FRIEDRICH NIETZSCHE
(1844 – 1900), den Paul Valéry einen »Exzess des Bewusstseins« nannte, war bereits zu Lebzeiten eine ebenso legendäre wie tragische Figur: Von seinen Zeitgenossen weitgehend unverstanden und schon früh durch immer wieder ausbrechende Krankheitsschübe in seinem Lebenswandel beeinträchtigt, erlitt er mit fünfundvierzig Jahren einen psychischen Zusammenbruch, dem die vollkommene geistige Umnachtung folgte. Er war bis zu seinem Tod auf die Pflege seiner Mutter und seiner Schwester angewiesen.
Obwohl Friedrich Nietzsche kein einheitliches philosophisches System hinterlassen hat, ist sein Einfluss auf die Ideengeschichte nicht hoch genug einzuschätzen. Viele seiner zentralen Gedanken und Begriffe sind zu Leitideen der Moderne geworden und wurden von Legionen von Künstlern und Intellektuellen weiterentwickelt. Wer sich mit Nietzsches radikaler Interpretation von Aufklärung vertraut machen will, wird hier die wichtigsten und prägnantesten Passagen aus seinem Gesamtwerk finden und entdecken, wie viel Spaß es machen kann, mit dem Hammer zu philosophieren.
Der Band enthält in Auswahl Aphorismen und Essays aus Jenseits von Gut und Böse, Ecce homo, Morgenröte und andere Schriften.
Friedrich Nietzsche war der größte intellektuelle Seismograph und Kritiker der modernen Welt. Seine Philosophie verbindet Psychologie mit Poesie, Leben mit Kunst und versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, wie es sich ohne Jenseits, ohne absolute Moral und unantastbare Wahrheiten mit Sinn und Hoffnung leben lässt.
Nichts ist wahr, alles ist erlaubt
Eine Anthologie
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Zum Geleit
Wahrheit oder Leben
Charakter, Psychologie und »Ich«
Bildung und Erziehung
Alter, Krankheit und Tod
Christentum, Gott und Metaphysik
Gut und Böse
Schuld und Strafe
Der freie Geist
Der moderne Mensch
Freund und Feind
Politik
In Gesellschaft
Über die Eitelkeit
Die Liebe
Frauen
Ehe
Gastrosophie
Kunst und Dichtung
Der Traum
Erinnern und Vergessen
Die Deutschen
Also sprach Zarathustra (Auszüge)
Ecce Homo
»Dass aus meinen Schriften ein Psychologe redet, der nicht seinesgleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt – ein Leser, wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen. Die Sätze, über die im Grunde alle Welt einig ist, gar nicht zu reden von den Allerweltsphilosophen, den Moralisten und andren Hohlköpfen, Kohlköpfen – erscheinen bei mir als Naivitäten des Fehlgriffs: Zum Beispiel jener Glaube, dass »unegoistisch« und »egoistisch« Gegensätze sind, während das Ego selbst bloß ein »höherer Schwindel«, ein »Ideal« ist …«
Die vorliegende Anthologie ist thematisch geordnet und richtet sich an Leser, die Nietzsches Gedankenwelt kennenlernen wollen. Man wird schnell feststellen, dass Nietzsche im Gegensatz zur verbreiteten Vorstellung ein Philosoph ist, den auch der philosophische Laie verstehen kann und dessen Lektüre weniger Kopfzerbrechen als Vergnügen bereitet. Sein Denken übte und übt gerade deshalb einen so großen Einfluss aus, weil er die »edle Oberflächlichkeit« (Oswald Wiener) der Dinge betont und nicht in der Tradition der idealistischen Philosophie die vermeintlich »wirkliche« Welt hinter der »scheinbaren« Welt sucht.
