Dietmar Bittrich (Hg.)

Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft

Andreas Greve

Trendkost

Anlässlich der Lebensmittelmesse im Oktober haben wir von der Erfindung des essbaren Joghurtbechers gelesen. Sie auch? Und dann alles ganz schnell wieder vergessen. Ich auch! Jetzt ist er grausam in mein Leben zurückgekehrt, und ich traue mich nicht einmal mehr, mein Auto abzuholen. Es steht vor dem Haus Trittinterrasse 7. Ich war zu aufgeregt, und bin immer noch reichlich verwirrt.

Dabei hielt ich mich stets für einen passablen Mitläufer – bis zu jenem vierten Advent. Es war die jährliche Einladung zum Weihnachtsbrunch bei meinem Cousin und seiner Lebensgefährtin. Ich kam etwas später und freute mich, direkt vor der Tür einen Parkplatz für meinen Roadster zu finden. Ich klingelte im fünften Stock. Auf den ersten Blick sah es aus, wie so etwas aussieht: Rumgestehe, Rumgeplappere. Es war nur schwierig, sich den Weg durch die abgestellten Moonboots zu bahnen, die die Gäste vor der Tür abgestellt hatten. Immerhin liegt das aus vier zusammengelegten Sozialwohnungen bestehende Domizil meines Cousins im Herzen eines dieser multikulturellen Viertel, in denen zu wohnen zurzeit als stimulierend empfunden wird.

Ich bezwang also einen Berg Stiefel und ein paar wintertaugliche Mountainbikes, um zum Buffet zu gelangen, und dort stand … Sie denken nun, der essbare Joghurtbecher? Nein. Es lag zwar ein Duft von Zimt und Nelken über dem endlos langen Tisch, aber darauf stand buchstäblich nichts! Also gut, Geschirr war da, Bestecke, auch Servietten und einige mit Dressing gefüllte Kokosnussschalen, aber nicht das erhoffte fingerdicke Roastbeef oder die erwarteten Vegan-Spezereien.

«Ich empfehle dir die Gabeln, den Teller würde ich mir fürs Dessert aufsparen», sagte meine Tante, die neben mir ihren Fahrschein in eines der Dressingnäpfchen tunkte. Mein Schwager mischte sich ein. «Die Gabeln sind ganz vorzüglich», gab er zu, «aber einen Extrapfiff bekommen sie erst, wenn man sie in die Serviette wickelt. Die ist nämlich aus Blattspinat und gebeizten Brosamen.» Und dann brachen Rezeptvorschläge über mich herein.

Okay, das Gabelfrühstück war nicht schlecht und die Messerspitzen vom Feinsten, aber ich finde, Essen ist Essen und Kochen ist Kochen, und ich esse am liebsten Sachen, die noch nicht zerredet sind. Egal, ob es dabei um die Zubereitung eines Rehrückens geht oder darum, wie man ein Messer besonders kross bekommt («eine Nacht in einer Schüssel mit Eisenkraut ziehen lassen»): Ich will gar nicht hören, wie man einen leichten Löffel anrührt oder wer die besten Bestecke backt.

Deshalb kletterte ich in Richtung Klavier, das von einem illegalen Ghanesen erstklassig bespielt wurde, obwohl die weißen Tasten mit den schwarzen vertauscht waren («um den Elfenbeinverbrauch herabzusetzen», wie mein Cousin stolz erklärte). Ich spürte, hier war ein neuer Trend angebrochen, ich wusste nur noch nicht, welcher. Das Gespräch mit meinem Cousin, das wir vor seiner Smartphone-Sammlung fortführten, geriet unversehens ins Stocken, weil er es mir verübelte, dass ich mir eine ordentliche Ecke aus Samsungs neuem Galaxy biss (sie roch nach Marzipan!), und ich es ihm verübelte, dass er mir ein «Mann! Die sind doch echt, du Bauer!» an den Kopf warf. Es gibt nämlich wirklich welche aus Marzipan.

Zwanglos gesellte ich mich zu einer Gruppe, wo der grüne Eigentumsmakler gerade von seinem letzten Projekt schwärmte, einer Bebauung des Gleisdreiecks zwischen Autostrich und Knochenmehlfabrik. Der Clou war, dass dort ausschließlich ausgebaute Dachböden errichtet werden sollten. Seine Visitenkarten waren im Nu weg. Ich nahm ostentativ keine, bewohne ich doch schon seit Jahren zwei Etagen einer naturbelassenen Essigfabrik. «Habt ihr schon gehört, dass Gisela und Serge sich ein Häuschen gebaut haben – nur aus alten Jahrgängen der taz und aus Remittenden des Greenpeace Magazins?», versuchte einer das Gespräch zu wenden.

Ich hatte mit meiner Essigfabrik wieder Oberwasser und hielt die Zeit für einen markanten Auftritt für gekommen. «Ich habe meinen Schnee-Scooter ausschließlich aus alten Plastiktüten gebaut», warf ich ein. In der folgenden Stille konnte man den Ahornsirup in den Buchweizenkelchen kleben hören. Ich hatte mich offensichtlich vergaloppiert und versuchte an Land zu ziehen. Erst den Scooter, dann die Tüten. Sagte, dass meine polnische Haushälterin mir nie welche daließe und so weiter.

Aber es war zu spät. Denn jetzt trat meine rothaarige Cousine mit ihren Lakritzlederhosen vor und fragte mit sanfter, unschuldiger Stimme: «Welches der Fahrräder ist denn deines?» Instinktiv fühlte ich mich durch die Frage in die Enge getrieben, zumal sie dabei auf meinen Autoschlüssel schaute, an dem ich nervös herumnestelte. «Ich bin mit dem Toaster da», sagte ich schnell. «Und für den brauchst du den Schlüssel!?» – «Ja, also, äh, nein, der Schlüssel hier ist mehr für … äh … für meinen … Roadster», stammelte ich, «aber ich benutze ihn selten. Eigentlich nie!»

Wenn mir etwas nicht in die Wiege gelegt ist, dann die Fähigkeit, eine abweichende Meinung zu besitzen und diese auch noch zu vertreten. Und so nahm das Unglück seinen Lauf: Ich verstieg mich zu der Behauptung, dass ich das Auto kaum fahre, meist schiebe, dass es überdies aus Gelatine sei und dass es sich nur noch um Stunden handeln könne, bis es sich auflöse – ein kurzer Regen nur! Um auch noch den letzten Zweifel zu zerstreuen, nahm ich den Autoschlüssel und spülte ihn mit einem herzhaften Schluck Ahornsirup hinunter.

