JÖRG MAGENAU

Brüder unterm Sternenzelt

Friedrich Georg und Ernst Jünger

Eine Biographie

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de

Klett-Cotta

© 2012 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Foto: © DLA Marbach

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital - die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93844-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10317-5

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2012 der Printausgabe.

INHALT

PROLOG

1 (LUFT)
Wilflingen 1996. Der Tod und die Toten. Uhren und die Zeit. Das Glück, einen Bruder zu haben. Käfer und Vögel. Gespräche und Wolken. Friedrich Georgs Tod.

I. MOOR

2 (WASSER)
Rehburg 1908. Garten und Vögel. Gemeinsames Lesen. Streifzüge. Sammeln und Träumen. Schuleschwänzen. Gärtner und Hausmädchen. Der Halleysche Komet.

3 (ERDE)
Wilflingen 1996. Kalte und warme Bäder. Metamorphosen. Gärten und Türen zur Unterwelt. Anemone und weiße Rose.

4 (FEUER)
Rehburg 1913. Flucht zur Fremdenlegion. Das Erdkundeheft. Der Fremde. Zug der Kraniche. Kriegsbeginn.

II. FELD

5 (FEUER)
Langemarck 1917. Der Krieg als Verzehr und als Mythos. Jagdlust. Die Rettung des Bruders.

6 (LUFT)
Wilflingen 1996. Käfersammlung. Man darf den Tod nicht verwackeln. Ordnung und Verfall. Zeckenbiss.

7 (FEUER)
Hannover 1918. Fieber. Nationalistischer Virus. Gegen Revolution und Demokratie. Rausch, Hexenprozesse, Untergang des Abendlandes. Masken und Dämonen.

III. STÄDTE

8 (ERDE)
Leipzig 1923. Juristerei und Zoologie. Abschied vom Militär. Wie man zum Schriftsteller wird. Heirat und unglückliche Liebe. Freikorps. Brüderbünde. »Aufmarsch des Nationalismus«.

9 (ERDE)
Wilflingen 1996. Hieronymus im Gehäus. Der Oberförster. Der Mann im Mond. Moderne Kriege. Kohl, Mitterrand und Hitler.

10 (WASSER)
Berlin 1928. Aggressionen und Wunder. Nationalistische Boheme. Stereoskopische Existenz und das Prinzip der Wiederkehr.

11 (WASSER)
Orebic´ 1932. Reisen ans Mittelmeer. Archaische Gegenwelt. Naturkunde: Meer, Mond, Fels, Fisch und Wein. Besichtigung des Totenreiches.

IV. GÄRTEN

12 (FEUER)
Berlin 1933. Reichstagsbrand. Machtübernahme Hitlers. »Totale Mobilmachung« und »Der Arbeiter«. Hausdurchsuchung. Goslar, Leisnig, Berlin. Klug ist, sich fernzuhalten.

13 (WASSER)
Überlingen 1937. Das Weinberghaus. Sommer der Liebe. Umzug nach Kirchhorst. »Marmorklippen« und Kriegsbeginn.

14 (FEUER, WASSER, ERDE, LUFT)
Wilflingen 1996. Fassungen des Glaubens. Konversion zum Katholizismus. Psalm 73. Annäherung. Das Elementare und die Elemente.

15 (LUFT)
Überlingen 1942. Seeuferklause. Das Federzimmer. Krieg im Garten. Verhör und Unberührbarkeit. »Die Perfektion der Technik« und »Griechische Mythen«. Der Fortschritt als Weltgeist.

16 (ERDE)
Leisnig 1943. Der Tod des Vaters. Die Vorschau. Kaukasisches Inferno. Pariser Boheme. Erdbeben in Überlingen. Hinrichtung. Depressionen. Der Prophet Jesaja.

V. HÖHLEN

17 (FEUER)
Paris 1943 /44. Apokalyptische Briefe. Erdbeeren in Burgunder. Bekräftigte Bruderschaft. Klausenbewohner. Distanzen. Die Friedensschrift. Opfer, Saat und Frucht. Ernstels Tod.

18 (LUFT)
Wilflingen 1996. Fliegende Fische.

19 (WASSER)
Überlingen 1945. Kriegsende. Erstes Wiedersehen. Auf dem Index. Im Westwind. Deutsche Schuld. Kriegsverbrecherprozesse. Honig und Hyazinthen.

20 (LUFT)
Überlingen 1949. Fastnacht. 50. Geburtstag. Umzüge. Verwandlungen. Vögel und Wein. Narren und Masken.

VI. WALD

21 (ERDE)
Wilflingen 1950. Vom Schloss in die Oberförsterei. Eberjagd. Freiheit des Waldgängers. Ruhm, Anerkennung, Selbststilisierung. Begegnungen mit Heidegger.

22 (WASSER)
Villasimius 1955. Sardische Heimat. Dämonen der Landschaft. Das Alte und das Neue. Zeit und Ewigkeit. Was ist konservativ? Krüge und Türpfosten, Nattern und Möwen.

23 (ERDE)
Wilflingen 1960. Depressionen. Bestrahlungen. Krebsinstitute. Grethas Tod. Annäherungen und Entfremdung. Hochzeit mit Liselotte Lohrer. Das große Schweigen.

24 (LUFT)
Wilflingen 1996. Adlerflüge.

VII. SEE

25 (WASSER)
Überlingen 1963. Seegfrörne. Übers Eis. Kuckucksrufe. Von der »Wiederkehr« zur »Vollkommenen Schöpfung«. Reib die Welt dir aus den Augen. Hummer in kochendem Wasser.

26 (FEUER)
Rom 1968. Jahrtausendträume. Die Ewige Stadt. Revolution in den Sternen. Studentenbewegung. Scheideweg und Zwille. Sand im Getriebe der Welt.

27 (ERDE)
Wilflingen 1996.

TAFELTEIL

DANK

Alle vier- oder fünfhundert Jahre ist ein Einbruch von Wildheit vonnöten, um die Welt neu zu kräftigen. Die Welt würde sonst an der Zivilisation zugrunde gehen. Wenn die Mägen gefüllt sind und die Männer nicht mehr vögeln können, brechen aus dem Norden sechs Fuß hohe Burschen ein. Heutzutage gibt es zwar keine Wilden mehr, aber die Arbeiter werden es sein, die in einigen fünfzig Jahren diese Aufgabe übernehmen. Man wird es die soziale Revolution nennen.