Der Verlag
Es ist immer wieder vorgeschlagen worden, sich Nietzsches Philosophie über den Begriff des »Lebens« zu erschließen. Nietzsches Lehrmeister Arthur Schopenhauer ging davon aus, dass das Leben etwas sei, das eigentlich nur Leid hervorruft und besser gar nicht existieren sollte. Gegen diesen pessimistischen Ansatz wendet sich Nietzsche mit einer radikal lebensbejahenden Philosophie: Alles was ist, was gedacht oder getan wird, hat sich für Nietzsche in den Dienst des Lebens zu stellen. Da Nietzsche mit »Leben« aber mehr meint, als bloße organische Existenz, hat sich das Lebendige wiederum nach »Schönheit« (oder sagen wir besser einer »Ästhetik«) bzw. einer selbstgewählten Ordnung zu richten. Diesem Primat des gelingenden Lebens ist so auch das Konzept von »Wahrheit« unterzuordnen. Wahrheiten, aber auch die damit zusammenhängenden Begriffe und Institutionen wie »Erkenntnis« und Wissenschaft haben für Nietzsche keinen Selbstzweck, sondern sind nur mögliche Mittel der Daseinsbewältigung. Sowieso ist für Nietzsche alles, was ihm als »Wahrheit« begegnet, suspekt. In Nietzsches Lebensphilosophie sind Wahrheiten immer das Produkt eines kreativen Aktes und immer das Resultat eines individuellen oder kollektiven Wollens, ein »Für-wahr-halten-Wollen« eines Vorurteils, das sich – im weitesten Sinne – aus einer politischen Agenda oder Ideologie speist.
In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mussten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.
Ich will, ein für alle Mal, Vieles nicht wissen. – Die Weisheit zieht auch der Erkenntnis Grenzen.
Vom Baum der Erkenntnis. – Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, – diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntnis nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann.
Wir nennen einen Menschen »ehrlich«. Warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! Das heißt wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die »die Ehrlichkeit« hieße, wohl aber von zahlreichen individualisierten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formulieren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: »die Ehrlichkeit«. Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X.
Letzte Skepsis. – Was sind denn zuletzt die Wahrheiten des Menschen? – Es sind die unwiderlegbaren Irrtümer des Menschen.
Es ist furchtbar, im Meere vor Durst zu sterben. Müsst ihr denn gleich eure Wahrheit so salzen, dass sie nicht einmal mehr – den Durst löscht?
Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiss zu führen versagt ist. Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.
Wahrheit. – Niemand stirbt jetzt an tödlichen Wahrheiten: es gibt zu viele Gegengifte.
Das Über-Tier. – Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Notlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irrtümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Tier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat deshalb einen Hass gegen die der Tierheit näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung des Sklaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu erklären ist.
Die gute und die böse Natur. – Erst haben die Menschen sich in die Natur hineingedichtet: sie sahen überall sich und Ihresgleichen, nämlich ihre böse und launenhafte Gesinnung, gleichsam versteckt unter Wolken, Gewittern, Raubtieren, Bäumen und Kräutern: damals erfanden sie die »böse Natur«. Dann kam einmal eine Zeit, da sie sich wieder aus der Natur hinausdichteten, die Zeit Rousseaus: man war einander so satt, dass man durchaus einen Weltwinkel haben wollte, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual: man erfand die »gute Natur«.
Der Taschenspieler und sein Widerspiel. – Das Erstaunliche in der Wissenschaft ist dem Erstaunlichen in der Kunst des Taschenspielers entgegengesetzt. Denn dieser will uns dafür gewinnen, eine sehr einfache Kausalität dort zu sehen, wo in Wahrheit eine sehr komplizierte Kausalität in Tätigkeit ist. Die Wissenschaft dagegen nötigt uns, den Glauben an einfache Kausalitäten gerade dort aufzugeben, wo alles so leicht begreiflich scheint und wir die Narren des Augenscheins sind. Die »einfachsten« Dinge sind sehr kompliziert, – man kann sich nicht genug darüber verwundern!
»Erkenne dich selbst« ist die ganze Wissenschaft. – Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen.
Wahrheit als Circe. – Der Irrtum hat aus Tieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Tier zu machen?
Gegen Bilder und Gleichnisse. – Mit Bildern, und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Deshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Überzeugende, das Glaublich-Machende nicht und fordert vielmehr das kälteste Misstrauen auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus: weil das Misstrauen der Prüfstein für das Gold der Gewissheit ist.