Das entspannte die Lage, die Gespräche wurden wieder aufgenommen. Aber mich interessierte weder das entzückende Spielzeug, das Anselm aus Resten von Halloweenkürbissen gefertigt haben sollte, noch, dass die Debatte um die Finanzmärkte absolut out sei. Ich hatte genug, schlich mich zur Tür und wankte schweißüberströmt die Treppe hinunter und taumelte in den nebligen Wintertag. Das musste bis auf weiteres mein letzter Besuch bei der nachhaltigen Verwandtschaft sein. Für den Fall, dass die eine oder andere scharfrichterliche Tante mich von oben beobachten sollte, spuckte ich verächtlich aus, als ich an meinem Roadster vorbeiging. «Entweder, du löst dich umgehend auf, oder ich hole dich heute Nacht ab!», zischelte ich ihm zu.

Ich hab mich aber dann doch nicht getraut. Bis der Trend vorüber ist, will ich meinen Roadster irgendwo in einer Scheune verstecken oder, noch sicherer, in einem Lebkuchenhaus. Würden Sie ihn für mich abholen? Ja? Toll! Hier ist der Nachschlüssel – den habe ich mir beim Ökobäcker machen lassen.

Lena Hach

Das beste Geschenk der Welt

Es gab drei Verstecke, die in Frage kamen. Der Schrank im Flur. Die Kommode mit der Bettwäsche. Oder der Dachboden. Letztes Jahr war ich auf dem Schrank fündig geworden, ein MP3-Player, und das Jahr davor in der Kommode, ein paar Schlittschuhe – meiner Theorie zufolge war jetzt der Dachboden an der Reihe. Denn meine Mutter ist eine Frau, die sich für clever hält, aber an Routine glaubt.

Doch weder in den Pappkartons noch in den Lederkoffern meines Urgroßvaters fand ich, wonach ich suchte. Als ich, mit Spinnweben im Haar und Staub auf der Zunge, wieder nach unten kletterte, war mein Ehrgeiz geweckt. Bisher hatte ich noch jedes Geschenk vor dem 24. aufgespürt. Aber ich konnte ganz beruhigt sein, es war erst der dritte Dezember, ich hatte also 21 Tage Zeit.

Wer meine Familie nicht kennt, wird möglicherweise einwenden, dass so früh sicher noch gar keine Weihnachtsgeschenke im Haus waren, dass meine Mutter vielleicht auch zu den Wahnsinnigen gehört, die erst losziehen, wenn schon alle vier Lichtlein brennen – und zwar gefährlich nah am Tannengrün. Aber dem ist nicht so. Meine Mutter plant und organisiert und kauft stets zwei Jahre im Voraus. Dabei zeigt sie in einigen Fällen beinahe beunruhigende hellseherische Fähigkeiten. So schenkte sie meinem Bruder Jonas beispielsweise ein Keyboard, Jahre bevor er eine Band gründete. Für mich stand also außer Frage, dass mein diesjähriges Weihnachtsgeschenk längst irgendwo im Haus lag und auf mich wartete. Das Klügste schien zu sein, mit System vorzugehen und ein Zimmer nach dem anderen zu durchkämmen. Ich bat meinen kleinen Cousin Fred, mir dabei zu helfen. Fred kann nicht nur durch seine Zahnlücke pfeifen, er ist außerdem der Beste bei Memory – und beim Versteckspielen. Zudem hatte Fred in etwa die Größe des idealen Weihnachtsgeschenks. Eigentlich brauchte ich ihn in jedem Zimmer nur zu bitten, sich mal eben zu verstecken, und dann an dem Ort, an den er sich verkrochen hatte, nachzusehen. Aber weder in der Wäschetruhe noch im Besenschrank, noch unter der Spüle fanden wir etwas. Von der Socke, dem blauen Legostein und den zwei Erdnussflips einmal abgesehen. Großzügig, wie ich war, überließ ich all diese Dinge Fred, der sich ehrlich freute und mich seinen liebsten Cousin nannte. Das wiederum freute mich; denn so konnte ich mir ziemlich sicher sein, dass er nicht weiterplapperte, was wir den Nachmittag über getrieben hatten. Erwachsene sind etwas empfindlich, wenn es um Feiertage geht. Gerade an Weihnachten gibt es jede Menge Regeln, die unbedingt zu beachten sind. Natürlich darf man seine Geschenke nicht vor der Bescherung suchen und finden, nicht einmal aus Versehen. Man darf auch seine drei Großtanten, die am zweiten Feiertag zu Besuch kommen, nicht die heiligen drei Plagen nennen, selbst wenn es der eigene Vater tut.

Niemals sollte man den Eimer Wasser, der neben dem Christbaum steht, zweckentfremden. Etwa, um vor dem Haus einen künstlichen Teich anzulegen, der möglichst schnell gefrieren soll, damit man seine neuen Schlittschuhe ausprobieren kann. Außerdem darf man seinen kleinen Cousin nicht auslachen, wenn er das Gedicht vom Rumpelsack aufsagt und sich dabei dreimal hintereinander verhaspelt, obwohl es nur acht Verse sind. Übrigens ist es auch verboten, sich zu streiten, und wenn es doch einmal sein muss, dann aber bitte leise und in der Küche, damit die Verwandten es nicht hören, sondern sich nur denken können. Weihnachten ist also ziemlich kompliziert. Als ich kleiner war, war es außerdem sehr anstrengend, weil ich blitzschnell jede Menge Bilder malen musste, um etwas zu haben, das ich meiner Oma, meinen zwei Opas und den heiligen drei Plagen überreichen konnte. Meistens malte ich die Krippe: Maria und Josef und das kleine Jesuskind, außerdem einen Hirten und einen Esel – Schafe konnte ich nicht – und oben einen Engel und daneben einen Stern, der ging am leichtesten. Blöderweise wurden die Bilder oft nicht rechtzeitig trocken, und wenn mein eitler Bruder in solchen Notfällen den Föhn nicht freigab, dann musste ich behaupten, dass es auf die Bilder leider geregnet hatte – oder geschneit, das war weihnachtlicher und damit besser. Mittlerweile war Fred für die Bilderproduktion zuständig. Letztes Jahr hat er mir eines mit nichts als gelben Streifen darauf geschenkt. Zuerst sagte Fred, es sei Stroh, und später am gleichen Abend: «Das sind Sternschnuppen, du Hirni.» Jonas sagte, für ihn sähe es eher aus wie Pisse von einem der Tiere im Stall. Das fand ich ziemlich lustig, Fred auch, unsere Eltern aber nicht. Daraus kann man schließen, dass an Weihnachten auch keine Witze über Pisse erlaubt sind.