(Edmond und Jules de Goncourt,
Tagebücher, 3. September 1855)

PROLOG

1 (LUFT)
Wilflingen 1996

Er wartete nicht auf den Tod. Der Tod war immer schon da, war ein Bruder, ein guter Freund. Irgendwann würde er ihm die Hand reichen und hinübertreten auf die andere Seite der Dinge. Das wäre ein einfacher Vorgang, leichter noch als der Weg die Treppe hinab und hinaus in den Garten, wo unter der Blutbuche der Winterling blühte und die Krokusse ihre ersten Spitzen zeigten. Vielleicht ließ dieser Augenblick nur deshalb so lange auf sich warten, weil er ihn nicht fürchtete – seit jenem Tag vor bald achtzig Jahren nicht mehr, als beim Sturm auf Favreuil ein Geschoss seine Lunge durchschlug und er in den Graben und für einen Moment auch aus dem Leben und aus der Zeit stürzte. Es war kein Schmerz, es war nur Staunen, Leichtigkeit, Annäherung. Ein Glücksgefühl. Wer frei sein will, muss mit dem Tod ein Bündnis schließen. Die vernarbte Stelle zwei Zentimeter unter der rechten Brustwarze konnte er immer noch spüren, wenn er mit den verbliebenen Fingerspitzen darüber strich. Zwei Kuppen hatte er im Ersten Weltkrieg eingebüßt. Das Leben ist dazu da, verzehrt zu werden. Es lässt sich nicht aufsparen. Wenn der Tod kommt, zieht es die Fühlhörner ein.

In seinem Arbeitszimmer duldete er keine mechanischen uhren. Ihr Ticken hätte ihn in den Takt der Unruhe hineingezwungen, ihn umstellt, eingehegt, niedergehalten. Doch seine Gedanken und Träume sollten ausschweifen. Schreiben hieß, die Zeit aufzuheben. Nur seine Sanduhren, diese Stellvertreter des Elementaren, ließ er hier zu. In ihnen verrann die zugemessene Dauer sacht und nahezu lautlos. Dann drehte man sie um, und die Dauer wiederholte sich in ihrem Quantum. Das tat er jedoch nur noch selten, er hatte die Freude an diesem Spiel verloren, so dass sich immer wieder eine feine Staubschicht auf den Gläsern bildete. Sie standen auf dem Bücherregal zu seiner Rechten, in dem die neunundsiebzig Bände der Kirchenväter untergebracht waren. Die hatte er 1933, im ersten Jahr der »Lemurenherrschaft«, besorgt und sich gleich auf Tertullians Untersuchung der Seele gestürzt. Vanitas, schrieb er Jahrzehnte später, das wäre eine Sanduhr, gefüllt mit der Asche der Geliebten. So eine Uhr hätte er gerne besessen.

Auch jener Freitag der Dreizehnte lag schon mehr als dreißig Jahre zurück. Es war vor der Küste Sardiniens, in Blickweite des Sarazenenturms, als ihn beim Baden während eines aufziehenden Gewitters eine Strömung erfasste, die das nahe Ufer unerreichbar machte. Dort stand Liselotte, sein »Stierlein«, die er nach Grethas Tod geheiratet hatte, und winkte ihm zu wie von einer hell erleuchteten Bühne. Verzweifelt kämpfte er gegen den Sog des Meeres, schaffte es aber nicht, ihr näher zu kommen. Die Wellen warfen ihn wie ein Stück Holz hin und her, als wollten sie mit ihm spielen und ihn verhöhnen, bis ihn die Kräfte verließen. Als er aufgab, entrang sich ihm ein Schrei, der ihn entsetzte, da er nicht gewusst hatte, zu einem solchen Laut fähig zu sein. Das Tosen der brechenden Wellen konnte er damit nicht übertönen. So also ist das Ende, dachte er, als seine Füße plötzlich Grund fassten und er an den Strand taumelte, wo das Stierlein ihn in die Arme schloss und die Zeit, die stehengeblieben war, weiterlief.

So alt, wie er inzwischen geworden war, hatte er mit den Toten vertrauteren Umgang als mit den Lebenden. Die Lebenden waren knapp geworden, und sie würden verschwinden. Die Toten aber blieben mit ihm im Gespräch. Im Tod wurden die Menschen kenntlicher. In seinen Träumen begegneten sie ihm wie Urlauber auf der Straße. Der Tod nahm ihnen nichts weg, er fügte ihnen etwas hinzu. Er war nicht das Ende, und es ging auch nichts mit ihm zu Ende; die Toten veränderten sich, solange sie in der Erinnerung weiterlebten. Sie reiften heran und wurden milder, sie wuchsen in ihm und schlugen Wurzeln, sie rückten näher, auch wenn sie sich in der Zeit entfernten. Wir sind der wahre Totenacker, der wahre Totengrund, sagte er sich: Sie wollen in den Herzen bestattet sein.

Er sammelte Käfer, als ob sich den bizarren Formen und Farben ihrer Körper Nachrichten über die Herkunft des Lebens ablesen ließen. Er sammelte »letzte Worte«, als erlaubten sie einen Blick hinter den Vorhang, auf einen Schimmer des Geheimnisses, für das die Sprache nur das Wort »Jenseits« zur Verfügung stellte. Er war auf subtiler Jagd nach menschlichen Bekundungen über den Sinn der durchlebten Existenz, denn einen Sinn musste dieses Leben doch haben. Er schrieb die »letzten Worte«, die ihm zugetragen wurden, auf Karteikarten, die er alphabetisch ihren Sprechern zuordnete. Aber dann gab er diese Jagd wieder auf. Mehr als »Es ist vollbracht« ließ sich am Ende nicht sagen, Helleres als »Mehr Licht« konnte er nicht finden. Letzte Worte waren nicht weniger trivial und verworren als alle menschlichen Äußerungen. Seine Sammlung war eine Kuriosität, ein Anekdotenkabinett und kein Kompendium tiefer Wahrheiten. Sein eigenes letztes Wort, so hatte er im Scherz einmal bemerkt, würde lauten: »Bitte vorbeitreten zu dürfen!« Er wusste, dass man dies beizeiten diktieren muss. Nur dann behält man wirklich das letzte Wort.

