unterm Tisch:
Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur
des neunzehnten Jahrhunderts

Der eingerichtete Mensch:
Innendekor bei Adalbert Stifter

Freiheit, die ich meine:
Fremdherrschaft in Kleists ›Hermannsschlacht‹
und ›Verlobung in St. Domingo‹

Tellheims Neffe:
Kleists Abkehr von der Aufklärung

Kreuzzug und Kinderträume in Lessings ›Nathan der Weise‹

Sittah, Recha, Daja
Dankesrede 2007 für den Lessing-Preis des Freistaates Sachsen

Nachweise

Vorwort

Was uns ein geliebtes oder auch ein nur anregendes Buch sagt, ist nicht dasselbe wie das, was »der Dichter uns sagen will«. Wir haben jeder und jede unsere eigene Sprache, und diese Sprachen sind so unterschiedlich wie die Handschriften und die Fingerabdrücke. Die Autoren sprechen eine Sprache, wir eine andere, sie sind gesättigt von ihren, wir von unseren Erfahrungen, sie werfen uns mit ihren Büchern ein Seil zu und ziehen an dessen einem Ende, wir am anderen, zwischen uns ist die Spannung.

Von Lessings ›Nathan der Weise‹ etwa will ich wissen: Wozu die Kulisse eines bitterbösen Krieges hinter so viel Menschenfreundlichkeit? und merke: hier ist das erste moderne Geschichtsdrama, und zwar dank dieses katastrophalen Kreuzzugs, der die Aufklärung relativiert.

Bei Kleist frage ich: Wieso schon damals diese Katastrophen, diese Feuersbrünste, Invasionen, Revolutionen, Massenmorde und Massenbewegungen – geniale, überreizte Gestaltungen von dem, was noch kommen sollte? Und die Antwort lautet: Eben, schon damals.

Adalbert Stifter frage ich nach der Angst, die hinter den Barrikaden lauert, die er wie buntes Spielzeug vor einem immanenten Terror aufbaute. Verschiebt man seine biedermeierlichen Verschanzungen, so flackern die erahnten Katastrophen in den Ritzen auf, und ihr Licht fällt noch durch unsere Fensterscheiben.

Schließlich steckt in mir die Empörung und Nostalgie der Nachzüglerin, die von jenen 200 Jahren zwischen Aufklärung und Endlösung, als die Juden teilhatten am deutschen Kulturleben, nur noch einen letzten Zipfel erwischen konnte, und ich ziehe kräftig an diesem Zipfel eines Seils, unter dem sich der Abgrund der jüdischen Katastrophe auftut.

Auch davon handelt das vorliegende Buch.

R.K.

Gibt es ein »Judenproblem« in der deutschen Nachkriegsliteratur?

In Shakespeares England, ähnlich wie im Nachkriegsdeutschland, gab es praktisch keine Juden. Sie waren im Mittelalter vertrieben worden. Trotzdem stand eines Tages im Jahre 1594 ein merkwürdiges Scheusal auf der Londoner Bühne, ein Mann, der nichts im Kopf hat als Geld und Haß, der sich wünscht, seine Tochter läge als Leiche vor ihm, falls ihr Tod den Verlust seiner Dukaten rückgängig machen könnte, und der seinem Feind kaltblütig und öffentlich das Herz aus dem Leib schneiden würde, wenn ihn eine kühne, hochherzige Christin nicht im letzten Augenblick daran hinderte. In den Händen seines großen Schöpfers gewann der Jude Shylock, von dem hier die Rede ist, bei aller Groteskerie nicht nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit, sondern er wurde mit der Zeit geradezu der Inbegriff des Juden in der Literatur. Wann immer wir von der europäischen Judendarstellung der Neuzeit sprechen, müssen wir auf Shylock zurückgreifen, denn er hat sich uns eingeprägt wie nur wenige Gestalten der Weltliteratur.

Zu Shylocks eben erwähnten Haupteigenschaften, nämlich Grausamkeit bis zur Mordlust und Habgier bis zur Verdrängung der Elternliebe, kommt aber noch eine dritte: die Rachsucht gegen seine Verächter. Shylock hat bekanntlich zwei große Reden, einmal im ersten Akt, dritte Szene, wo er in Blankversen sagt »Du nanntest mich ungläubig, einen Hund / Und einen Halsabschneider, und du spucktest / Auf meinen Judenkittel« (und doch erwartest du, daß dir der Hund Geld leiht), und die zweite, berühmte Prosarede im dritten Akt, die beginnt: »Ich bin ein Jude. Hat ein Jude nicht Augen? […]« und endet, »wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? und wenn ihr uns Unrecht tut, sollen wir uns nicht rächen?« Auf Grund dieser beiden Gefühlsausbrüche ist es möglich, Shylock als Opfer des Judenhasses zu sehen, und so wird er auch auf modernen Bühnen oft und teils im Widerspruch zum Text als Verstoßener der erbarmungslosen Christenwelt dargestellt. Besonders in Deutschland, wo ›Der Kaufmann von Venedig‹ in den letzten Jahren auf dem Spielplan bemerkenswert vieler Bühnen erscheint, wird Shylock meist als eine Art pervertierter Nathan gespielt. Anders als Nathan, der Respekt einflößen soll (und daher das Publikum oft langweilt), ist Shylock in solchen Inszenierungen sowohl grauenerregend wie mitleidheischend. Doch da er ja kein tragischer Held, sondern der Schurke in einer Komödie ist, so erweckt er im Publikum wohl weniger den Jammer und Schrecken einer Katharsis als vielmehr eine Mischung von brutaler Ablehnung und sentimentaler Einfühlung. Und damit kommen wir zum eigentlichen Thema dieser Ausführungen, der Behandlung jüdischer Gestalten in der deutschen Nachkriegsliteratur, in der, wie zu zeigen sein wird, weitgehend dieselbe ungute Mischung vorherrscht.

Es ist mir hier nicht um Vollständigkeit zu tun, nicht darum, die ganze Skala des heutigen Kulturbetriebs zu mustern. Auch wie sich deutsche Kulturschaffende außerhalb ihrer Werke zu jüdischen Menschen und Problemen verhalten und äußern, ist relativ nebensächlich. Was uns beschäftigen soll, ist die eigentliche Darstellung von Juden auf verschiedenen Geschmacksebenen, einschließlich der Populärliteratur und des Films.