Übrigens hatte es nichts mit Fred zu tun, dass ich mein Geschenk dann doch noch fand. Er war längst nach Hause gegangen, um seinen Mittagsschlaf zu machen. (Freds Vater, der mein Onkel und außerdem Schuldirektor ist, behauptet, dass ausreichend Schlaf überhaupt das Wichtigste im Leben ist. Manchmal, wenn er bei uns zu Besuch ist, döst er aus Überzeugung einfach so weg. Das erkennt man am Schnarchen.)

Fred war also zu Hause, aber ich war noch nicht bereit, aufzugeben. Zuerst durchstöberte ich die Nachtschränke meiner Eltern und anschließend den Sekretär meiner Mutter. Jede Schublade zog ich auf, sogar die unterste, die immer klemmt und, wenn sie erst einmal offen ist, kaum wieder zuzukriegen ist. Aber darin war nur langweiliger Papierkram und unter dem langweiligen Papierkram noch mehr langweiliger Papierkram.

Ich hob alle Vorhänge nach oben, guckte hinter jede Heizung und auch in den Putzschrank, warf einen Blick in die zwei Plastikeimer und schob die Putzlappen zur Seite, auch die schmutzigen. Mutig, wie ich war, spähte ich kurz in Jonas Zimmer, der gerade im Training war. (Judo. Von ihm ließ ich mich also besser nicht erwischen.)

Danach musste ich dringend aufs Klo. Und als ich da so saß, guckte ich direkt auf den Arzneischrank, wie ich es immer tat. Nur, dass ich auf einmal das Gefühl hatte, dass das kleine rote Kreuz aufleuchtete und blinkte, als wollte es mir ein Zeichen senden. Natürlich konnte es sein, dass ich verrückt wurde. Das ist immerhin schon ganz anderen Leuten passiert. Andererseits konnte es auch sein, dass ich nicht verrückt wurde, sondern einfach nur einen Geistesblitz gehabt hatte, eine Ahnung, oder meinetwegen auch einen schwachen Kreislauf. (Laut meiner Oma flimmert und blinkt dann auch alles.)

Egal, dachte ich, spülte, zog meine Hose hoch und ging zum Schrank. Was soll ich sagen: Ich landete einen echten Volltreffer. Zwischen der Jahrespackung Pflaster und dem Nasenspray lag Jumping Joe. Genau das hatte ich mir gewünscht. Mir wurde warm, in meinem Bauch flatterte es; wie damals, als wir gegen alle Erwartungen den Staffellauf gewonnen hatten. Mit dem Zeigefinger strich ich einmal über die Packung, über Joes Gesicht, dann schloss ich den Schrank und holte mir zur Belohnung einen Zimtstern aus der Küche.

Am zweiten Advent spielte ich Jumping Joe zum ersten Mal. Nach dem sonntäglichen Kaffeetrinken mit meiner Oma und meinen zwei Opas brach die ganze Familie zum Spaziergang auf. Das hieß, mit Ausnahme von mir. Ich durfte zu Hause bleiben, weil ich sagte, dass mir übel war, und demonstrativ keinen Kuchen gegessen hatte. Mein Vater kochte mir sogar einen Kamillentee. Dann stand ich am Küchenfenster und schaute meiner Familie hinterher. Da meine Oma etwas mit der Hüfte hat, kamen sie nur langsam voran. Kaum waren sie um die Ecke gebogen, flitzte ich ins Bad. Mann, war es aufregend, Jumping Joe zum ersten Mal in die Konsole zu schieben, zum ersten Mal die Musik zu hören und zu sehen, wie Joe über ein Hochhaus springt. Mitten im Sprung fror das Bild ein, nur Joes Haare wehten weiter, und dann konnte ich die Farbe und das Profil seiner Turnschuhe auswählen.

Das erste Level war einfach, die Häuser waren niedrig, und es gab viele Mülltonnen, von denen man abspringen konnte. Nur vor den Autos musste man sich in Acht nehmen, und vor den Polizisten. Unterwegs sammelte ich jede Menge Münzen ein und schaffte das Level mit 76 Punkten. Das zweite war schon etwas schwieriger, die Häuser hatten mehr Stockwerke, und wenn Joe gegen eine Antenne lief oder ihm ein Vogel auf den Kopf kackte, kostete das wertvolle Zeit. Im dritten Level kam ich erst einmal nicht weiter, eines der Häuser war zu hoch.

Mir war klar, was Jonas gesagt hätte: «Warum liest du nicht die Spielanleitung?»

Aber Jonas wusste eben nicht, dass es darauf ankam, alles selbst herauszufinden. So wie ich ja auch nicht einfach zu meiner Mutter marschiert war, um sie zu fragen, wo sie denn bitte schön in diesem Jahr mein Geschenk versteckt hatte. Mal ganz davon abgesehen, dass sie mir wahrscheinlich nur den Vogel gezeigt und gefragt hätte, ob ich meine Hausaufgaben denn schon gemacht hätte und ob sie die mal sehen könnte. Wie auch immer, mein Bruder hatte keine Ahnung von wegen «Spielanleitung lesen», für meinen Geschmack liest er sowieso viel zu viel, sogar das, was hinten auf Joghurtbechern draufsteht. Es dauerte zwar ein bisschen, aber irgendwann fand ich heraus, dass Joe, wenn man lange genug auf die blaue Taste drückte, an Laternen hochklettern konnte. Und damit war ich, schwupp, auf dem Haus und ein Level weiter. Dann war es leider an der Zeit, das Spiel wieder zurück zum Nasenspray zu bringen. Denn auch wenn meine Oma etwas mit der Hüfte hat, würde meine Familie wohl kaum ewig unterwegs sein; vor allem nicht, weil Jonas mit dabei war – er fand Spaziergänge genauso überbewertet wie ich.