An den Zimmerwänden hingen Schildkrötenpanzer, verknöcherte Echsen, Muscheln, Seeigel und ein Krebs, auch ein Bogen mit einem wie im Flug festgefrorenen Pfeil, ein Dolch, eine Schere, Landkarten. In einem Teller lagen Orden und Kastanien vom vorigen Herbst, die in die Hand zu nehmen er liebte, und der Splitter eines Meteoriten. Das Modell eines Segelschiffs erinnerte an längst vergangene Fahrten. Eine hölzerne Schlange reckte züngelnd ihren Kopf. Auf dem Fensterbrett wachten die Bilder seiner Toten. Es war eine ganze Kompanie, eine Geisterschar, von der es beständig herüberwisperte. Um sie zu besänftigen, zündete er dort eine Kerze an. Vor den Bildern hielt er in einem Ständer ein ganzes Sortiment von Spazierstöcken für die lange Wanderschaft bereit. An schmucklosen Gräbern orientalischer Friedhöfe hatte er bisweilen Witwen beobachtet, die im stummen Zwiegespräch mit ihren Toten die Lippen bewegten und wohl auch Antwort bekamen. So sprach jetzt er mit seinen Toten oder sie mit ihm. Dieses Gespräch hielt ihn am Leben, weit über seine Zeit hinaus. Er war mit ihnen durch unsichtbare Adern verbunden, ein Fluidum, das in Träumen und Bildern spürbar wurde.

Vater und Mutter, die Brüder, die Schwester, zwei Söhne und die Frau, von der er glaubte, sie sei die Ewigkeit selbst, waren ihm vorausgegangen. Nur er, der Unerschrockene, der hoch dekorierte Kriegsheld, blieb zögernd hinter der Linie zurück. Andererseits: Für jeden Kapitän ist es Ehrensache, als Letzter von Bord zu gehen. Wer über hundert wird, muss diesem Umstand gewachsen sein. Die Bilder seiner Nächsten standen nicht im großen Chor der Freunde am Fenster, sondern im Sekretär hinter Glastüren, zwischen allerlei Schmuckkästchen, Dosen aus Perlmutt, kleinen Vasen, Versteinerungen, Tellern und Tassen: ein Familienschrein. Links Gretha zwischen den Söhnen Alexander und Ernstel, in der Mitte die Mutter, ganz rechts Fritz, an die Seite des Vaters gerückt, anders als früher am großen, ausziehbaren Familientisch aus dunklem Eichenholz, der über alle elterlichen Umzüge hinweg stets derselbe geblieben war. Der Tisch wurde mit den Enkeln und den Jahren länger, so dass Fritz, der dem Vater von Anfang an gegenübersaß, sich immer weiter von ihm entfernte. Vom anderen Ende sah er, wie der Vater sich die Hände rieb und verkündete: »Ich werde hundert Jahre alt.« Jetzt hatten sie hinter Glas zueinandergefunden. Der Bruder, in Schal und Mantel gehüllt, machte auf der Fotografie einen kränklichen Eindruck und war deutlich älter als der Vater, der sich als kraftvoller Mann in der Blüte seiner Jahre präsentierte, mit Stehkragen und stolzem Blick. Der Vater verlangte Respekt. Der Bruder brauchte Liebe. Keinen vermisste er wie ihn, mit dem das Gespräch nie abriss. Fast nie.

Einen Bruder zu haben, ist ein Glück. So ein Bruder ist ein Geschenk. Das Gespräch mit ihm war der Maßstab für alle anderen Gespräche. Es war eine Form von Osmose, ein tiefenwirksamer und lebensnotwendiger Austausch von Substanz. Gemeinsam erlebten sie, was ein Gespräch ist und sein kann, und suchten dafür immer und überall die Nähe des anderen. »Ich glaube überhaupt, dass im Gespräch unsere bedeutendste Leistung liegt«, hatte er vor sehr langer Zeit an Fritz geschrieben. »Leider lässt sie keine Denkmäler zurück wie die Literatur oder die Malerei. Immer werden die gesamten Elemente einer Zeit in unzähligen Gesprächen bis in ihre feinsten Einzelheiten durchdrungen; in Gebilden, die so leicht und unbestimmt sind wie die Wolken und die doch alles Wasser in sich enthalten, das dann in den Strömen die Mühlen treibt und die Schiffe trägt. Dabei halte ich das Gespräch für umso wirksamer, je mehr es in sich selbst beruht und je weniger es die Geschäfte und Interessen berührt. Der Weltstoff wird hier gewissermaßen auf eine leichteste und luftigste Art zerpflückt und bearbeitet. Darin besteht der geistige Genuss, der sich sogleich verringert, wenn Absichten einspielen.« Und weiter: »Übrigens setzt das gelungene Gespräch eine geringe Differenz bei grundsätzlicher Übereinstimmung voraus, so wie beim Mikroskop, damit der Gegenstand hervortrete, die grobe Einstellung ruhen, die Mikrometerschraube dagegen spielen muss.« Ganz ähnlich verhielt es sich auch mit den Briefen, die sie sich schrieben, um Trennungen zu überwinden. Briefe waren ein Notbehelf, und doch hatte Fritz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Auswahl davon zusammengestellt und Abschriften herstellen lassen, für ihn, für sich, für die Nachwelt. »Ich hob nur das auf, was Lebensspuren enthält, die wiederzufinden mich vergnügen konnte«, schrieb er dazu. »Warum liest man Briefe gern? Weil in ihnen flüchtiger, fliehender, augenblicklicher Lebensgeist ist, weil zarte Konturen sich darin enthalten, die wie die Spuren der Vögel auf dem Schnee sind.«