Soweit das Individuum sich, gegenüber andern Individuen, erhalten will, benutzt es in einem natürlichen Zustand der Dinge den Intellekt zumeist nur zur Verstellung: Weil aber der Mensch zugleich aus Not und Langeweile gesellschaftlich und herdenweise existieren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet danach, dass wenigstens das allergrößte bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. Dieser Friedensschluss bringt etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes rätselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an »Wahrheit« sein soll, das heißt, es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden, und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Kontrast von Wahrheit und Lüge.
Das Bewusstsein. – Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, dass ein Tier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nötig wäre, »über das Geschick«, wie Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband der Instinkte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im Ganzen als Regulator: an ihrem verkehrten Urteilen und Phantasieren mit offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Bewusstheit müsste die Menschheit zu Grunde gehen: oder vielmehr, ohne jenes gäbe es diese längst nicht mehr! Bevor eine Funktion ausgebildet und reif ist, ist sie eine Gefahr des Organismus: gut, wenn sie so lange tüchtig tyrannisiert wird! So wird die Bewusstheit tüchtig tyrannisiert – und nicht am wenigsten von dem Stolze darauf! Man denkt, hier sei der Kern des Menschen; sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprünglichstes! Man hält die Bewusstheit für eine feste gegebene Größe! Leugnet ihr Wachstum, ihre Intermittenzen! Nimmt sie als Einheit des Organismus! – Diese lächerliche Überschätzung und Verkennung des Bewusstseins hat die große Nützlichkeit zur Folge, dass damit eine allzu schnelle Ausbildung desselben verhindert worden ist. Weil die Menschen die Bewusstheit schon zu haben glaubten, haben sie sich wenig Mühe darum gegeben, sie zu erwerben – und auch jetzt noch steht es nicht anders! Es ist immer noch eine ganz neue und eben erst dem menschlichen Auge aufdämmernde, kaum noch deutlich erkennbare Aufgabe, das Wissen sich einzuverleiben und instinktiv zu machen, – eine Aufgabe, welche nur von denen gesehen wird, die begriffen haben, dass bisher nur unsere Irrtümer uns einverleibt waren und dass alle unsere Bewusstheit sich auf Irrtümer bezieht!
Das Unlogische notwendig. – Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweiflung bringen können, gehört die Erkenntnis, dass das Unlogische für den Menschen nötig ist, und dass aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in Allem, was dem Leben Wert verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, dass die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen.
Das Leben als Ertrag des Lebens. – Der Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntnis ausrecken, sich selber noch so objektiv vorkommen: zuletzt trägt er doch Nichts davon, als seine eigene Biographie.
Die Gefährlichkeit der Aufklärung. – Alles das Halbverrückte, Schauspielerische, Tierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale und Sich-selbst-Berauschende, was zusammen die eigentlich revolutionäre Substanz ausmacht und in Rousseau, vor der Revolution, Fleisch und Geist geworden war, – dieses ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung noch die Aufklärung auf das fanatische Haupt, welches durch diese selber wie in einer verklärenden Glorie zu leuchten begann: die Aufklärung, die im Grunde jenem Wesen so fremd ist und, für sich waltend, still wie ein Lichtglanz durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die Einzelnen umzubilden: so dass sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen der Völker umgebildet hätte. Jetzt aber, an ein gewaltsames und plötzliches Wesen gebunden, wurde die Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich. Ihre Gefährlichkeit ist dadurch fast größer geworden als die befreiende und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die große Revolutions-Bewegung kam. Wer dies begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, an sich selber, das Werk der Aufklärung fortzusetzen und die Revolution nachträglich in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen.
Aus der Erfahrung. – Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben.
Möglichkeit des Fortschritts. – Wenn ein Gelehrter der alten Kultur es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Kultur hat ihre Größe und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nötig, um dies zu leugnen. Aber die Menschen können mit Bewusstsein beschließen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegeneinander abwägen und einsetzen. Diese neue bewusste Kultur tötet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Tier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tötet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, – er ist möglich.