Hans Scholz’ Roman ›Am grünen Strand der Spree‹ (1955) ist kein literarisch hochstehendes Werk, aber es war ein außerordentlicher Erfolg, als es erschien, ist noch immer als Taschenbuchausgabe zu haben und erfreut sich besonders in Berlin großer Beliebtheit. Der erste Teil besteht aus einem Tagebuch, das von einem deutschen Soldaten während des Feldzugs in Polen geschrieben sein soll und nach dem Krieg von seinen Freunden in Berlin gelesen wird. Dieser Soldat ist ein kritisch denkender Mensch, großzügig, ein Nazigegner, der sich über Grausamkeit und Gerechtigkeit Gedanken macht – mit anderen Worten, er ist ein moralisch verläßlicher Beobachter. In Polen wird er Zeuge der Judenverfolgung und verurteilt die Nazi-Maßnahmen. Aber merkwürdigerweise werden die eigentlichen Brutalitäten, die er wahrnimmt, von Juden an Juden verübt. Er schildert diese Juden ungerührt als abstoßend: »Sie tragen Gummiknüppel. Haben etwas Strizzihaftes, Luden, Luder. Hager mit Fuchsaugen […]. Die Bengel lassen keine Gelegenheit aus, zwischen ihre Rassegenossen zu dreschen.«1 Doch nun kommt das Moment der Rührung: Ein kleines jüdisches Mädchen sucht diesen »Rassegenossen«, die sie terrorisieren, zu entkommen und läuft dabei auf den Erzähler zu, den sie mit »Scheener Herr aus Daitschland!« tituliert. Dadurch, daß das naive Kind ihn vertrauenswürdig und »schön« findet, wird dem Leser die physische und moralische Überlegenheit des Deutschen sozusagen von außen vermittelt, gegenüber den Juden, denen sogar die eigenen Kinder aus gutem Grund mißtrauen. Scholz mischt also Mißbilligung für die Nazis mit Verachtung für ihre Opfer. Der Leser kann den Juden in Gestalt des Kindes bemitleiden und ihn gleichzeitig in Gestalt der Erwachsenen ablehnen. Vermutlich ist es gerade die Unwahrscheinlichkeit dieser Szene, die ihren Reiz ausmacht, nämlich daß ein ostjüdisches Kind in den 40er Jahren sich vor seinen eigenen Leuten schützen muß und ausgerechnet bei einem Deutschen in Uniform Hilfe sucht. Als Gegenbild dessen, was aus den Dokumenten und Zeitungen bekannt war, ist die Stelle angelegt, etwaige Schuldgefühle des Lesers zu beschwichtigen und Vorstellungen einer degenerierten Judenschaft wieder aufleben zu lassen. Übrigens gelingt es dem Erzähler nicht, »die kleine Taube« vor den blutigen Schlägen ihrer »Rassegenossen« zu bewahren.

Auch in dem ostdeutschen, 1958 erschienenen Roman ›Nackt unter Wölfen‹ von Bruno Apitz, der später verfilmt wurde und zu den »meistgekauften Büchern der DDR« zählt,2 erscheint der positiv gezeichnete Jude im KZ in der passiven Gestalt eines Kindes. Hier geht es um einen kleinen jüdischen Jungen, der von Auschwitz nach Buchenwald geschmuggelt und dort von den kommunistischen Insassen versteckt und gerettet wird. Apitz ist ein bedeutenderer Schriftsteller als Scholz, und doch arbeitet er mit derselben Schablone, nämlich mit dem Juden als hilflosem Kind, das tatkräftige, erwachsene Deutsche beschützen. Im letzten Satz des Romans und in einem nachdrücklichen Gleichnis schwebt das Kind wie eine Nußschale über den Häuptern der heldenhaften Menge, die sich und das Lager befreit. Der Jude als Opfer des Holocaust wird verkleinert, sozusagen verkindlicht, als wären Juden nur halbzufällig und nebenbei Naziopfer gewesen, die dann von den eigentlichen, ideologischen Gegnern der Nazis gerettet wurden, von zielbewußten »Politischen«, die ihrerseits nicht passiv und kindlich litten, sondern mit Festigkeit kämpften und schließlich alles wieder gut machten. Die jüdische Katastrophe, einschließlich des großen Kindermords, wird aufgehoben oder bleibt ausgespart.

Unter westdeutschen Nachkriegsautoren hat sich wohl keiner so ausführlich mit dem »Judenproblem« beschäftigt wie Alfred Andersch. Seine bekanntlich vielgelesenen, existentialistisch gefärbten Romane stellen ethische Fragen, die der Autor, besonders in den früheren Werken, meist auch mit Ernsthaftigkeit und unüberhörbarer Sicherheit beantwortet. Seine Gestalten sprechen gern und flüssig über Willensfreiheit und Schicksal und bewähren sich in sinnvollen und lebensbestimmenden Entscheidungen.

In dreien dieser Romane, in denen Juden erscheinen, läßt sich ein Phänomen nachweisen, das ich als Wiedergutmachungsphantasie bezeichnen möchte. Das heißt, die Verfolgung von Juden durch Deutsche ist zwar der Hintergrund und die Grundgegebenheit in allen drei Fällen, im Vordergrund aber spielt sich das Gegenteil ab. Dort werden Juden von Deutschen ganz außergewöhnlich gut behandelt, und zwar mit der größten Selbstverständlichkeit, als seien solche Fälle eher typisch als Ausnahmen. Nun ist die Erfüllung geheimer Wünsche, oder das »Richtigstellen« einer rauhen Wirklichkeit, gewiß eine der therapeutischen Funktionen von Literatur; doch wenn Phantasie sich als Realismus gibt, dann wird daraus per definitionem Kitsch. Die Überhöhung der Wirklichkeit, wenn sie als ästhetische Methode ernst genommen werden will, muß dem Leser als solche deutlich sein. Besonders in bezug auf die historische Vergangenheit sollten Wunschträume nicht so tun, als spiegelten sie, was stattgefunden hat.

Der Roman ›Sansibar oder der letzte Grund‹ (1957) spielt in den dreißiger Jahren in einer kleinen Hafenstadt an der Ostseeküste. Die Hauptpersonen sind, kurz gefaßt, eine junge Jüdin, Fremde am Ort, die nach Schweden zu entkommen sucht; ein Pfarrer, der eine moderne, Barlach-ähnliche Holzskulptur ins Ausland schmuggeln will, bevor sie von der Regierung als entartete Kunst beschlagnahmt wird; ein junger Kommunist, der im Begriff ist, aus der Partei auszutreten und Deutschland zu verlassen, um sein persönliches Freiheitsideal zu verwirklichen; und ein alter Kommunist, der als Fischer ein Boot besitzt und die Jüdin wie das Kunstwerk schließlich mitnimmt, sich aber zunächst fürchtet, die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu lenken und dadurch seine geistig gestörte Frau dem Euthanasie-Programm der Nazis preiszugeben. Der junge Kommunist hilft der Jüdin, indem er sie dem Pastor vorstellt, ohne sich aber letzten Endes ihrer Flucht anzuschließen: Er entscheidet, daß sein Weg ein schwererer sein muß. Wie, wird nicht weiter ausgeführt.