Bis vor kurzem war für mich das Beste in der Adventszeit mein Adventskalender gewesen. Natürlich mochte ich auch, dass es überall nach Plätzchen duftete, die Fenster geschmückt waren und ich Jonas mit Schnee einseifen konnte. Aber all das war nichts gegen meinen Adventskalender, den Tante Anni, die mittlere der drei Plagen, selbst genäht hatte. Jonas ging es im Übrigen ganz ähnlich. Er war es auch, der mir beigebracht hatte, wie man etwas Geschenkpapier zurück in den Kalender stopfte, damit es so aussah, als hätte man nicht wieder zwei Päckchen an einem Tag geöffnet. Aber dieses Mal fiel es mir nicht schwer, mich zu beherrschen, obwohl die gleichen Sachen wie sonst auch im Kalender waren; Marzipankartoffeln und Tattoos und Zuckerkringel und ein silberner Filzstift. All das hatte gegen Joe keine Chance. Anstatt mich wie sonst auf das Aufwachen zu freuen, freute ich mich nun auf den Nachmittag und hoffte, wenigstens für eine Stunde allein zu Hause zu sein. Da Jonas eine neue Freundin hatte, bei der er praktisch wohnte, blieben nur meine Eltern als Problem.

Kurz vor dem zwölften Level – Joe sprang längst über richtige Hochhäuser, bald wären Schiffe und Brücken an der Reihe – sah es so aus, als würde meine Familie mich nie mehr allein lassen. Stattdessen hatte meine Mutter die großartige Idee, gemeinsam Sterne zu basteln. Ich drehte fast durch. Was mich rettete, war Tante Rose, die älteste der drei Plagen. Eigentlich hatte sie nur angerufen, um zu fragen, was ich mir von ihr zu Weihnachten wünschte. Aber dann sagte ich zu meiner Mutter, dass Tante Rose sich am Telefon irgendwie komisch angehört hatte.

«Wie, komisch?», fragte meine Mutter und legte die Stirn in Falten. Seit Tante Roses Mann gestorben war, machte sie sich ständig Sorgen um sie.

«Na, irgendwie traurig», sagte ich.

Meine Mutter seufzte. Dann stand sie auf, um mal eben bei Tante Rose vorbeizufahren.

An dem Nachmittag schaffte ich das vierzehnte Level, mit nicht weniger als 89 Punkten. Merkwürdig war, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, auch das nächste, das mit den Fesselballons, freigespielt zu haben. Aber als ich Jumping Joe wieder in die Konsole schob, war ich schon mitten in Level 16. Wahrscheinlich hatte ich einfach den Überblick verloren. Jetzt fehlten mir nur noch vier, dann hätten Joe und ich es endlich geschafft. Wenn meine Eltern mir nur nicht ständig auf der Pelle gesessen hätten.

Nie hätte ich gedacht, dass sich in diesem Zusammenhang ausgerechnet die Schule als nützlich erweisen würde. Aber das tat sie. Meine Klassenlehrerin kündigte den letzten Elternsprechtag des Jahres an und bat darum, dass wirklich nur die Eltern derjenigen Kinder kamen, bei denen etwas Ernstes anlag.

«Frau Ruhland möchte mit euch etwas besprechen», sagte ich noch am gleichen Abend zu meinen Eltern. Meine Mutter und mein Vater warfen sich schnelle Blicke zu. Die Blicke sagten: «Du gehst», und: «Nein, ich war schon letztes Mal.» Nun kam es auf jedes Wort an. Ich räusperte mich und sagte: «Frau Ruhland meint, es wäre wohl das Beste, wenn ihr beide kommt.» Die Blicke meiner Eltern richteten sich auf mich, sie sagten: «Was, zur Hölle, hast du angestellt?» Ich zuckte mit den Schultern und dachte daran, wie ich mit Joe schon bald über die höchsten Gebäude der Welt springen würde. Ich hatte einen richtigen Lauf.

«Kann es sein, dass du zugenommen hast?», fragte ich bald darauf meinen Vater, als wir uns wieder einmal am Plätzchenteller trafen. Er hatte gerade in einen Lebkuchen gebissen und verzog das Gesicht. Eine halbe Stunde später packte er seine Trainingstasche und ging ins Fitnessstudio. Joe war am gleichen Abend nicht weniger sportlich; er sprang über das Brandenburger Tor, den Eiffelturm und dieses Ding, das aussieht, als ob es in Italien steht.

Das Finale fand im Himalaja statt. Es war der absolute Hammer. Bisher war ich vor allem über Wolkenkratzer gesprungen und hatte es mit schwerfälligen Fensterputzern und tief fliegenden Flugzeugen aufgenommen. Aber es gab jede Menge Fenstersimse, an denen ich mich festkrallen, und Kabel, an denen ich mich entlanghangeln konnte. Jetzt aber musste ich es mit Affen aufnehmen, die alles daransetzten, mir meine Turnschuhe zu klauen. Außerdem gab es Geier und Wölfe. Von den Regenwolken ganz zu schweigen, die dafür sorgten, dass meine Klamotten nass und schwer wurden, was meine Sprungkraft enorm verringerte. Will heißen, das letzte Level hatte es in sich, und ich musste dazu übergehen, Nachtschichten einzulegen. Glücklicherweise waren meine Eltern völlig überarbeitet; wenn sie einmal schliefen, waren drei Wecker gleichzeitig nötig, um sie wieder wach zu kriegen. Und Jonas interessierte sich sowieso nicht für das, was sein kleiner Bruder anstellte – solange es außerhalb seines Zimmers stattfand. Kaum waren alle eingeschlafen, schlich ich ins Bad und von dort aus, mit Joe unter dem Arm, weiter ins Wohnzimmer. Ich knipste nur die Klemmlampe an, dann legte ich los, im Halbdunkeln und ohne Ton. Bald begannen meine Augen zu tränen, und sie waren auch tagsüber so gerötet, dass meine Mutter Augentropfen aus der Apotheke holte und mir mit einem Allergietest drohte. Auch schien es, als hätte ich Halluzinationen. Es konnte doch nicht sein, dass mein Vater die Titelmusik von Jumping Joe summte? Doch wenigstens halfen die Augentropfen. Ich sah wieder besser, sah jeden Affen, jeden Geier, jeden Wolf und jede noch so kleine Regenwolke schon von weitem.

Mein ganz persönliches Weihnachtswunder erlebte ich in der Nacht auf den 24., was ein bemerkenswerter Zufall ist, wenn man sich überlegt, was etwa zu der Zeit noch so alles passiert ist – über die Jahrtausende, versteht sich. Quasi nur eine Nacht bevor Maria und Josef ihren Stall erreichten, erreichte ich die Spitze des Mount Everest. Und die liegt bekanntermaßen 8848 Meter über dem Meeresspiegel, dagegen ist Bethlehem mit nicht mal 800 Metern absolut kein Vergleich.