Der Störenfried in der Wissenschaft. – Die Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: Welches ist diejenige Erkenntnis der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt? Dies geschah in den sokratischen Schulen: durch den Gesichtspunkt des Glücks unterband man die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung – und tut es heute noch.
Es ist merkwürdig, dass dies der Intellekt zustande bringt, er, der doch gerade nur als Hilfsmittel den unglücklichsten, delikatesten, vergänglichsten Wesen beigegeben ist, um sie eine Minute im Dasein festzuhalten, aus dem sie sonst, ohne jene Beigabe, so schnell wie Lessings Sohn zu flüchten allen Grund hätten.
Intellekt und Moral. – Man muss ein gutes Gedächtnis haben, um gegebene Versprechen halten zu können. Man muss eine starke Kraft der Einbildung haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die Moral an die Güte des Intellekts gebunden.
Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.
Wir wissen immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt: denn bis jetzt haben wir nur von der Verpflichtung gehört, die die Gesellschaft, um zu existieren, stellt: wahrhaft zu sein, das heißt die usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrückt: von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen. Nun vergisst freilich der Mensch, dass es so mit ihm steht; er lügt also in der bezeichneten Weise unbewusst und nach hundertjährigen Gewöhnungen – und kommt eben durch diese Unbewusstheit, eben durch dies Vergessen zum Gefühl der Wahrheit.
Wenn jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es ebendort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der »Wahrheit« innerhalb des Vernunft-Bezirkes. Wenn ich die Definition des Säugetiers mache und dann erkläre, nach Besichtigung eines Kamels: »siehe, ein Säugetier«, so wird damit eine Wahrheit zwar ans Licht gebracht, aber sie ist von begrenztem Werte, ich meine, sie ist durch und durch anthropomorphisch und enthält keinen einzigen Punkt, der »wahr an sich«, wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, wäre.
Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst.
Der Mensch selbst aber hat einen unbesiegbaren Hang, sich täuschen zu lassen, und ist wie bezaubert vor Glück, wenn der Rhapsode ihm epische Märchen wie wahr erzählt oder der Schauspieler im Schauspiel den König noch königlicher agiert, als ihn die Wirklichkeit zeigt.
Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann, ohne zu schaden, und feiert dann seine Saturnalien.
Es gibt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch nebeneinander stehen, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraktion; der Letztere ebenso unvernünftig, als der Erstere unkünstlerisch ist. Beide begehren über das Leben zu herrschen: dieser, indem er durch Vorsorge, Klugheit, Regelmäßigkeit den hauptsächlichsten Nöten zu begegnen weiß, jener, indem er als ein, »überfroher Held« jene Nöte nicht sieht und nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real nimmt.
Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der tönerne Krug verraten, dass die Notdurft sie erfand: es scheint so, als ob in ihnen allen ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden sollte. Während der von Begriffen und Abstraktionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, außer der Abwehr des Übels, eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung.
Die Lüge. – Weshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen Leben die Wahrheit? – Gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtnis. (Weshalb Swift sagt: Wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt; er muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.) Sodann: Weil es in schlichten Verhältnissen vorteilhaft ist, direkt zu sagen: Ich will dies, ich habe dies getan, und dergleichen; also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als der der List.
Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. – Es ist das Merkmal einer höheren Kultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irrtümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen.
Nietzsches Vorstellung vom »Ich« ist recht modern. Er geht nicht von einer zentralen Anlauf- und Verarbeitungsstelle jeglichen Denkens und Erfahrens aus, sondern von einem recht diffusen, eng mit körperlichen Bedürfnissen und Stimmungslagen zusammenhängenden Sammelsurium an psycho-physischen Ebenen. In diesem Punkt kann er als philosophischer Vorläufer der Psychoanalyse eines Sigmund Freud, aber auch der modernen kognitiven Psychologie betrachtet werden. »Charakter« und »Ich« sind für Nietzsche stets im Wandel und durch mehr oder weniger »irrationale« Momente bestimmt.