In dieser Gruppe von mehr oder minder gleichwertigen Gestalten ist die junge Judith keineswegs gefährdeter als alle anderen. Das ungeheuerliche »Untermenschentum«, das die Nazis den Juden auferlegten, kommt nicht zur Sprache. Konzentrationslager kommen als Möglichkeit ins Blickfeld, aber für den Kommunisten und den Pastor,3 während Massenmord und die gewaltsame Trennung von Familien im Zusammenhang mit der Fischersfrau erwähnt werden. Die Gefahr, in der sich die Jüdin befindet, ist wie die Gefährdung des Kunstwerks: Beide sind hilflos ausgeliefert und moralisch nicht autonom in einem Werk, dessen eigentliches Anliegen das Problem der ethischen Autonomie ist und das dieses Anliegen mit Hilfe einer Rettungsaktion für die beiden »Objekte«, Jüdin und Schnitzwerk, artikuliert. Andersch läßt keinen Zweifel an diesem Tatbestand, wenn er seinen jungen Kommunisten denkt läßt:

Wir drei wollen weg – ich, der Klosterschüler [d.h. die Holzfigur], das Mädchen. Aber es ist ein Unterschied, dachte er plötzlich, zwischen mir und den beiden anderen. Ich will weg, aber sie müssen weg. Ich bin zwar bedroht, mit dem Konzentrationslager, mit dem Tod, aber ich kann trotzdem frei entscheiden, ob ich bleibe oder gehe. Ich kann wählen: die Flucht oder das Martyrium. Sie aber können nicht wählen: sie sind Ausgestoßene. (S. 80 f.)

Aus dem Zusammenhang geht keineswegs hervor, warum es der Jüdin nicht ebenso freistehen sollte wie dem »Arier«, zwischen so verzweifelten Alternativen zu wählen. Den Lebenskampf kann jeder freiwillig aufgeben. An jüdischen Märtyrern, wenn wir darunter Menschen verstehen, die ein ungewöhnliches Opfer bringen, war unter den Juden der Holocaust-Zeit auch kein Mangel. Der eigentliche Unterschied zwischen Gregor und Judith in bezug auf ihre Zukunft liegt darin, daß das Mädchen mit dem leblosen Kunstobjekt gleichgestellt wird, so daß beide zu Dingen werden, die allem ausgeliefert sind, was mit ihnen geschieht. Die Abwertung der jüdischen Gestalt im Verhältnis zu den anderen wird unfreiwillig deutlich in einer Anspielung auf den klassischen amerikanischen Roman ›Die Abenteuer des Huckleberry Finn‹. Der junge Gehilfe des Fischers, ein leidenschaftlicher Leser von Abenteuerbüchern, denkt nämlich, daß Judith auf seinem Boot dieselbe Rolle spielt wie Mark Twains Nigger Jim, also der entlaufene Sklave, dem Huck auf seinem Mississippi-Floß zur Freiheit verhilft. Amerikanische schwarze Leser haben wenig Sympathie für diese Gestalt, die sie als verzeichnet und vom Dünkel weißer Herablassung behaftet empfinden. Ähnlich steht es mit Judith, die nur die Fracht der Freiheit ist, in einem Buch, das die Möglichkeit des Freiseins voraussetzt, aber eben für Nichtjuden, einschließlich dieses Jungen, der sie mit der amerikanischen Romanfigur gleichsetzt. Der Junge ist nicht unwichtig: Er gibt dem Roman seinen Titel, und ihm gehört auch die letzte Szene, in der er aus freien Stücken aus Schweden nach Deutschland zurückkehrt.

Zwar versucht Judith, ihr Leben und ihre Flucht selbst zu gestalten, aber diese Versuche mißlingen aufs kümmerlichste. Bei einer Annäherung an einige schwedische Matrosen kommt sie bis auf das Schiff, das sie in Sicherheit bringen könnte. Doch die Schweden erweisen sich als zu besoffen und vertrottelt, um zu verstehen, was sie eigentlich will. Erst als sie beim Verlassen des Schiffs auf den jungen Deutschen trifft, ändert sich ihr Geschick. Abgesehen von Judiths Lebensunfähigkeit, taucht hier eine weitere Unterstellung auf, nämlich die Abwertung skandinavischer Hilfeleistungen für Juden, zugunsten der Deutschen. Nun ist zwar Vorsicht geboten, wenn man Romanfiguren und Romansituationen historisch verallgemeinert; bei einem historischen Roman kann man andererseits solche Verallgemeinerungen auch nicht ganz ausschließen, da er ja durch seine ausdrückliche Anlehnung an dokumentarisch Verbürgtes unser Geschichtsbewußtsein herausfordert.

Das Problem in ›Sansibar‹ ist nicht einfach, daß diese Fiktionen uns unwahrscheinlich vorkommen. Wie die meisten sentimentalen Geschichten spielen sie gerade noch innerhalb der Grenzen der Wahrscheinlichkeit. Das Problem besteht vielmehr darin, daß sie eine Quasi-Wirklichkeit entstehen lassen, die das tatsächlich Geschehene in Richtung eines Rehabilitationsversuchs der deutschen Bevölkerung von damals verschiebt. Mit der jüdischen Erinnerung an die Ereignisse jener Jahre überschneiden sie sich kaum.