Vögel. Natürlich. Vögel. Anders konnte es bei Fritz nicht sein. Sie waren seine Freunde. Sein Glück. Fritz wollte noch die Spuren der Vögel in der Luft nachzeichnen, er sprach mit den Vögeln, und er kannte sie alle, die vor seinem Fenster den Bodensee und den Himmel über dem See und die Wälder bevölkerten: Blassgans, Moorente, Nachtreiher, Kornweihe, Sperber, Kiebitz, Kuckuck, Kampfläufer, Wasserralle, Zwergschnepfe, Uferschnepfe, Pfuhlschnepfe, Regenbrachvogel, Austernfischer, Steinwälzer, Trauerschnäpper, Bruchwasserläufer, Schwanzmeise, Neuntöter, Erlenzeisig, Rohrammer und auch den seltenen Schlangenadler und den Schwarzen Milan. »Wo bin ich? Ich möchte zum Bodensee«, sagte er zuletzt. Da lag er auf dem Sofa in seinem Haus an der Seepromenade, blickte durch die offene Balkontür hinaus ins Licht, wo die Möwen kreischten und lachten und Segelboote vorüberglitten, sagte: »Heut ist die Schlacht von Breitenfeld«, und: »Jetzt müsste ich in China sein.« Und dann: »Ich habe noch nie eine Aktenmappe gehabt.« Abends trug er den Bruder, der ihm federleicht vorkam, ins Schlafzimmer hinauf – »Fast wie bei Langemarck!« –, legte ihn behutsam aufs Bett und las ihm, im Wechsel mit Schwägerin Citta, aus Hauffs Märchen vor. Fritz lächelte und hob matt die Hand. Sie sprachen nicht über die Lage. Sie ließen von Kind auf das Letzte unberührt.

Fritz. Dessen letztes, dem Traum entstiegenes Gedicht, »Im tiefen Granit«, sagte er immer wieder auf, um den Bruder herbeizurufen.

Dort entspringt die Granitquelle »Urzwang«.

Das ist die heilsamste aller Quellen.

Der Urzwang zwingt alle Übelkeit,

Alles Unwohlsein weg,

Alle Krankheit verschwindet.

Dort möchte ich sitzen und

Aus kristallenen Bechern trinken,

Bis aller Durst verschwunden ist.

Neben der Quelle »Urzwang«,

Die aus dem Rosengranit sprudelt,

Steht eine Wanne aus Rosengranit,

In die dunkle Granaten verstreut sind.

Die Wanne füllt sich mit kaltem Urzwang,

Aus dem Luftperlen und Silberbläschen emporsteigen.

Hin und wieder schaut ein Helfer zu mir herein,

Porphyrios genannt,

Und erquickt mich mit frischer Luft.

Wie immer, wenn er in der Seeuferklause zu Gast gewesen war, übernachtete er auch dieses Mal im Dachzimmer, das sie »Schwalbennest« nannten. Die Daten seiner Aufenthalte hier oben hielt er auf dem Passepartout eines kolorierten Stiches fest, der Blüte und Blatt einer Aloe vulgaris zeigte, und setzte sein aus den Initialen E und J zusammengefügtes Signum daneben. So wuchs am Bilderrahmen eine Liste der Jahre und der gemeinsamen Stunden am See. Die Liste blieb am Ende offen. Der letzte Besuch war nur noch mit der Vierzehn für den Ankunftstag bezeichnet. Kein Monat, kein Jahr, kein Datum der Abreise.

Als Fritz starb, war er bei ihm. Er saß an seinem Bett, um das sich die Familie des Bruders versammelt hatte: der als Sohn adoptierte Neffe Johannes, dessen Halbbruder Alexander und Dr. Korte als Arzt und Freund. Citta, deren Disteltherapie nichts mehr hatte ausrichten können, hielt Fritz’ Hände in den ihren. Seine Atemzüge wurden schwächer, und Fritz schien nichts davon zu bemerken, als um vier Uhr die Münsterglocke schlug und der Bruder sich neben ihm aufrichtete, ihn an den Schultern packte und schüttelte und ihn zum Entsetzen der Anwesenden mit seiner hellen, scharfen, kindlich erstaunten Stimme anbrüllte: was ihm einfalle, er solle bleiben, solle etwas sagen. Er schrie den Namen, schrie: Fritz!, schrie: Friedrich Georg!, schrie: Sag was und: Komm zurück! Es waren Kommandos eines Soldaten, der es nicht gewohnt ist, dass seine Befehle missachtet werden. Es war ein verzweifelter Kampf um eine Wiederkehr, vielleicht auch nur um letzte Worte für die Sammlung. Fritz öffnete noch einmal die Augen, blickte verwundert und ohne ihn zu erkennen auf den, der mit seinem Geschrei die Ruhe störte, und glitt stumm hinüber in den Tod. Seine letzten Worte lagen schon ein paar Tage zurück, er hatte sie zum Arzt gesprochen: »Lasst mich in Ruhe sterben.« Das letzte Wort, das er in sein Tagebuch schrieb, war »Lindenblüte«.

Fritz trug nie eine Uhr und war doch immer pünktlich. In seinem Roman Der erste Gang hatte er einen »Uhrenbaum« erfunden. Das war ein alter, mächtiger Baum mit ausladenden Ästen, an denen Erhängte sacht im Winde schaukelten. Irgendwo im Osten. Der Mond erhellte die Nacht, so dass die Schatten der Äste und der hängenden Körper sich mitbewegten. Wie Zeiger hingen die Toten im Baum. Tot wie die Uhren. Friedrich Georg starb im Jahr 1977 am 20. Juli. Am Tag nach seiner Geburt am 1. September 1898 hörte der Vater, auf dem Weg zum Standesamt, um den Sohn registrieren zu lassen, wie auf dem Welfenplatz in Hannover die Kanonen feuerten, zu Ehren des Kaisers und des Reiches und des heiligen Sieges. Der Sedantag wurde gefeiert. Es war eine andere Epoche, eine versunkene Welt. Da kamen sie her.

Was weiß einer, der älter ist als sein Jahrhundert, von der Zeit und von den Zeiten? Wem gehört die Zeit? Was wird sichtbar? Als er 1895 geboren wurde, entdeckte Röntgen seine Strahlen und die Brüder Lumière erfanden den Kinematographen. Aus Technik und Wissenschaft entstand Magie. In Fritz’ Geburtsjahr begann mit Émile Zolas »J’accuse« die Dreyfus-Affäre, die die Figur des modernen Intellektuellen hervorbrachte. Er konnte zurückblättern im Tagebuch und die Seiten, die er beschrieben hatte, überschlagen. Der Bruder war nun bald zwanzig Jahre tot. Gestern Abend war Schlachtfest im Löwen. In der Nacht hatte er unruhige Träume gehabt und sich unter der Decke geborgen, in der er sich wie in einer Höhle verkroch. Nur ein kleines Luftloch blieb frei. Der Schlaf war sein Unterstand. Und wenn er müde war, war das mehr als die Müdigkeit einer Nacht. Er schraubte den Füllfederhalter zu und wusste, dass er ihn nicht mehr öffnen würde, egal, wie viele Tage ihm noch blieben. Hundert verweht, das musste reichen. Hinter das Wort »anfällig« setzte er den Schlusspunkt. Er würde jetzt in den Garten gehen, dann zum Weiher hinüber und nach den Schwänen sehen. Es war der 17. März 1996, der vierte Sonntag der Fastenzeit, zwölf Tage vor seinem einhundertundersten Geburtstag.