Gedanken. – Gedanken sind die Schatten unserer Empfindungen, – immer dunkler, leerer, einfacher, als diese.
Müßiggang ist aller Psychologie Anfang. Wie? Wäre Psychologie – ein Laster?
Moral für Psychologen. – Keine Kolportage-Psychologie treiben! Nie beobachten, um zu beobachten! Das gibt eine falsche Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertreibendes. Erleben als Erleben-Wollen – das gerät nicht. Man darf nicht im Erlebnis nach sich hinblicken, jeder Blick wird da zum »bösen Blick«. Ein geborener Psycholog hütet sich aus Instinkt, zu sehn, um zu sehen; dasselbe gilt vom geborenen Maler. Er arbeitet nie »nach der Natur«, – er überlässt seinem Instinkte, seiner camera obscura, das Durchsieben und Ausdrücken des »Falls«, der »Natur«, des »Erlebten« … Das Allgemeine erst kommt ihm zum Bewusstsein, der Schluss, das Ergebnis: Er kennt jenes willkürliche Abstrahieren vom einzelnen Falle nicht. – Was wird daraus, wenn man es anders macht? Zum Beispiel nach Art der Pariser Romanciers groß und klein Kolportage-Psychologie treibt? Das lauert gleichsam der Wirklichkeit auf, das bringt jeden Abend eine Handvoll Kuriositäten mit nach Hause … Aber man sehe nur, was zuletzt herauskommt – ein Haufen von Klecksen, ein Mosaik besten Falls, in jedem Falle etwas Zusammen-Addiertes, Unruhiges, Farbenschreiendes. Sehen, was ist – das gehört einer andern Gattung von Geistern zu, den antiartistischen, den Tatsächlichen. Man muss wissen, wer man ist …
Fleiß und Gewissenhaftigkeit. – Fleiß und Gewissenhaftigkeit sind oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiß die Früchte sauer vom Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen.
Der richtige Beruf. – Männer halten selten einen Beruf aus, von dem sie nicht glauben oder sich einreden, er sei im Grunde wichtiger, als alle anderen. Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern.
Ziel und Wege. – Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel.
Das Empörende an einer individuellen Lebensart. – Alle sehr individuellen Maßregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den, der sie ergreift, auf; sie fühlen sich durch die außergewöhnliche Behandlung, welche jener sich angedeihen lässt, erniedrigt, als gewöhnliche Wesen.
Unwillkürlich vornehm. – Der Mensch beträgt sich unwillkürlich vornehm, wenn er sich gewöhnt hat, von den Menschen Nichts zu wollen und ihnen immer zu geben.
Phantasie der Angst. – Die Phantasie der Angst ist jener böse äffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat.
Gegen die Lobenden. – A.: »Man wird nur von Seinesgleichen gelobt!« B.: »Ja! Und wer dich lobt, sagt zu dir: du bist Meinesgleichen!«
Verschiedene Gefährlichkeit des Lebens. – Ihr wisst gar nicht, was ihr erlebt, ihr lauft wie betrunken durch‘s Leben und fallt ab und zu eine Treppe hinab. Aber, Dank eurer Trunkenheit, brecht ihr doch nicht dabei die Glieder: Eure Muskeln sind zu matt und euer Kopf zu dunkel, als dass ihr die Steine dieser Treppe so hart fändet, wie wir Anderen! Für uns ist das Leben eine größere Gefahr: Wir sind von Glas – wehe, wenn wir uns stoßen! Und alles ist verloren, wenn wir fallen!
Lachen. - Lachen heißt: schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen.
Bedürfnis. – Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Entstehung: In Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen.
Bescheidenheit. – Es gibt wahre Bescheidenheit (das heißt die Erkenntnis, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind); und recht wohl geziemt sie dem großen Geiste, weil gerade er den Gedanken der völligen Unverantwortlichkeit (auch für das Gute, was er schafft) fassen kann. Die Unbescheidenheit des Großen hasst man nicht, insofern er seine Kraft fühlt, sondern weil er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gewöhnlich beweist dies sogar den Mangel an sicherem Gefühl der Kraft und macht somit die Menschen an seiner Größe zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom Gesichtspunkte der Klugheit aus sehr zu widerraten.