Und wo stecken die Nazis in ›Sansibar‹? Niemand ist ein Nazi, und das Wort kommt nicht vor. Statt dessen gibt es »die Anderen«, und unsere kleine Stadt hat scheinbar keine Anderen. Ein Porträt des »Führers der Anderen« hängt an der Wand des Hotelrestaurants, von den Schweden überhaupt nicht, vom Deutschen dagegen mit Ekel wahrgenommen. Dem Leser wird durch diese Ersatzbildungen für die vermiedenen Vokabeln nahegelegt, daß wir, die guten Deutschen, eben ganz anders waren als Jene, die Anderen – Fremde unter uns. Nur ganz am Ende treten sie in Erscheinung, SS-Männer, die von außerhalb kommen und sich vom Auto her der Kirche und dem Pfarrhaus nähern. Der tapfere Pfarrer, der gleich darauf mit der Pistole das Böse bekämpft und dabei umkommt, beschreibt sie, als hätte er noch nie welche gesehen: »So also sieht das Gesindel aus: Fleisch in Uniformen, Teiggesichter unter Hüten.« (S. 206) »Zwischen Limousinen und Folterbänken vegetiert das stumme Gesindel schwarz dahin.« (S. 207) Es bleibt von den Nazis nichts übrig als diese maskierten Zielscheiben für die evangelischen Pistolenkugeln. Das »Wir« dagegen, drei Männer und ein Junge, mit denen der Leser sich identifizieren kann, haben die Kultur und die Menschheit gerettet, das schöne Kunstwerk und die junge Jüdin.

Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Judith Ryan schreibt in ihrem Buch zur unbewältigten Vergangenheit, daß die Schriftsteller der 50er und 60er Jahre das Thema Verantwortung oft behandelten und dabei fragten, »wie es denn gewesen wäre, wenn die Menschen anders gehandelt hätten«. ›Sansibar‹, so Ryan, sei einer der ersten Romane gewesen, in dem das Engagement des einzelnen bei der Vergangenheitsbewältigung gefordert wurde.4 Unter diesem Gesichtspunkt kann der mutige Oppositionswille der Romanhelden als das, was leider nicht stattfand, aber hätte stattfinden sollen, gedeutet werden. Ihre Handlungsweise wäre somit als beispielhaft zu interpretieren. Nur müßte, so scheint mir, in diesem Fall der Autor auf irgendeine Weise, wie durch ironische Distanzierung, andeuten, daß er ein Spiel der geheimen Wunscherfüllung treibt, und zwar aus bestimmten Gründen, z.B., weil die Wahrheit ihm und seinen Lesern unangenehm ist. Daß das alles bei Andersch nicht stattfindet, wird vielleicht am nächsten Beispiel noch deutlicher werden.

In dem Roman ›Die Rote‹ (1960) spielt die Wiedergutmachungsphantasie keine wesentliche Rolle, ist aber um so einleuchtender. Die deutsche Heldin des Romans, Franziska, verkauft in einem venezianischen Juwelengeschäft einen kostbaren Ring. Der Juwelier ist Jude und erkennt sofort, daß Franziska dringend auf den Erlös des Ringes angewiesen ist. Er übervorteilt sie, indem er ihr den Ring so billig wie möglich abkauft. Gleich darauf trifft Franziska einen ihr bekannten früheren Nazi und Kriegsverbrecher, der zum Spaß und aus Judenhaß mit ihr in den Laden zurückgeht und dort den Kaufmann so gründlich einschüchtert, daß er eine weitere Summe für den Ring zahlt. Franziska jedoch fühlt das Abstoßende dieser Szene und geht zum dritten Mal zum Juden, entschuldigt sich für das Benehmen des Nazis, das sie zwar verursacht hat, aber nicht billigt, und gibt dem Juden das durch Drohungen erhaltene Geld zurück. Dabei vergleicht sie ihn offen, wenn auch nicht ohne Sympathie, mit Shakespeares Shylock. Der Jude ist zutiefst gerührt, und aus Dankbarkeit empfiehlt er der jungen Frau einen verläßlichen Frauenarzt, der willens ist, Abtreibungen vorzunehmen.5

In dieser merkwürdigen Szenenfolge gibt es also eine gewissenhafte Deutsche und einen niederträchtigen Nazi. Erstere will nichts mit letzterem zu tun haben, und zum Beweis händigt sie einem charakterlosen Juden Bargeld aus, auf das sie ein gutes Recht hat (denn er hatte ihr ja den Ring unter seinem Wert abgekauft). Der Jude ist ein nicht ganz unsympathischer Betrüger und Feigling. In seiner alten Rolle als Shylock rückt er eine nordische, gerechtigkeitsbesessene Porzia, jene Shakespearesche alles-wieder-gut-machende Heldin, ins rechte Licht. Unsere Bewunderung für diese wird durch seine Dankbarkeit erhöht, während die Zweideutigkeit seiner Gegengabe, nämlich die Gelegenheit zur Abtreibung, von der sie übrigens nicht Gebrauch macht, ihn hindert, über sein Parasitentum hinauszuwachsen.

1967 erschien Anderschs Ich-Roman ›Efraim‹, dessen Erzähler ein Jude ist. Die Zeiten hatten sich geändert. Der Eichmann-Prozeß in Jerusalem, der Auschwitz-Prozeß in Frankfurt hatten in Deutschland die Judenvernichtung ins Bewußtsein gerufen, wie es der Nürnberger Prozeß nicht vermocht hatte. Das Buch war wohl selbst als eine Art von Wiedergutmachung konzipiert und gewiß als eine philosemitische Geste gemeint. Im Jahr nach seinem Erscheinen wurde Andersch der Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund zugesprochen. In seiner Preisrede ging Werner Weber so weit, diesen Roman »zu den wichtigsten Erzählwerken deutscher Sprache« zu rechnen und ihn als »ein Protokoll für unsere Epoche« zu beanspruchen.6

Sicher ist ›Efraim‹ ein Werk, das sich mit einer zumindest oberflächlichen Gewissenhaftigkeit die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zur Aufgabe macht. Anderschs Held Georg Efraim hat seine Jugend in Berlin verlebt, als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern, die dann in Auschwitz vergast wurden. Während der Hitlerzeit kam Efraim nach England und wurde später Journalist bei einer angesehenen konservativen Zeitung. Der Roman beginnt im Berlin der frühen 60er Jahre. Efraim ist zu Besuch in seiner Heimatstadt, hauptsächlich um eine Halbjüdin, Esther, zu suchen, mit der er als Kind befreundet war und die im Alter von dreizehn spurlos verschwand. Zu Anfang des Romans ist er fast sicher, daß sie tot ist. Am Ende will es scheinen, daß sie doch noch lebt, und zwar vermutlich als Nonne.