Bei der Bescherung war alles wie immer, mit dem Unterschied, dass ich ziemlich übermüdet war. Zuerst gab es Würstchen mit Kartoffelbrei, dann gingen meine Eltern in die Küche, um sich ein bisschen zu streiten, und später gingen wir alle ins Wohnzimmer, wo meine Oma und die zwei Opas schon die Kerzen angezündet hatten. Der Weihnachtsbaum sah wirklich wunderschön aus, nur der Geschenkeberg darunter sah noch wunderschöner aus. Etwas seltsam war, dass meine Eltern darauf bestanden, mir ihr Geschenk gleichzeitig in die Hand zu drücken. Es war in grünes Papier gewickelt, mit kleinen goldenen Sternen darauf. Zum ersten Mal dachte ich, dass es eigentlich schade war, dass ich schon auf dem Mount Everest angekommen war. Alles, was ich tun konnte, war, das Spiel noch einmal von vorne zu spielen und dabei zu versuchen, alle Münzen zu sammeln, damit ich in jedem Level auf 100 Punkte kam. Aber ehrlich gesagt, reizte mich das nicht besonders; wie bei Mathearbeiten auch kam es doch nur darauf an, irgendwie durchzukommen, und nicht, alles richtig zu machen.

Ich versuchte ein Lächeln, es fühlte sich an, als hätten mir alle drei Plagen gleichzeitig in die Wangen gekniffen. Da meine Augen noch immer leicht gereizt waren, weiß ich nicht, ob ich mich irrte. Aber in dem Moment hatte ich den Eindruck, als zwinkerten meine Eltern sich zu.

Ich holte tief Luft und blickte auf das Spiel in meinen Händen: Jumping Joe 2 – Abenteuer im Weltraum.

Michel Bergmann

Weihnukka

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. (Lukas 2,1)

 

Was soll ich Ihnen sagen? Meine Eltern wurden gar nicht geschätzt. Ganz im Gegenteil. Sie waren unerwünscht, denn sie konnten sich noch gut an das erinnern, was nur kurze Zeit zurücklag. Man schrieb das Jahr 1949, und wir wohnten als jüdische Flüchtlinge in Frankfurt am Main in einer halben Ruine (man könnte auch euphemistisch sagen: in einem bereits zur Hälfte bewohnbaren Gebäude), und meine Familie lebte davon, dass mein Vater alte Kleider sammelte und sie verkaufte.

Das war ein schweres Geschäft. Man musste zuerst einen davon überzeugen, seine vergammelte, lumpige und fadenscheinige Hose zu verkaufen, um dann einen zu finden, der diese erstklassige, fast neue Hose kaufen wollte. So kehrte der Vater oft des Abends unverrichteter Dinge zurück in die feuchtkalte Stube, wo eine trübe Suppe wartete, von der gramgebeugten Mutter gekocht.

Ja, wir bewohnten in der Tat nur ein einziges Zimmer. Das Badezimmer und das Klo befanden sich auf dem Flur, daneben eine große Gemeinschaftsküche, denn das einst stattliche Gebäude war das ehemalige Jüdische Krankenhaus. Deshalb waren die Krankenzimmer zu Wohnungen geworden. Und die Wohnungen wiederum zu Krankenzimmern. Denn ein jeder war krank in diesen Zeiten. Es war ein Husten und Röcheln, ein Wimmern und Stöhnen, ein Jammern und Wehklagen auf allen Fluren.

Rechts neben uns hausten die Ledermanns mit einer dünnen Tochter mit Oberbiss und links die Cohn-Bendits, die einen kleinen, rothaarigen, hyperaktiven Sohn namens Daniel hatten, aus dem später nichts Seriöses geworden ist. Gegenüber lebte (wenn man das denn «leben» nennen konnte!) die alte Frau Sommer, die sich stundenlang auf dem Klo einschloss, weil sie annahm, die Gestapo sei wieder einmal hinter ihr her.

Eines Tages glaubte sie sich wehren zu müssen und schlug mit einer Wasserflasche auf einen bedrohlichen Schatten ein, der sich als ein siebzehnjähriges schlesisches Flüchtlingsmädchen namens Frieda herausstellte, das anschließend bei uns erste Hilfe, Unterschlupf und Verpflegung fand.

So kamen wir bereits im Herbst 49 zu Personal, denn Frieda ließ es sich nicht nehmen, meinen Eltern aus purer Dankbarkeit zur Hand zu gehen. Die zahllosen Altklamotten meines Vaters mussten gewaschen werden, und so verbrachten meine Mutter und Frieda viele Stunden gemeinsam in der dampfgefüllten Waschküche im Keller der Klinik, wo noch mit Holz gefeuert wurde. Es war eine harte Arbeit.

Ich, damals fast fünf Jahre alt, verliebte mich sofort in Frieda und kuschelte mich gern vor dem Schlafengehen in ihre runden Ecken, wenn sie sich auf ihre Matratze begab. Das Mädchen war gemütlich, roch nach Schlesischem Allerlei und erzählte mir Märchen vom Rübezahl.

Frieda hatte ein hartes Schicksal hinter sich, sie war einige Male von russischen Soldaten vergewaltigt worden. Das durfte ich niemals erfahren, aber ich erfuhr es doch, denn ich hörte, was sich meine Eltern eines Nachts auf Jiddisch zuflüsterten. Frieda, die aus dem Nichts gekommen war, wurde im Lauf der nächsten Wochen zum Maskottchen der gesamten Station, es gab keinen, der sie nicht gut leiden konnte, inklusive Frau Sommer, die vergessen hatte, dass sie Frieda mit einer Flasche geschlagen hatte. Das Mädchen wurde zur Aufseherin hochgestuft. Sie stand in der Gemeinschaftsküche und disponierte die vier mit Kohle geheizten Kochplatten des riesigen Herds. Denn immer wieder kam es vor, dass Kochterroristen die Töpfe der anderen flugs zur Seite schoben, um den eigenen den Vorzug zu geben, und da bedurfte es einer unbestechlichen Instanz, die Anarchie zu unterbinden: Frieda. Ihrem Urteil unterwarfen sich alle, und keiner hatte den Eindruck, benachteiligt zu werden.

Das lag in der Hauptsache daran, dass Frieda ein Schaf in Menschengestalt war und gnadenlos harmoniesüchtig. Sie vermochte es geradezu genial, mit den nervigsten Mitbewohnerinnen umzugehen und sie handzahm zu machen. Selbst Frau Zweig, die nicht gerade pflegeleicht war, ließ sich schließlich von Frieda überzeugen.

Ja, die Töpfe von Herrn Lustig waren sehr wohl vor den ihren auf dem Herd gewesen, die Pfanne von Frau Sommer ebenso, und Frau Bergmanns Kartoffeln seien in fünf Minuten gar, und was wären schon fünf Minuten, wenn man an den Krieg zurückdenken würde.