Des Tages erster Gedanke. – Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne. Wenn dies als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vorteil bei dieser Änderung.
Der Denker. – Er ist ein Denker: das heißt, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind.
Anmaßung als letztes Trostmittel. – Wenn man ein Missgeschick, seinen intellektuellen Mangel, seine Krankheit sich so zurecht legt, dass man hierin sein vorgezeichnetes Schicksal, seine Prüfung oder die geheimnisvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so macht man sich sein eigenes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der Vorstellung über seine Mitmenschen. Der stolze Sünder ist eine bekannte Figur in allen kirchlichen Sekten.
Zum Lachen!. – Seht hin! Seht hin! Er läuft von den Menschen weg –: diese aber folgen ihm nach, weil er vor ihnen herläuft, – so sehr sind sie Herde!
Die Bettler und die Höflichkeit. – »Man ist nicht unhöflich, wenn man mit einem Steine an die Türe klopft, welcher der Klingelzug fehlt« – so denken Bettler und Notleidende aller Art; aber niemand gibt ihnen Recht.
Der Neidbold. – Das ist ein Neidbold, – dem muss man keine Kinder wünschen; er würde auf sie neidisch sein, weil er nicht mehr Kind sein kann.
Der Weg zum Glücke. – Ein Weiser fragte einen Narren, welches der Weg zum Glücke sei. Dieser antwortete ohne Verzug, wie einer, der nach dem Wege zur nächsten Stadt gefragt wird: »Bewundere dich selbst und lebe auf der Gasse!«. »Halt, rief der Weise, du verlangst zu viel, es genügt schon sich selber zu bewundern!« Der Narr entgegnete: »Aber wie kann man beständig bewundern, ohne beständig zu verachten?«
Die Ruhesuchenden. – Ich erkenne die Geister, welche Ruhe suchen, an den vielen dunklen Gegenständen, welche sie um sich aufstellen: Wer schlafen will, macht sein Zimmer dunkel oder kriecht in eine Höhle. – Ein Wink für die, welche nicht wissen, was sie eigentlich am meisten suchen, und es wissen möchten!
Immer in unserer Gesellschaft. – Alles, was meiner Art ist, in Natur und Geschichte, redet zu mir, lobt mich, treibt mich vorwärts, tröstet mich –: das Andere höre ich nicht oder vergesse es gleich. Wir sind stets nur in unserer Gesellschaft.
Ruhm. – Wenn die Dankbarkeit vieler gegen einen alle Scham wegwirft, so entsteht der Ruhm.
Der unveränderliche Charakter. – Dass der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heißt dieser beliebte Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrtümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.
Der Einflussreichste. – Dass ein Mensch seiner ganzen Zeit Widerstand leistet, sie am Tore aufhält und zur Rechenschaft zieht, das muss Einfluss üben! Ob er es will, ist gleichgültig; dass er es kann, ist die Sache.
Unbequeme Eigenschat. – Alle Dinge tief finden – das ist eine unbequeme Eigenschaft: Sie macht, dass man beständig seine Augen anstrengt und am Ende immer mehr findet, als man gewünscht hat.
Egoismus. – Egoismus ist das perspektivische Gesetz der Empfindung, nach dem das Nächste groß und schwer erscheint: während nach der Ferne zu alle Dinge an Größe und Gewicht abnehmen.
Zur Beruhigung des Skeptikers. – »Ich weiß durchaus nicht, was ich tue! Ich weiß durchaus nicht, was ich tun soll!« – Du hast Recht, aber zweifle nicht daran: Du wirst getan! In jedem Augenblicke! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Aktivum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer.
Verdruss des Stolzen. – Der Stolze hat selbst an denen, welche ihn vorwärts bringen, seinen Verdruss: Er blickt böse auf die Pferde seines Wagens.