Und nun wird die Sache spannend. Der Schurke in Esthers Geschichte ist nämlich kein anderer als Efraims Chef bei der Zeitung, ein Engländer und der natürliche Vater des Kindes, der sich aber vor Jahren weigerte, seine Tochter mit einem Visum für England zu versorgen, weil er die Verantwortung scheute. Andererseits setzten Esthers Lehrerinnen, deutsche Nonnen, ihre eigene Sicherheit aufs Spiel, um das Kind zu retten, was ihnen vermutlich auch gelang. Diese Nonnen gehören zu den vielen Deutschen, mit denen Efraim in Berlin Kontakt aufnimmt und die er schätzen und sogar lieben lernt. Sie alle setzen sich mit der Nazi-Vergangenheit beherzt und intensiv auseinander. Frühere Mitläufer oder gar frühere Nazis gibt es unter ihnen nicht. So wie es in der Kleinstadt von ›Sansibar‹ keine einheimischen »Anderen« gab, so sind die Spuren des Nationalsozialismus in diesem Berlin reduziert auf eine aus dem Dritten Reich stammende steinerne Heldengestalt, die in großen und natürlich symbolischen Fragmenten im Hause eines besonders sympathischen jungen Musikers herumliegt. Efraim nennt diese zerstückelte Statue »einen der Mörder meiner Eltern«.7 Da erübrigt sich die Suche nach lebendigen Mördern. Eine sprachliche Taktlosigkeit nicht einmal antisemitischer Prägung ist das Unangenehmste, was ihm in Berlin zustößt. (S. 125) Und so geschieht’s, daß trotz der vielen Deutschen, mit denen er in Berührung kommt, es am Ende nur einen Menschen gibt, der von sich sagen kann, er habe einen Mitmenschen verraten, nur einen, der sich schuldig fühlt und fühlen sollte, und dieser eine hat auf alliierter Seite gekämpft und ist Engländer. Diese dubiose Rolle des Ausländers ähnelt dem Versagen der Schweden in ›Sansibar‹.

Efraims Leben ist überschattet von seinem frühen Exil und vom Tod seiner Eltern in Auschwitz. Andersch erwähnt den Holocaust mehrmals, und er zitiert gelegentlich direkt aus den Protokollen gegen Kriegsverbrecher. Anders als in ›Sansibar‹ wird die Verfolgung der Juden nun nicht mehr verallgemeinert, als wäre sie nur ein beliebiges Beispiel eines Terrors, dem die Kirchen und die Parteien womöglich noch mehr ausgesetzt waren als die Juden. Der Holocaust wird von Andersch heraufbeschworen als Vergangenheit für die Menschen der 60er Jahre. Doch sehen wir näher hin – was soll der Leser mit diesen Zitaten und Erinnerungen anfangen?

»Das Leben des Menschen«, sagt Efraim, »ist ein wüstes Durcheinander aus biologischen Funktionen und dem Spiel des Zufalls.« (S. 90) Von daher erübrigen sich alle Fragen nach den Ursachen, Folgen und Umständen der Judenverfolgung. Solche Fragen werden aufgeweicht in dem austauschbaren Begriffspaar »Schicksal und Zufall«, mit dem man, so oder so, dem Unerwarteten und Ungeklärten einen Namen gibt, ohne das Prinzip der Kausalität bemühen zu müssen. Der Erzähler versichert uns:

Es ist purer Zufall, daß vor zwanzig Jahren jüdische Familien ausgerottet wurden, und nicht ganz andere Familien zwanzig Jahre früher oder später, jetzt zum Beispiel. Eine wirklich schlüssige Erklärung des Endes meiner Eltern habe ich bis jetzt nicht gefunden, und Leute die Erklärungen dafür bereit haben, sind mir höchst verdächtig. (S. 49 f.)

Und auf eine harmlose deutsche Familie hinweisend fügt er hinzu:

Ebensogut wie Frau Heiß und ihre Töchter sich in einer halben Stunde zum Mittagessen setzen, könnten sie auch zu ihrer Ermordung abgeholt werden, wenn es der Zufall wollte. (ebd.)

Hier entlarvt die Sprache den Erzähler: Denn daß der Zufall etwas will, ist ja eine Art von sprachlichem Unsinn, besonders wenn damit das von Menschen Angestellte als nicht von Menschen Gewolltes entschuldigt wird. Indem Efraim behauptet, daß alle gleichermaßen für Massenverfolgung »anfällig« seien, entzieht er sich der Frage, warum gewisse Gruppen nun aber tatsächlich verfolgt werden. Mit der Unterstellung, Frau Heiß samt Kindern könnte jederzeit deportiert werden, ist der Antisemitismus ausgeklammert. Die historische Sicht wird dadurch keineswegs erweitert, sondern nur getrübt. Der Zufall tritt an die Stelle der Verbrecher, über deren Taten der Erzähler keine Erklärungen wünscht. Diese Kritik an Efraims Gedanken setzt allerdings voraus, daß Efraim ein verläßlicher Beobachter ist. Als gescheiter, anständiger Jude kann er sich Ansichten leisten, die aus dem Munde eines nichtjüdischen deutschen Zeitgenossen dem Publikum nicht so leicht zumutbar wären. Ohne dieses Sprachrohr könnte Andersch nicht schreiben: »Wer mir Auschwitz erklären möchte, ist mir verdächtig.« (S. 230) Der Satz zieht sich mit leitmotivischen Abwandlungen durch das Buch, ohne daß Efraim übrigens je erläutert, woraus denn eigentlich der Verdacht gegen die Erklärungssuchenden besteht. Der erfundene Jude entlastet den Leser, der sich nun nicht weiter mit Auschwitz auseinandersetzen muß und dem trotzdem die Genugtuung wird, er habe sich damit auseinandergesetzt.

Efraim mystifiziert die Konzentrationslager, was zu logischen Kurzschlüssen führt:

Wenn ich bedenke, wie absurd es ist, daß ich Deutscher war und danach Engländer wurde, während ich immer noch Jude bin, kommt es mir vor, als könnte ich ebensogut Russe oder Massai-Neger oder ein Wolf oder ein Auto sein […] daß, wenn mein Leben einen Sinn haben soll, auch der Umstand, daß meine Mutter in einer Gaskammer in Auschwitz getötet wurde, sinnvoll sein müßte. Ich weigere mich jedoch, an den Sinn von Zyklon B zu glauben. (S. 179 f.)

Efraim erklärt also alle Unterscheidungen für absurd – und zwar aus Pietät. Um das Andenken seiner Mutter nicht zu entweihen, muß er glauben, es sei ebenso unsinnig, ein Jude zu sein, wie einen Juden umzubringen. Historisch denken sei nichts anderes, als den Massenmord geistig aufzuwerten. Die Fehlschlüsse liegen auf der Hand: Wenn alle Identitäten gleich sind, dann hätte ja auch Efraims Mutter ebensogut eine Katze oder ein Stück Brennholz sein können, und damit wäre Efraims kindliche Verpflichtung hinfällig.