Frieda wurde niemals laut, im Gegenteil. Sie sprach stets leise in einer unveränderten Tonlage. Von Zeit zu Zeit benutzte sie schlesische Wörter, die kein Mensch verstand. Aber niemand wagte zu fragen, weil er ihr Deutsch für gutes Deutsch hielt.

Ich verweise hier nicht ganz ohne Stolz darauf, dass ich damals zu den wenigen gehörte, die fehlerlos den schlesischen R-lastigen Zungenbrecher «In Rupperschdurf, do rissn die Riepl Rießler-Reinhulds Runklriebm raus!» darbieten konnten.

 

Das Weihnachtsfest näherte sich unaufhaltsam. Unter normalen Umständen wäre diese Tatsache keiner Erwähnung wert gewesen, denn Weihnachten gab es für die jüdischen Bewohner nicht. Unsereiner hatte Chanukka. Ein bewegliches Fest, das in diesem Jahr zufälligerweise zeitgleich stattfand.

Es war überhaupt merkwürdig, dass sich die christlichen Feste und zum Teil auch deren Rituale auf kuriose Weise mit den viel älteren jüdischen verbinden ließen und deshalb die Koinzidenz der Ereignisse um den Heiland stark angezweifelt werden mussten. Wenn Jesus just an Weihnachten geboren worden war, seinerzeit also an Chanukka, dem Lichterfest, dann grenzt das an Zauberei, und dass er ausgerechnet an Ostern, am Passahfest, ans Kreuz geschlagen wurde … mal im Ernst, wer konnte das glauben?

Überhaupt, das mit der Religion war so eine Sache. Die Juden verhielten sich dem Weihnachtsfest gegenüber gleichgültig. Aber auch Chanukka wurde ohne Inbrunst zelebriert. Man tat es den Kindern zuliebe, denn die Erwachsenen waren vom angeblich so lieben Gott enttäuscht worden. Nachdem er Auschwitz ohne ein Veto zugelassen und sich auch sonst aus den zahllosen Massakern des Krieges rausgehalten hatte, hielt man ihn für unzuverlässig.

 

Aber wider Erwarten wurde Weihnachten an Weihnachten in besagtem Jahr doch zum Problem. Warum? Nun, es gab Frieda, die sich in sentimentaler Hingabe auf das kommende Weihnachtsfest freute.

Sie schwärmte vom «Weihnachtsmännla», vom «Weihnachtsengla», vom «Weihnachtstännla» und vom «Weihnachtsküchla», als wäre sie zwischen die Buchseiten von Hauptmanns Weber geraten. Daher kam eine subversive Flurkommission zusammen und beratschlagte, wie und wo man für das schlesische Waisenkind eine kleine Weihnachtsfeier ausrichten könnte.

Schließlich fiel die knappe Entscheidung zugunsten einiger Tannenzweige, weißer Kerzen, selbstgeschnittenem Lametta und bescheidener Geschenke für das Mündel.

Es handelte sich um den Beginn ihrer Aussteuer, bestehend aus zwei Kissenbezügen und drei Küchenhandtüchern, alle hübsch verpackt und mit bunten Bändern umrankt.

Dazu sollte ein gewisser Hanns Eisler, der, so ging das Gerücht, ein berühmter Komponist war, auf dem Akkordeon eine Weihnachtsweise spielen. Er war aus Ostberlin angereist, um seine Schwester Elfriede, die im Parterre wohnte, zu besuchen. Sie hatte im Exil einen Herrn aus Frankfurt geehelicht, der pikanterweise Lackmeier hieß und sie auch später seinem Namen entsprechend behandelte.

Zuerst zierte sich der Bolschewist Eisler gegen den religiösen Firlefanz, den er wie sein Idol Karl Marx «Opium fürs Volk» nannte. Aber ein Auftritt vor Publikum war für einen nicht uneitlen Künstler nicht zu verachten, und so gab er klein bei und erklärte sich gequält bereit, lediglich «O Tannenbaum» sowie «Stille Nacht, heilige Nacht» darzubieten.

Als Nächstes wurde nach einer Örtlichkeit geforscht, wo die Weihnachtsfeier stattfinden könnte, und man entschied sich für den Betsaal im ehemaligen Operationsbereich, der sich im Hochparterre befand und der am 24. Dezember umfunktioniert werden sollte. Es gab wie immer Querulanten, die strikt dagegen waren, einen «jüdischen Raum» für ein christliches Fest zu missbrauchen. Manche führten sich auf, als wären die gekachelten Wände des OP-Saals, die Stühle, Tische und Regale koscher. Aber man ließ sich nicht abhalten. Jetzt begannen die geheimen Vorbereitungen, von denen die gute Frieda nichts mitbekommen sollte.

 

Es wurden listige Pläne ersonnen, das Mädel vom Betreten des OP-Bereichs fernzuhalten, denn dort waren bereits eifrig Tannenzweige, Kerzen, Zapfen, Äpfel und Girlanden gehortet worden. Auch wir Kinder beteiligten uns, indem wir, meist unbedarft, aber liebevoll, aus Buntpapier Engel, Sterne und Lametta bastelten.

Damit Frieda auch tagsüber abgelenkt war, heuchelte mein Vater Hilflosigkeit, und deshalb ging ihm Frieda bei seinen «Hausbesuchen» in der Woche vor dem Fest zur Hand, was ihr Spaß machte, denn so kam sie mal raus.

Nun saß sie, eingequetscht zwischen den Kartons und Waschkörben mit den lumpigen Klamotten, auf dem Rücksitz des Brezelfensterkäfers, von ihr liebevoll «Kakerlake» genannt. Denn das schwarze Vorkriegsungetüm erinnerte sie mit seinem langen, spitzen, gekrümmten Hinterteil fatal an die Kerbtiere, die unsere ständigen Mitbewohner waren. Jedes Mal, wenn man das Zimmer betrat, huschte, krabbelte, flitzte irgendwo etwas Schwarzes ins nächste dunkle Loch. Selbst ein kräftiger Hieb mit einem Schuh konnte die Insekten wenig beeindrucken. Sie waren zäh und auf Überleben programmiert. Das hatten sie vielen von uns voraus.