I. MOOR

2 (WASSER)
Rehburg 1908

Am Anfang ist das Wort. Doch vor dem Wort liegt das Paradies, und das Paradies ist ein Garten, in dem man nicht reden muss. Wer sich dort aufhält, erkennt es nicht. Erst wenn es, wie jedes Paradies, verloren ist, sehnt er sich danach zurück und versucht, es andernorts nachzubauen. Gelingt das nicht, dann kann er böse werden.

Am Anfang stehen die beiden in kurzen Hosen im Garten hinter dem Haus. Fritz biegt die Zweige des Fliederstrauchs auseinander, Ernst steckt den Kopf hindurch und erkennt im Halbdunkel des Gebüschs ein Nest. Vier winzige nackte Wesen hocken dort und sperren ihre gelben Schnäbel auf. Auch im Wacholder sind Nester verborgen, hinter der Schlingrose brüten die Drosseln, die Rotschwänzchen wohnen unterm Giebel des Gartenhauses. Fritz hat die Vögel belauscht, ist ihren Flugwegen gefolgt und hat so die Verstecke aufgespürt. Er kennt auch den Schlafplatz des Käuzchens unterm Schornstein und die Nisthöhle des Kleibers in der alten Eiche, die mit ihrem dichtbelaubten Blätterdach alle anderen Bäume und auch das Haus überragt. Bevor er seinem Bruder die Zimmer zeigt, führt er ihn durch den Garten, in dem er schon viele Stunden verbracht hat. Die Heide reicht dicht an das Grundstück heran. Eine Pforte an der Seite führt auf einen Feldweg, den sie im Hundetrab entlanglaufen bis zum Mühlenberg, wo die Brombeeren blühen. Ganz außer Atem kommen sie dort an. Der Blick reicht hinüber zum Steinhuder Meer mit der Insel Wilhelmstein. Auch den Meerbach mit seinem dunklen, stockenden Wasser, die Sümpfe, Bruchwiesen und Moore sieht Ernst von hier aus zum ersten Mal.

Ernst traf 1908 mit einem halben Jahr Verspätung in Rehburg ein. Er hatte erst noch das Schuljahr in Braunschweig abschließen müssen. Nach dem Desaster in Hannover – sogar in Betragen hatte er dort eine Fünf bekommen, angeblich das schlechteste Zeugnis, das am Lyzeum II jemals ausgestellt worden war, »Versetzung vollkommen ausgeschlossen!«, wie er später nicht ohne Stolz zu Protokoll gab – und dem Wechsel auf eine sogenannte Knabenpresse besuchte er in Braunschweig mit relativem Erfolg die Oberrealschule. Seine Literaturkenntnisse wirkten sich dort zu seinen Gunsten aus. Bis elf Uhr in der Nacht nutzte er zum Lesen das Licht der Gaslaterne vor dem Haus, indem er sich mit dem Buch in der Hand ans Fenster stellte. In Hannover hatte er sich zum Lesen nachts heimlich ins Wohnzimmer geschlichen und den Kerzenhalter angezündet. Da standen auch Vaters Rum- und Arrakflaschen, aus denen er sich bediente, indem er einen Schuss Alkohol auf einen mit Zucker gefüllten Löffel goss. Das hielt ihn wach.

In Rehburg erwarb der Vater 1907 für 120.000 Mark die herrschaftliche Villa eines insolventen Fabrikanten, so dass die Familie wieder einmal umziehen musste. Ernst war 1895 in Heidelberg geboren worden, noch bevor die Eltern geheiratet hatten, Fritz und die Schwester Hanna dann schon in Hannover und unter bürgerlich ordnungsgemäßem Eheverhältnis. Als der Vater 1902 in Schwarzenberg im Erzgebirge die Apotheke übernahm, zog die Familie nach Sachsen und ein paar Jahre später, nach dem gewinnträchtigen Verkauf der Apotheke, zurück nach Hannover, wo Hans geboren wurde. Und nun von der Stadt aufs Land, und wieder gab es dazu einen neuen kleinen Bruder: Wolfgang. Hier würden sie jetzt aber bleiben, versprach der Vater, der mit Kali-Aktien so viel Geld verdient hatte, dass er sich zur Ruhe setzen konnte. Er wollte sich um das Anwesen mit dem parkartigen Garten kümmern und seiner Leidenschaft, dem Schachspiel, nachgehen. Jenseits der vierzig sollte niemand mehr arbeiten müssen, pflegte er zu sagen, dann sollte man sich nur noch seinen Neigungen widmen. Fritz und Ernst imponierte diese Sicherheit. So wollten sie es später auch einmal halten. Noch besser wäre es allerdings, mit dem Arbeiten gar nicht erst anzufangen.

Draußen fühlte Fritz sich am wohlsten – und oben in seinem Vogelzimmer unterm Dach. Wenn er später daran zurückdachte, sah er es vor sich, wie es im Sommer morgens aufleuchtete, wenn in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen die Staubkörnchen tanzten. In der Baumkrone überm Dach versammelten sich vom Frühjahr bis zum Herbst die Stare und zogen ihren Nachwuchs auf. Sie schwätzten und plapperten durcheinander, sie lärmten und brausten, schnalzten und pfiffen und weckten ihn in aller Frühe. Er passte sich dem Rhythmus der Vögel an, lebte mit ihnen und nahm sie in seine Träume auf. Die Wände seines Zimmers hatte er mit Vogelbildern geschmückt. Ein in die Wand eingebauter Schrank nahm die Kostbarkeiten seiner Sammlungen auf. Er verwahrte sie in eisernen Kassetten, deren Inhalt er Ernst stolz präsentierte: Federn und Eier, Steine und knotige Wurzeln. Brehms Vogelkunde stand griffbereit daneben.