Efraim ist Atheist, und trotzdem möchte er Auschwitz den Mystikern überlassen. Das orthodoxe Judentum und die christliche Gnostik, meint er, geben besseren Aufschluß über die »Endlösung« als Soziologen, Historiker und Mediziner, ein Trio, das er zweimal verächtlich zitiert. (S. 257 und 464) Solch wissenschaftliches Gerede, sagt er, »ödet mich an«, doch eine religiöse Erklärung »setzt meine Phantasie in Gang«. (S. 257) Was soll diese schnoddrige Ausdrucksweise bei einem solchen Thema? Die Antwort ist wohl die: Wenn man über die Voraussetzungen des Holocaust sowieso nicht ernsthaft reden kann, dann ist eine Mystifizierung so gut wie jede andere, ob man nun an sie glaubt oder nicht. Es wird immer deutlicher, warum hier eine jüdische Stimme zu sprechen hat: Andersch nimmt die Autorität des Opfers in Anspruch für die Feststellung, daß es keine feststellbare Ursache für Auschwitz gab. Das Unbeschreibliche, so hören wir, kann nicht die Wirkung eines Willens gewesen sein. (S. 229)

Nun ist Auschwitz aber beschrieben worden, bändeweise. Andersch zitiert sogar aus den Beschreibungen. Und doch fällt ihm zur jüdischen Katastrophe nur ein, daß man darüber nicht nachdenken sollte. Efraims metaphysische Tüfteleien haben denselben Zweck wie der Symbolismus der zertrümmerten Heldenfigur im Hause des Musikers: Sie lenken ab von der banalen Wahrheit, daß die Nazis wirkliche Menschen und leibhaftige Deutsche waren.

Daß der Roman tatsächlich so, wie ich es darstelle, rezipiert wurde, geht aus Werner Webers schon zitierter Ansprache hervor. Was mir wie Eskapismus vorkommt, sieht Weber als tiefsinnig. Im Zusammenhang mit der Esther-Handlung urteilt er:

Im Auflösen der Kerngeschichte, im Offenlassen begibt sich der Erzähler auf die Höhe des Ungeheuren, das nicht beredet werden darf. Dahin gehört das Wort: »Wer mir Auschwitz erklären möchte, ist mir verdächtig.«8

Das sind Worte, die im Leeren schweben ohne Anhaltspunkte in der Wirklichkeit, von der sie uns zu allem Überfluß noch mahnen, zu schweigen.

In Günter Grass’ ›Blechtrommel‹ gibt es keinen Unterschied zwischen den vermeintlichen »Anderen« und den etwaigen Unsrigen. Grass hat dem Nazismus im Durchschnittsheim und im Durchschnittsmenschen nachgespürt und die Verbindung mit der Durchschnittsbosheit, mit dem, was Hannah Arendt die »Banalität des Bösen« genannt hat, unvergeßlich dargestellt. Doch ist es von da nur ein Schritt, auch das Ausmaß der Judenvernichtung durch ein klägliches Opfer sentimental zu verzerren und sie dadurch aufs Erträgliche zu reduzieren.

In der Gestalt des Sigismund Markus, des Spielzeughändlers, von dem Oskars Mutter Agnes die Blechtrommeln des Jungen kauft, übernimmt Grass eine ganze Reihe von stereotypen Zügen. Wie der typische Jude der Nazi-Presse ist auch Markus als Mann unattraktiv, doch voll Begierde nach einer arischen Frau. Als Mensch ist er lächerlich, denn er handelt und sieht aus wie ein Hund.9 Als einzelner ohne jüdische Gemeinde oder Familie, ohne Tradition oder Religion, doch mit der Raffinesse des Trödeljuden ausgestattet, mit der er Agnes billige Seidenstrümpfe verschafft, führt er ein Parasitenleben, ohne Überzeugungen und in der sinnlosen Hoffnung, daß die Taufe ihm zu einem besseren Dasein mit Agnes in England verhelfen könne. (S. 85) Und da sein Leben nichts anderes zu enthalten scheint als eine törichte erotische Hörigkeit und einen Laden voll nicht gerade hochwertiger Gegenstände, so geht auch nicht viel verloren, wenn die Kristallnacht diesem Laden und Leben ein Ende setzt. Sicher ist Markus als Selbstmörder ein Opfer, aber über das Ende der Juden in Deutschland sagt diese nicht ernst zu nehmende Karikatur doch eigentlich nur aus, daß der Verlust zu verschmerzen war.10

Man könnte einwenden, Markus solle gar nicht so verallgemeinert werden, er sei nur eine von Grass’ vielen grotesken Nebengestalten. Doch gibt Grass seinem Tod unmißverständlich eine Allgemeinbedeutung, erstens durch das historische Datum der Kristallnacht und zweitens durch Oskars berühmte Todesklage am Ende des ersten Buches. Dort heißt es in einem langen Prosagedicht:

Es war einmal ein Blechtrommler, der hieß Oskar, und sie nahmen ihm seinen Spielzeughändler.

Es war einmal ein Spielzeughändler, der hieß Markus und nahm mit sich alles Spielzeug aus dieser Welt. (S. 166)

Der Tod der Spielsachen steht hier doch wohl für das Ende der Kindheit und ihrer Illusionen, die jeder überwinden muß. (Denn Markus kann ja nicht tatsächlich, sondern nur bildlich »alles Spielzeug aus dieser Welt« genommen haben.) Der Leser wird eingeschaukelt durch den elegisch-lyrischen Ton dieser Passage, wie es beim Nachdenken über die Vergänglichkeit der Dinge im allgemeinen der Fall zu sein pflegt. Über die Einzigartigkeit und Willkürlichkeit der Judenvernichtung schweigt diese Stelle. Am ehesten ist sie dem Edelkitsch von Hauptmanns Kindertragödie ›Hanneles Himmelfahrt‹ verwandt.

Es ist kein Wunder, daß bei solchen literarischen Vorbildern der neue deutsche Film auch nichts anderes zu bieten hatte als den sauren alten Wein in neuen Flaschen. Nur waren die Flaschen diesmal mit marxistischen Etiketten versehen.