Die Zwecke in der Natur. – Wer, als unbefangener Forscher, der Geschichte des Auges und seiner Formen bei den niedrigsten Geschöpfen nachgeht und das ganze schrittweise Werden des Auges zeigt, muss zu dem großen Ergebnis kommen: dass das Sehen nicht die Absicht bei der Entstehung des Auges gewesen ist, vielmehr sich eingestellt hat, als der Zufall den Apparat zusammengebracht hatte. Ein einziges solches Beispiel: und die »Zwecke« fallen uns wie Schuppen von den Augen!
Was ist Wollen! – Wir lachen über den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: »Ich will, dass die Sonne aufgehe«; und über den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt: »Ich will, dass es rolle«; und über den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt: »hier liege ich, aber ich will hier liegen!« Aber, trotz allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders, als einer von diesen Dreien, wenn wir das Wort gebrauchen: »Ich will«?
Was macht heroisch? – Zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehen.
Woran glaubst du? – Daran: dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen.
Was sagt dein Gewissen? – »Du sollst der werden, der du bist.«
Wo liegen deine größten Gefahren?. – Im Mitleiden.
Was liebst du an Anderen?. – Meine Hoffnungen.
Wen nennst du schlecht?. – Den, der immer beschämen will.
Was ist dir das Menschlichste?. – Jemandem Scham ersparen.
Was ist das Siegel der erreichten Freiheit?. – Sich nicht mehr vor sich selber schämen.
Zurückgebliebene und vorwegnehmende Menschen. – Der unangenehme Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen der Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen abweichende Meinungen gewalttätig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer früheren Stufe der Kultur zugehört, also ein Überbleibsel ist: Denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters; es ist ein zurückgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgenießt und kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt, sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, – das ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Kultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren, der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, möglichst entfernt von dem wilden Tier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Kultur, eingeschlossen wütet und heult.
Mit einem großen Ziele. – Mit einem großen Ziele ist man sogar der Gerechtigkeit überlegen, nicht nur seinen Taten und seinen Richtern.
Philosophisch gesinnt sein. – Gewöhnlich strebt man danach, für alle Lebenslagen und Ereignisse eine Haltung des Gemütes, eine Gattung von Ansichten zu erwerben, – das nennt man vornehmlich philosophisch gesinnt sein. Aber für die Bereicherung der Erkenntnis mag es höheren Wert haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformieren, sondern auf die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hören; diese bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Anteil am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres, beständiges, eines Individuum behandelt.
Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo einem geflucht wird.
Liebe als Kunstgriff. – Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereignis, ein Buch), der tut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran feindlich, anstößig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: So dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den größten Vorsprung gibt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nämlich der neuen Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punkt: Und dies heißt eben sie kennen lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine Restriktionen; jene Überschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken.
Es gibt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten Glaubens an eine Sache ist.
Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig dagegen, dass wir uns inzwischen »gebessert« haben.
Verkehr mit dem höheren Selbst. – Ein jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt, jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxieren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr verschieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie das, was sie in jenen Augenblicken sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demut vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: Sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird deswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: Jenes aber ist der Mensch selber.
Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles Utile nur als ein Fuhrwerk eurer Neigungen, – auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich?
Die Vertraulichkeit des Überlegenen erbittert, weil sie nicht zurückgegeben werden darf. –
Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntnis beinahe zum Lachen, wie zarte Hände an einem Zyklopen.
Leben und Erleben. – Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen – ihren unbedeutenden alltäglichen Erlebnissen – umzugehen wissen, so dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht trägt; während andere – und wie viele! – durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und Volksströmungen hindurch getrieben werden und doch immer leicht, immer obenauf, wie Kork, bleiben: So ist man endlich versucht, die Menschheit in eine Minorität (Minimalität) solcher einzuteilen, welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen: und in eine Majorität derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf jene umgekehrten Hexenmeister, welche, anstatt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen.
»Nicht dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube, hat mich erschüttert.« –
Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man nicht alle umarmen kann): Aber gerade das darf man dem Beliebigen nicht verraten. …
Ernst im Spiele