Viele Bücher lasen sie zusammen. Am liebsten saßen sie dabei unten im prächtigen, mit Schnitzereien und Intarsien geschmückten Jagdzimmer, dessen bemalte Fenster idyllische Waldszenen zeigten. An einem Wasserlauf im goldenen Abendlicht stand ein Fuchs, der mit glühenden Augen über die Schulter zurück ins Zimmer blickte, als wolle er wissen, ob ihm von dort aus jemand folge. Von oben schossen zwei Waldschnepfen im Sturzflug herab. Auf dem anderen Fenster zeigte sich scheues Rotwild, fluchtbereit am Waldrand unter Birken. Zum Lesen hatten sie eine eigene Technik entwickelt. Das Buch in der Mitte zwischen sich auf dem Tisch, saßen sie eng nebeneinander und blätterten in regelmäßigem Gleichtakt um. Mal war der eine mit Blättern dran, mal der andere; sie funktionierten wie ein Metronom, so versunken waren sie. Das Lesetempo musste exakt aufeinander abgestimmt sein, und zwar so, dass ihre Augen gleichzeitig Wort für Wort berührten und sie jedes Stocken und Verweilen des anderen ahnten. So richteten sie sich parallel zueinander aus. Wenn wir lesen, sind wir wie zwei Geraden, bemerkte Fritz einmal, doch schneiden sie sich nicht erst im Unendlichen, sondern gleich hier, in Sichtweite, in den Büchern. Lesen setzt die Regeln der Mathematik außer Kraft, behauptete Ernst. Wir schneiden uns nicht, wir sind verbunden. Wir tauchen mit unserem Phantasiestrahl in eine gemeinsame Welt ein. Dorthin kann uns niemand folgen.

Sie lasen Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde, entzifferten mit Professor Lidenbrock und seinem Neffen Axel die Geheimschrift Snorri Sturlusons und brachen mit den beiden auf nach Island und zum Vulkan Snæfellsjökull. Sie lasen Gullivers Reisen und immer wieder die Geschichten aus Tausend und einer Nacht. Der allem Vergänglichen so tränenreich nachtrauernde Emir Mûsa aus der »Geschichte von der Messingstadt« blieb zeitlebens einer der Lieblingshelden von Ernst. Mit dem Lederstrumpf begegneten sie Chingachgook und beklagten seinen Tod. Robinson Crusoe folgten sie in afrikanische Gefangenschaft und retteten sich an seiner Seite als Schiffbrüchige auf die namenlose Karibikinsel im Mündungsgebiet des Orinoco. Fritz fürchtete sich beim Anblick des dunklen Wilden, der auf dem Buchumschlag abgebildet war, doch das Meer, das die Insel umgab, tröstete ihn. In der Nähe von Wasser konnte ihm nichts passieren; wo Wasser war, da war auch das Glück. Das früheste Bild, an das er sich erinnerte, war ein Badeausflug mit den Eltern. Auf einem Teich glitzerte das Sonnenlicht, und er streckte die kleinen Händchen aus, um danach zu greifen. Neben dem großen Bruder verlor er alle Angst. Nachts schlich er gemeinsam mit Hanna zu ihm hinüber. Dann hockten sie auf seinem Bett, und Ernst erzählte von seinen Abenteuern bei den Ameisen. Als Däumling drang er in deren burgartige Behausung vor und kämpfte, ein einsamer Ritter, immer wieder aufs Neue siegreich gegen die überlegene Armee der Insekten.

Der Großvater hatte, wie im 19. Jahrhundert üblich, Blätter und Blüten für sein Herbarium gesammelt. Der Vater, botanisch gebildet und naturwissenschaftlich orientiert, war zur Chemie übergegangen und hatte sich damit beschäftigt, bestimmte Stoffe aus Pflanzen zu extrahieren, wie zum Beispiel Kumarin aus Waldmeister. Den Söhnen schenkte er zu Weihnachten eine Fangausrüstung und dazu Fleischers Der Käferfreund, eine praktische Anleitung zum Sammeln und Bestimmen von Käfern. Es war ein pädagogisches Geschenk: Die Mutter fürchtete, die beiden Ältesten würden wie der Vater zu viel Zeit aufs Schachspiel verschwenden, und dem Vater waren die Buchfluchten der Söhne suspekt. Die Ausrüstung bestand aus Netz, Nadeln, äthergefüllter Fangflasche und einem mit Torf ausgelegten Sammelkasten. Das war nicht viel, aber es war ein Anfang.

Das Steinhuder Meer war zugefroren, so dass die Moore und die schwimmenden Wiesen zugänglich wurden. Mit der Axt in der Hand zogen sie los, klopften morsche Baumstümpfe auf und sammelten ein, was sich darunter verbarg: metallisch schimmernde Wesen, frisch aus der Puppe geschlüpft und vom Licht noch unberührt. Oder sie hieben Löcher ins Eis und holten mit dem Käscher Wasserkäfer heraus. Fritz kam es so vor, als hätte der Bruder den Adlerblick Lederstrumpfs. Ernst sah die Beute schon, bevor Fritz sie auch nur ahnte, und gab dazu knappe Kommandos. Fritz befühlte das vereiste Moos. Die Finger schmerzten im Frost, und das Gesicht brannte. Er lauschte den Klängen des Schilfrohrs, das klirrte wie aneinanderschlagendes Glas. Der Meerbach war unter einem Eispanzer verschwunden. Schwärme schwarzer Krähen kreisten in der Luft. Die Bäume streckten ihre dunklen Äste in den Himmel. Leer und verlassen lagen darin die Nester. Das war ihr Winter, an dem sich alle späteren zu messen hatten.

Im Sommer wateten sie nackt durch die sumpfigen Wiesen, streiften auf gefährlichen Wegen durchs Moor, rieben sich gegenseitig mit Schlamm ein, um sich vor Mückenstichen zu schützen, und grinsten sich an mit ihren schwarzen Gesichtern. Ernst sah aus wie einer der Menschenfresser im Robinson Crusoe, schnitt Grimassen und machte schmatzende Geräusche. Sie durchsuchten die Schlehenhecken nach Elsternestern und stahlen den Vögeln die Eier. Sie wateten durch Bäche und stelzten auf Stangen durch den Uferschlamm, um die Aalreusen der Fischer auszunehmen. Sie fingen Weißfische mit der Hand und schlugen mit Knüppeln nach dem Hecht.