Mein Vater stellte zu seiner Freude fest, dass die Begleitung ihm Vorteile brachte. Immer wieder erzählte er seinen Kunden von Friedas Schicksal und davon, dass er sich nun um das herrenlose Ding zu kümmern hatte und dass, wenn man diesen fast neuen Mantel nicht kaufte, sie hungers sterben müsse. Frieda bestätigte es mit heftigem Kopfnicken. Das erweichte selbst die dickfelligsten Taunusbauern, und so kamen Frieda und mein Vater abends mit wenig Geld, aber einigen seltenen Naturalien zurück, die uns die Festtage versüßen würden: Butter, Brot, Mehl, Kartoffeln, Fleisch und Rüben. Niemand aß bei uns Schweinefleisch, und so wurden Schinken, Speck und Schmalz zu beliebten Tauschobjekten.

 

Nachts, wenn Frieda schlief, traf sich die Untergrundbewegung klammheimlich im Betsaal, um den Weihnachtsabend bis ins Kleinste zu planen. Professor Theodor Wiesengrund, der im dritten Stock wohnte und der später unter dem Mädchennamen seiner Mutter, Adorno, Karriere machen sollte, erklärte sich bereit, den Weihnachtsmann zu geben, und so probierte er unter dem Jubel der Kombattanten seinen Nikolausdress an.

Einen langen Bart und das rote Kostüm hatte jemand aus einem Theaterfundus entliehen. Dazu noch einen Sack und eine Rute. Perfekt! Und als der Professor noch anbot, gegebenenfalls ein «Von drauß’ vom Walde komm ich her» zu rezitieren, gab es anerkennende Zustimmung. Man hatte den Eindruck, dass sich die Veranstalter mehr auf das Weihnachtsfest freuten als die Betroffene selbst.

Irgendwann kam man zu der Überzeugung, dass dieser Aufwand für eine einzelne «Gojete», also eine Nichtjüdin, zu groß war, und man beschloss kurzerhand, noch einige Christen, die uns nahestanden, einzuladen, als da waren: Hausmeister Fritz mit Frau und Kind, Schutzmann Rubitschu mit Familie, der Kaufmann Breinersdorfer, der den Feinkostladen an der Ecke besaß und oft ein Auge zudrückte beim Anschreiben, und Familie Cress, der das Wasserbüdchen gehörte, ein Kiosk, den sie großspurig «Café Cress» nannte. So wuchs sich die anfänglich intime Weihnachtsfeier im Jüdischen Krankenhaus zu einem veritablen Fest aus – mit Tannenduft, Musik, einem Weihnachtsmann und Geschenken.

 

Der 24. Dezember stand nun vor der Tür. Unglücklicherweise war an diesem Tag nicht nur Chanukka, nein, es war auch noch ein Samstag, also Schabbes. Daher konnte die Ausstattungskolonne erst am Mittag den Betsaal stürmen, dann war der morgendliche Gottesdienst beendet. Widerwillig ließen sich die Frommen aus dem OP schieben, sie fühlten sich von einem gottlosen Pack genötigt, sprachen von Nazimethoden und baten den Herrn, dass unsere Ernte verdorren sollte.

Aber davon ließ sich keiner beeindrucken. Girlanden wurden aufgehängt, Tannenäste dekoriert und mit Kerzen bestückt, die Geschenke mit kleinen Namensschildchen versehen und unter der Menora, dem siebenarmigen Leuchter, der zum Tannenbaum mutiert war, niedergelegt. Einige Frauen hatten heimlich Plätzchen und Kuchen gebacken, ein logistisches Abenteuer, denn Frieda durfte davon nichts mitbekommen.

Wir Jungs waren dazu verdonnert worden, Frieda abzulenken, und so überzeugten wir sie, mit uns am Nachmittag zum Bornheimer Hang zu gehen, wo der FSV gegen Seckbach antrat. Frieda war nämlich eines der seltenen weiblichen Wesen, das sich für Fußball interessierte und sich auch auskannte. Sie wusste sogar, was «Abseits» war, was ich von mir nicht behaupten konnte.

Nach dem Spiel trabten wir alle brav zurück. Es hatte zu schneien begonnen, und so zeichnete sich ein klassisches, fast dörfliches Weihnachtsidyll ab, wie auf dem Foto aus dem Latscha-Kalender, der am Küchenschrank hing.

Als wir in unser Zimmer kamen, war Frieda erstaunt, dass meine Mutter sie förmlich zwang, eines ihrer Kleider anzuziehen. Es war schwarz mit bunten Wellen auf dem Rocksaum, sehr elegant. Auch das Lippenrot machte sich außerordentlich gut. Mit Augenbrauenstift wurden ihr zuerst die Augen umrandet, danach Nylonstrumpfnähte auf die nackten Beine gemalt, und am Ende trug sie Schuhe meiner Mutter mit hohen Absätzen. Sie sah hinreißend aus, und ich war davon überzeugt, dass ich sie eines Tages heiraten würde.

Als wir den Saal betraten, stockte Frieda der Atem. Es waren etwa vierzig Menschen im Raum, und die brachen in Jubel aus, als hätte Frieda gerade den Oscar gewonnen, und alle riefen: «Fröhliche Weihnachten, Frieda!», und viele auch: «Mazl tov!»

Das Akkordeon erklang, Herr Eisler spielte «Stille Nacht», Friedas Augen wurden feucht, und das schöne Make-up floss davon. Sie wurde umarmt und gedrückt und schwebte an den Leuten vorbei, als hätte sie den kleinen Jesus selbst zur Welt gebracht, und in meiner Erinnerung hatte dieser Augenblick tatsächlich etwas Heiliges.

Da stand dieses zarte Mädchen vor seinen Geschenken, kniete sich hin, hob die Päckchen an, ließ sie wieder los, weinte stumm, dass seine schmalen Schultern zuckten. An was mochte es denken? An Schlesien, an sein Zuhause, an die toten Eltern, an die verschollene Schwester, an die Russen? Es war ein Augenblick der Stille, der Demut, der Menschlichkeit. Nur das Akkordeon von Herrn Eisler war zu hören.

«Warst du auch schön brav?», vernahm man plötzlich den sanften Ton des Weihnachtsmanns. Frieda sah nach oben, erhob sich, stand nun schüchtern vor Professor Wiesengrund. Sie nickte. Ja, sie war brav gewesen. Die beiden sahen sich lange an, und plötzlich nahm der Weihnachtsmann Frieda in seine Arme.

«Von drauß’ vom Walde komm ich her …», flüsterte er.

Mein Vater forderte Eisler auf, endlich was Fröhliches zu spielen, und so erklang plötzlich «Die Internationale», und die Starre löste sich auf.