Volker Schlöndorffs hochgeschätzter Film ›Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach‹ (1970) handelt von einer Gruppe blutarmer hessischer Bauern, die 1822 einen Raubüberfall auf eine mit Steuergeldern beladene Postkutsche unternehmen. Der Anführer der Gruppe ist Jude. Er entwirft den Plan, veranlaßt die anderen, daran teilzunehmen, und ist für die Ausführung verantwortlich. Die Bauern werden schließlich alle gefangen, verurteilt und hingerichtet, sofern sie nicht Selbstmord begehen. Nur der Jude entkommt, nicht nur mit dem Leben, sondern auch mit seiner Beute. In den letzten Szenen, im Begriff, nach Amerika zu emigrieren, spricht er seine Meinung über seine Verbündeten aus: Er spricht von der Dummheit der Bauern, die emotional an ihre Heimat gebunden sind, zu treu sind, um diese zu verlassen, und zu ehrlich, um das, was sie gestohlen haben, zu verbergen. Er selbst ist frei von diesen behindernden Eigenschaften. Die Namen fremder amerikanischer Städte entströmen seinem Mund wie Beschwörungsformeln. Dem Zuschauer bleibt beim Verlassen des Kinos ein Bild des Kontrasts zwischen dem Juden, dem Fremden im Lande, der leicht weiter kann, und den dummen, aber liebenswerten Deutschen, die seinem Zweck gedient haben, wegen ihrer Anhänglichkeit an die Scholle sterben müssen, und deren Hinrichtungen uns der Film so drastisch vorgeführt hat. Das Elend der deutschen Bauern gedeiht ihm zum Glück: Er ist die Ratte, die das sinkende Schiff verläßt, während die treuen oder auch rebellischen Matrosen ertrinken.

Dieser Film soll auf einer wahren Begebenheit beruhen und gibt sich als Beitrag zur Sozialgeschichte. Gleich zu Anfang wird der Zuschauer mit zeitgenössischer Statistik traktiert. Zu der gehört nun auch, im Widerspruch zu den eben zitierten Aussagen des Juden, daß damals ganze Dörfer in Hessen leer standen, weil ihre Einwohner aus Armut nach Amerika emigrieren mußten. Diese Bauern sind also einerseits so hilflos, daß sie auswandern müssen, andererseits zu hilflos, um auszuwandern. Im Film wird beides behauptet, während die Emigration des Juden eindeutig im Zeichen ausbeuterischer Schlauheit steht. Daß seinen Kameraden die Köpfe abgeschlagen werden oder daß sie in der Verzweiflung Selbstmord begehen, läßt ihn ungerührt.

Zwar ist der Raub durch die Armut gerechtfertigt, aber das kommt dem Bild des Juden nicht zugute. Schlöndorffs Bauern sind befangen in ihrer Familien- und Dorfgemeinschaft, und wir sehen sie inmitten der üblichen menschlichen Verwicklungen von Liebe und Zorn und Sorge für sich und andere, nur daß sich alles heftiger und unheimlicher abspielt wegen der menschenunwürdigen Armut dieser Leute. Darin liegt die Stärke dieses tatsächlich vorzüglichen Films, der unser Mitgefühl für die Bauern aus unserem Verständnis für ihre Situation und nicht einfach aus Einfühlung oder Identifikation entstehen läßt. Nur der Jude, so wie Grass’ Sigismund Markus, hat keine Familie und keine Gemeinde, ist ein Trödler von irgendwo und nicht eingefangen in seinem Milieu und seinen Verpflichtungen. Diese an sich individuelle Situation des Junggesellen ist aber auch wieder ein Aspekt seines Jüdischseins. Er kann weg, weil er allein steht, und er steht allein, weil er Jude ist. Und schwingt nicht vielleicht die Andeutung mit: Sind solche wie der, die Cleveren, nicht auch in unserer Zeit ausgewandert und hatten es gut in Amerika, während wir unter den Nazis hungerten und litten?

Und schließlich gibt es in diesem Film keinen Antisemitismus. Alle Christen sind unserem Juden gegenüber ganz unhistorisch und unwahrscheinlich freundlich. Während Schlöndorff die Unterdrückung der Armen durch Gesetz und Klassenvorurteil in aller Einzelheit anschaulich macht, stellt er weder den spontanen oder volkstümlichen Judenhaß des frühen 19. Jahrhunderts noch die gesetzliche Diskriminierung der Juden auch nur zur Debatte. Damit nimmt er seinem Juden die letzte Entschuldigung für seine berechnende Gleichgültigkeit, nämlich Shylocks Reaktion auf Verachtung und Mißhandlung durch Christen. Das Vorurteil, das nicht zur Sprache kommt, wird eben dadurch im Zuschauer rege.

Schließlich entlud sich das schwelende Ressentiment gegen den angeblichen Philosemitismus der Nachkriegszeit in einigen erstaunlich aggressiv gezeichneten fiktiven Juden. Es entwickelte sich eine letzte und linke Form des Shylocktyps, in der nicht nur dem Opfer Schuld aufgelastet wird, sondern der Schuldige sich obendrein noch das schlechte Gewissen der Welt zunutze macht. Den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts kann man zur Not verschweigen, die »Endlösung« des 20. Jahrhunderts muß man jedoch bei der Darstellung heutiger Juden in Rechnung stellen. So wird der Holocaust als Erklärung für angebliche aktuelle Untaten jüdischer Provenienz herangezogen.

Gerhard Zwerenz ist zwar kein hochrangiger, aber auch kein drittrangiger Autor, immerhin einer, der gelesen und auch oft ernst genommen wird. 1925 geboren, also der älteren Generation angehörend, hat Zwerenz seine Schriftstellerlaufbahn in der DDR begonnen, lebt aber seit 1957 im Westen. Noch 1981 schreibt der Präsident des deutschen PEN-Clubs, Martin Gregor-Dellin, Zwerenz’ »Mut zur Konfrontation in jede Richtung bleibt zu bewundern«.11

Sein Roman ›Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond‹, den der Fischer-Verlag 1973 veröffentlichte und später noch einmal als Taschenbuch brachte, handelt von einem Israeli namens Abraham, der in Deutschland geboren und nach dem Krieg mit seiner Mutter und Schwester zurückgekehrt ist. Noch auf dem Schiff, das sie »nach Hause« bringt, erzwingt die Mutter von ihrem Sohn ein Versprechen. Er soll in Deutschland die Menschen nach allen Regeln der Kunst übervorteilen.

Du wirst in diesem Land Geld verdienen, Abraham […] Du wirst […] mit niemandem Mitleid haben und jedem seine Markstücke abknöpfen. Versprichst du das, Abraham?12

Diese mißgünstige Frau wird in Deutschland sofort als Lehrerin eingesetzt und behält diesen Posten trotz ihrer immer offensichtlicher werdenden pädagogischen Unfähigkeit, dank der Schuldgefühle ihrer Vorgesetzten, als eine Art Wiedergutmachung, sozusagen auf Kosten deutscher Kinder. Der Sohn erfüllt sein Versprechen und wird ein Bauspekulant der ärgsten Sorte, der die Stadt in einen Asphaltdschungel verwandeln hilft.