Heimat ist da, wo man noch nicht war. Heimat ist aber auch dort, wohin man nicht mehr zurückfindet. Und es kann sein, dass sie beides zugleich ist. Als Friedrich Georg in seiner Autobiographie die Kindheit als Heimat entwarf, war er fast fünfzig Jahre alt und zwei Weltkriege davon entfernt. Während draußen die Bomben fielen, nahm die Kraft der Erinnerungen zu und wuchs sich zur Idylle aus. Nicht die spröde Strenge des Vaters, nicht die Ängstlichkeit und Schwermut, nicht die Enge der wilhelminischen Welt färbte die Betrachtungen über die Vergangenheit ein, sondern das Glück, das es so vielleicht nie gegeben hat. Rehburg wurde zur Insel in der Zeit, auf der er sicher und aufgehoben war. Doch auch wenn das im Rückblick entstandene Bild stilisiert ist, ist es deshalb nicht falsch. Stilisierung ist das ganze Leben. Es gibt keinen Grund, es besser wissen zu wollen und eine andere, kritische Wahrheit dagegenzusetzen. Der schwere Kampf um die Anerkennung des Vaters: zweifellos. Eine Kindheit zum Kriege: Ja, das war sie auch. Aber das Kind wusste nichts davon. Und als es davon wusste, war es begeistert. Fritz schrieb sich später die Kindheit zurecht, die er benötigte, um sein Leben darauf zu gründen. Ernst dagegen blieb immer das Kind, das er war. Er lebte seine Kindheitsphantasien noch im Alter aus, wenn er mit seinen Sekretären im Wilflinger Steinbruch Feuerchen entzündete und in die Flammen blies oder mit Steinen auf vorstehende Felsnasen warf, bis sie herunterbrachen.

Einmal drangen sie in den stillgelegten Stollen vor, wo Fledermäuse den Tag verdämmerten. Sie kletterten im Steinbruch herum und bestiegen die Ruine der abgebrannten Mühle auf dem Mühlenberg, sammelten Eulengewölle und Vogelfedern oder suchten auf dem Haarberg nach Mauerresten von Münchhausens Burg. Den Plätzen, die sie entdeckten, gaben sie Namen und trugen sie zu Hause in die Karte ihres Reiches ein. Im Fundbuch hielten sie alle wichtigen Beobachtungen fest, klebten Pflanzen und Federn ein, vermerkten die Fundorte und bestimmten die Tiere. Und Fritz schrieb die Ankunfts- und Abflugdaten der Zugvögel auf: Störche, Graugänse, Schwalben, Mauersegler, Kiebitze, Kraniche.

Das Benennen und Bestimmen war noch schöner als die Jagd selbst. Erst mit der Benennung nahmen sie die Beute in Besitz, erkannten sie als das, was sie war, ordneten sie ein, machten sie zum Teil eines Systems und eroberten sich so ihre Welt. Nur was erkannt war, blieb bestehen; nur was sich einfügen ließ, verwies auf den großen Zusammenhang. Dann hatte jedes Fundstück seinen Platz im Universum. Schon damals betrachtete Ernst die Käfer in ihrem unendlichen Formenreichtum weniger als Tiere oder als Lebewesen denn als wundersame Kunstwerke, Schnitzereien aus Horn, Jade oder Elfenbein. War ihr Glanz nicht reiner Schmuck, zwecklos und verschwenderisch schön? Sie waren wie die Muscheln des Meeres, wie die Früchte der Bäume. Nichts als Überfluss.

Die Vögel, von denen Fritz alles wissen wollte, ließen sich nicht sammeln. Vögel musste man aus der Ferne beobachten und versuchen, ihnen vorsichtig nahe zu kommen, ohne sie zu erschrecken. Man musste sie im Gedächtnis bewahren. Sie mussten leben, um schön zu sein, mussten die Flügel ausbreiten, ihre Stimmen erheben, und wenn sie starben, dann wurde ihr Gefieder stumpf. Den Käfern aber schien der Tod im Essigätherdunst nichts anzuhaben. Sie blieben geschmeidig und leuchteten auf, als wären sie dankbar für diese Verwandlung. Hält man sie gut in Schuss, dann dauert es eine Ewigkeit, bis sie zu buntem Staub zerfallen.

Die Schule in Wunstorf war fünfzehn Kilometer entfernt und nur mit der Meerbahn zu erreichen. Um den Zug nicht zu verpassen, mussten sie kurz vor sechs aufstehen, und sie kamen erst am späten Nachmittag zurück. Der weite Weg hatte immerhin den Vorteil, dass die Entschuldigung, den Zug verpasst zu haben, von den Lehrern akzeptiert wurde. Sie durften das nur nicht überstrapazieren, und sie machten es sich zur Regel, guten Willen dadurch zu beweisen, dass sie den Zug möglichst knapp verpassten und ihn noch abdampfen sahen. Der vergebliche Dauerlauf diente auch dann der Lockerung von Muskulatur und Gewissen, wenn sie statt der Schulsachen gleich das Angelzeug unterm Arm trugen und direkt weiterliefen zum Meerbach.

Jeder so gewonnene Tag war besser als ein in der Schule abgesessener Tag. Wenn Fritz den Vögeln vor den Fenstern des Klassenraumes hinterhersah, fühlte er sich wie in einem gläsernen Käfig, als wäre er einer der ausgestopften Kolibris in der Vitrine der Biologiesammlung. Der Körper hockte brav in der Schulbank, aber der Geist träumte sich hinaus. Im Unterricht fiel das nur auf, wenn er aufgerufen wurde und dann hochschreckte aus seinem Dämmer und nicht wusste, wovon die Rede war. Quälender verliefen die Turnstunden, wenn die Knaben den Gleichschritt übten und hintereinander durch die Halle marschierten. Da konnte man sehen, wenn einer nicht bei der Sache war und aus dem Takt kam. Der Turnlehrer schlich sich dann von hinten an, klatschte Fritz die flache Hand auf den Rücken und schleuderte ihn derb in die Wirklichkeit zurück, so dass er ins Stolpern geriet und zum Gespött der Kameraden wurde – Bauernjungs zumeist, mit denen er nicht viel zu tun hatte.