Die Leute lachten, tranken, aßen Plätzchen und Kuchen. Frieda und die anderen Christen packten ihre Geschenke aus, man bedankte sich artig, umarmte sich verschämt. Nur Herr Breinersdorfer nutzte die Gelegenheit, einige seiner attraktivsten Kundinnen, darunter auch meine Mutter, mal herzlich an sich zu drücken. Die Frau des Feinkosthändlers war nicht amüsiert.

Danach wuchs sich das besinnliche Gabenfest zu einer fröhlichen christlich-jüdischen Party aus, Herr Eisler spielte «Ein Freund, ein guter Freund …», der Nikolaus tanzte mit allen Frauen, die Männer tranken Bourbon und Wodka, es gab Coca-Cola und weitere Köstlichkeiten aus der PX, dem US-Laden in der Sperrzone. Einige Mitbewohner hatten gute Beziehungen zu den Amerikanern. Wir Kinder rannten aufgekratzt herum, es wurde viel geraucht, getrunken und gelacht. Man konnte für eine Stunde die Nöte des Alltags vergessen.

 

Mitten in diese ausgelassene Stimmung hinein platzte plötzlich ein junger Mensch mit einer verheerenden Botschaft: In einer Stunde würde Rabbiner Honigbaum erscheinen, um mit den Bewohnern des Jüdischen Krankenhauses das Chanukka-Fest zu begehen! Panik machte sich breit. Doch einige behielten einen klaren Kopf.

Ein Notfallplan wurde in die Tat umgesetzt. Es war zwar peinlich, aber die christlichen Gäste wurden höflich des Tempels verjagt. Einige Bewohner begannen sofort damit, sündige christliche Symbole und Weihnachtsrequisiten zu entfernen. Girlanden wurden eingerollt, Tannenzweige aus dem Fenster geworfen, Geschenke entfernt und der Raum sachlich hergerichtet. Die Menora wurde präpariert und der Bourbon versteckt. Nach einer Dreiviertelstunde glich der Saal wieder einer kargen Betstube, jeglicher Sinnlichkeit beraubt. Einige Frauen deckten den langen Tisch mit süßem, koscherem Wein und Löffelbiskuits, ein paar Männer verteilten Gebetbücher.

Wir Kinder hatten großen Respekt vor Rabbiner Honigbaum. Er war ein hünenhafter Mann mit strengem Blick und einem weißen Bart. Moses selbst konnte nicht furchterregender ausgesehen haben. Der Rabbi war in den dreißiger Jahren von Berlin nach New York emigriert, hatte sich während des Krieges zur US-Armee gemeldet und war nun als oberster Militärrabbiner für die gesamte amerikanische Besatzungszone zuständig.

Deshalb besuchte er an den jüdischen Feiertagen Einrichtungen wie DP-Lager oder die ersten Jüdischen Gemeinden und Organisationen. Ausgerechnet heute war seine Wahl auf das Jüdische Krankenhaus gefallen, und er hatte damit unser schönes Weihnachtsfest verdorben.

Wir Kinder wurden angehalten, dem Rabbiner auf keinen Fall von der christlichen Feier und den damit verbundenen nichtkoscheren Ritualen und Speisen zu erzählen.

Nichts von den heidnischen Bräuchen und der Besudelung unseres Betsaals! Und vor allem: kein Wort über den Weihnachtsmann!

Herr Eisler sollte sich mit seinem Akkordeon zurückhalten und nur auf Wunsch des Rabbiners ein Chanukka-Liedchen vortragen. Da musste der alte Kommunist noch ein wenig üben.

Die Kinder hingen über dem steinernen Geländer von Ledermanns Balkon über dem Eingang des Hauses und beobachteten die Ankunft des Rabbis. Es rollte ein Jeep, gefolgt von einem kleinen LKW, über die kiesige Auffahrt vor das mächtige Portal mit dem Vordach, das von roten Sandsteinsäulen getragen wurde.

Der Rabbi in Uniform entstieg dem Jeep. Er sah aus wie ein General. Sein Fahrer lief rasch nach hinten und sprach mit drei weiteren GIs, die vom LKW sprangen. Derweil ging Rabbiner Honigbaum ins Haus. In der Halle wurde er von Herrn Ledermann devot empfangen und in den ersten Stock geleitet.

 

Die Bewohner des Jüdischen Krankenhauses befanden sich im Betsaal, als der Rabbi mit Herrn Ledermann eintrat, nach links und rechts nickte und dabei angemessenen Schrittes durch das Spalier schritt, das sich gebildet hatte. Hinter einem Stehpult machte er halt, sah sich schweigend um. Auf seinen Wink hin entzündete Frau Zweig eine Kerze am Leuchter und sprach ein Gebet. Dann begann der Rabbi mit einer kurzen Rede. «Liebe Freunde, ich bin gekommen», sagte er mit fester Stimme, «um Ihnen ein frohes Chanukka zu wünschen. Und um Ihnen in diesen schweren Zeiten eine Botschaft zu bringen. Die Botschaft lautet: Lasst uns fröhlich sein und für einen Abend die Sorgen vergessen. Denn nur wer ein frohes Herz hat, kann in diesen schweren Zeiten bestehen.» Es folgte Applaus.

Auf einen Wink des Rabbis hin öffnete sich die Tür, und die vier US-Soldaten traten ein. Zwei trugen einen großen Blechcontainer, die beiden anderen einen grellgeschmückten Weihnachtsbaum! Mit roten Äpfeln, Süßigkeiten und goldenen Sternen.

Die Gemeinde stand unter Schock.

«Sehen Sie», sagte der Rabbi, «zu Weihnachten gehört ein Baum. Wir waren nicht sehr fromm zu Hause, aber einen Weihnachtsbaum haben wir doch immer gehabt. Und jeder hatte eine Gans.»

Die Leute lachten.

Die beiden Soldaten hatten den Blechcontainer abgestellt und entnahmen ihm zwei große, gebratene Gänse, die auf dem Tisch tranchiert wurden.

Dann gab es kein Halten mehr. Die Leute holten sich ihre Gänsestücke ab, während wir Kinder gemeinsam mit Frieda die Kerzen am Baum anzündeten und uns gleichzeitig Hershey’s Schokolade und Butterfinger reinstopften.

Dazu spielte Herr Eisler ein Channuka-Lied.

Der Rabbi schaute ihn an. «Können Sie denn nichts Weihnachtliches?», fragte er den verblüfften Mann mit dem Akkordeon.

Daraufhin erschallte «O Tannenbaum», und alle sangen mit.

Was soll ich Ihnen sagen? Es ist noch ein schöner Abend geworden.