Habgier und Gewissenlosigkeit in jüdischen Gestalten sind nichts Neues in der Literatur. Neu ist die Besessenheit dieses Abraham, der im Grunde ein Nervenbündel aus Angst und Haß ist, von dem Holocaust, dessen Opfer er nicht war. Abrahams schlechter Charakter ist zwar teilweise die Auswirkung dessen, was anderen Juden eine Generation früher angetan wurde, doch wo immer man die Wurzeln seines asozialen Wesens suchen will, der Jude bleibt Jude, d.h. ein Halsabschneider, der wie Shylock sowohl hinter seinem Profit als hinter dem Pfund Fleisch seiner Gegner her ist. Kaltblütig plant Abraham einen Mord, den er eigenhändig und ohne weitere Konsequenzen für sich an einem Angestellten, der gefährlich geworden ist, verübt. Den neuen Shylock, wie er in gewohnter Weise zwischen Geld- und Mordsucht sein Wesen treibt, spuckt niemand mehr an, und statt auf Judenhaß zu reagieren, macht er sich den Abscheu der Welt vorm Antisemitismus zunutze und profitiert von Deutschlands schlechtem Gewissen. Shakespeares Shylock, vor die Wahl gestellt, fand Rache süßer als Dukaten. Zwerenz’ Abraham bereichert sich als eine Form der Rache.

Das neue Judenbild in dem Roman ist das eines Menschen, der seine Sittlichkeit und Menschlichkeit im Holocaust verloren hat: Sittlichkeit, weil er zu jedem Verbrechen fähig ist, und Menschlichkeit, weil er keine intimen Beziehungen durchhalten kann. Er ist ohne Frau und Kinder – zum dritten Mal fehlt hier die jüdische Familie. Allenfalls könnte man die Mißhandlungen, die Abrahams Mutter von ihrer Tochter erdulden muß, als Familienleben bezeichnen. Das Palästina, in dem Abraham aufgewachsen ist und an das er ungern zurückdenkt, ist ein Land, das, von sinnlosem religiösen Ritual beherrscht, niemandem Freiheit oder geistigen Lebensraum gewährt.

Ausführlich und langatmig schreibt Zwerenz über Abrahams liebloses Sexualleben, mit besonderem Nachdruck auf seine Beschneidung, die ja schon immer das Mysterium im Zentrum aller Pornographie über Juden bildete. Abraham »trägt« seine Beschneidung »wie KZ-Insassen ihre eingebrannte Zahl, voll heimlichen Stolzes, doch auch mit Bedrückung.« (S. 262) Das liest sich, als ob jüdische Eltern ihren Kindern nicht weniger antun, als sie von ihren ärgsten Feinden erleiden mußten. Eine uralte Zeremonialhandlung wird zur Erniedrigung. Und wie Abrahams palästinensische Kindheit im Zeichen eines ungesunden religiösen Drucks stand, so scheint die jüdische Solidarität auf einem bis ins Säuglingsalter zurückreichenden Trauma zu beruhen, auf einem Leiden, das die Juden ihren Kindern auferlegen, damit aus bösen Erinnerungen eine Gemeinschaft werde.

Obwohl Abraham sein Judentum wie seine Kindheit verabscheut, unterhält er doch erstaunlich solidarische Beziehungen zu anderen Juden. Der einzige »gute« Jude in dem Buch, ein Staatsanwalt im Auschwitz-Prozeß, wendet sich mit größter Selbstverständlichkeit an Abraham, wenn er eine Gefälligkeit braucht. Sogar den verachteten Israelis gelingt es, Abraham für ihre geheimen und illegalen Zwecke einzustellen. Solche Widersprüchlichkeiten lassen alte Vorstellungen vom Weltjudentum und internationalen jüdischen Verschwörungen aufleben.

Dieses Buch, das sich übrigens als Sozialkritik geriert und ungeschickt gegen die Exzesse des Kapitalismus und der Geldwirtschaft in der BRD polemisiert, wurde Fassbinder zur Quelle seines Theaterstücks ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹,13 das 1975 bei Suhrkamp erschien, in Frankfurts Theater am Turm geprobt wurde und im Herbst 1985 fast zur Aufführung kam. Das Stück spielt in einer Unterwelt aus hetero- und homosexuellem Sado-Masochismus und Prostitution beider Geschlechter. Der Jude ist wie bei Zwerenz ein Bruchbudenspekulant und Miet-Hai und heißt einfach »der Reiche Jude.« Auch Shylock wird ja im Personenverzeichnis des ›Merchant of Venice‹ als »a rich Jew« bezeichnet. Bei Fassbinder repräsentiert er jüdisches Kapital mit internationalem Beigeschmack und hat daher, wie die Ausbeuter bei Brecht, weder Namen noch Persönlichkeit. Er hört sich so an:

Es muß mir egal sein, ob Kinder weinen, ob Alte, Gebrechliche leiden. Es muß mir egal sein. Und das Wutgeheul mancher, das überhör ich ganz einfach. Was soll ich mir auch ein schlechtes Gewissen auf den Buckel laden? (S. 103)

Wenn möglich, ist Fassbinders Schurke noch scheußlicher als der von Zwerenz. Bei Fassbinder ist er auch physisch abstoßend; und das Mordopfer ist kein Halbstarker, der selbst Verbrechen begeht, wie bei Zwerenz, sondern die sprichwörtliche Hure mit dem goldenen Herzen. Der Jude erdrosselt sie mit eigenen Händen. Krasser als im Roman bleibt er bei seinen Machenschaften von den Behörden unbehelligt, weil er Jude ist. »Die Stadt schützt mich, das muß sie. Zudem bin ich Jude.« (ebd.) Wie bei Zwerenz, aber noch obszöner, wird das Thema Vorhaut aufgetischt, nicht ohne einen Anhauch von Rassenschande, der im Mord der jungen Frau gipfelt. (»Hast du Madam gefragt, ob sie ein Stündchen Zeit für einen reichen Juden hat? Ich denke doch, sie hat, auch wenn mein Schwanz beschnitten ist,« S. 101.) Und während Abraham den Mord verheimlicht, so ist bei Fassbinder die Polizei mitverantwortlich, denn sie tötet einen Zeugen und zwingt einen Unschuldigen, sich zu der Tat zu bekennen, damit dem Juden nichts zustößt.