Ernst war geschmeidiger, beweglicher. Sein Körper machte alles mit, was man von ihm verlangte. Aber auch er träumte sich davon und wurde von den Lehrern aufgegeben. Er malte sich aus, in einer Welt ohne Menschen zu leben, in der nur noch er, Robinson, existierte. Oder er stellte sich vor, gemeinsam mit Eltern und Geschwistern in epochalem Schlaf zu liegen, aus dem sie nur alle hundert Jahre einmal erwachten zum Rundgang durch Haus und Garten. Er konnte auch nie die Vermutung abweisen, dass alles, was um ihn herum geschah, nichts als ein Theaterstück wäre. Die anderen Kinder auf dem Schulweg trügen ihre Ranzen nur bis hinter die nächste Ecke, wo sie sie abwerfen und sich lachend auf dem Boden wälzen würden. Die Lehrer waren Schauspieler, die festgelegte Texte repetierten, um ihn damit zu täuschen. Nur er selbst war wirklich in dieser großen Inszenierung, deren Regisseur ihm jedoch unbekannt blieb. Dieser Gedanke beunruhigte ihn jahrelang. Wenn alles nur Schein ist, was dann? In einem anderen wiederkehrenden Traum saß er als Trapper im Wilden Westen auf seinem Pferd und blickte reglos in die Ferne. Kein Härchen auf seinem Kopf bewegte sich, kein Muskel in seinem Gesicht zuckte, kein Windhauch ging, kein Regen durfte fallen, um das Bild nicht zu verwischen. Die dafür notwendige Konstruktion eines Glasdachs über der Steppe nahm ihn für viele Wochen in Anspruch. In seinen Träumen arbeitete er konzentriert und sorgfältig. Das machte ihn auf schmerzliche und lustvolle Weise einsam.

Auch Tagträume muss man sich leisten können. Sie sind ein Indiz dafür, dass man für die Bestellung der Wirklichkeit nicht selbst zuständig ist. Dafür gab es die Dienstboten. Sie besorgten die Ordnung der Dinge und waren, solange sie sich im Hause bewegten, so etwas wie natürliche Freunde der Familie. Der Vater beschäftigte einen Gärtner, die Mutter ein Hausmädchen. Der Gärtner wohnte im Erdgeschoss, in einem Zimmer gleich neben der Küche, wo Ernst und Fritz oft am Abend mit ihm zusammensaßen und auch noch Freunde mitbrachten. Das Hausmädchen bewohnte eine Kammer unterm Dach, als wäre sie von den Eltern dort oben absichtsvoll zum Wohl der Söhne plaziert worden. In ihrer Kammer roch es nach frischen Äpfeln, die sie in einer Schale am Fenster lagerte. Beim Gärtner lernten die Brüder, was man über Pflanzen wissen musste, alles über Erde, Kompost, Düngung, das Säen, Pikieren und Ausgeizen von Tomaten, den Schnitt von Obstbäumen und Sträuchern, die günstigste Anlage der Beete und das Okulieren der Rosen. Der Gärtner musste nicht nur den Park pflegen und die Wege harken, sondern kümmerte sich auch um die beiden Warm- und Kalthäuser im hinteren Teil des Gartens, wo Palmen, Gummibäume und Farne, Kamelien und zarte Teerosen gediehen. Fritz zog dort seine eigenen Pflanzen groß: Hyazinthen, Frauenschuh und die fleischfressende Drosera. Wenn er träumte, dann sah er sich durch einen verwilderten Resedengarten gehen, wo in den hoch aufragenden Blüten die Tautropfen glänzten. Und er summte die Verse vor sich hin: Stell auf den Tisch die duftenden Reseden, die letzten roten Astern trag herbei, und lass uns wieder von der Liebe reden, wie einst im Mai.

Das Hausmädchen hieß Paula. Nicht nur ihre Kammer, auch sie selbst roch nach frischem Apfel. Sie weckte am Morgen mit sanfter Stimme, bereitete das Frühstück vor, war immer gut gelaunt und immer da. So kam es Fritz jedenfalls vor, wenn er im Garten den Kopf auf ihren Schoß legte. Frauen mussten wie Mütter sein oder wie Schwestern und noch mehr. Auch in jener heißen Sommernacht, in der er in ihre Kammer schlüpfte und leise die Tür hinter sich schloss, wies sie ihn nicht zurück, so dass er glaubte, sie hätte auf ihn gewartet. Auch Ernst hatte sie nicht zurückgewiesen, der dem Bruder zuvorgekommen war. Ihre Bangigkeit, ihr Zögern, ihre geflüsterte Angst hatten etwas Erregendes, und dass sie kurz danach von einem Tag auf den anderen das Haus verließ, erschien beiden wie eine Folge dieser stummen, von Neugier getriebenen, hastigen Begegnungen, auch wenn sie nie darüber sprachen und glaubten, die Eltern hätten nichts bemerkt.

Afrika war das bevorzugte Traumland. Nach Afrika würden sie zusammen reisen. Sie würden den Dschungel durchqueren, riesige Spinnen fangen, Negerdörfer besuchen und dort am Feuer sitzen, Elefanten und Löwen jagen, auf Kokospalmen klettern. Ernst beschwor Fritz immer wieder, ihn zu begleiten, wenn er demnächst aufbrechen würde, um das freie Leben eines Landstreichers zu führen. Sie lasen Henry Morton Stanleys Expeditionsbericht Im dunkelsten Afrika, ein Geschenk der Großmutter, und Durch den dunklen Welttheil oder Die Quellen des Nils. Um sich abzuhärten und auf die tropischen Verhältnisse vorzubereiten, saßen sie stundenlang in der feuchten Hitze des Gurkenhauses im Garten. Wie dicke Würste hingen die Gurken um sie herum, deren erfolgreiche Zucht der Stolz des Vaters war. Ernst stopfte eine Pfeife mit schwarzem Bambus, einem kräftigen, übelriechenden Tabak. Tapfer zogen sie daran, wie sie es bei Sherlock Holmes gelernt hatten. Das würde auch in den Tropen helfen und sie vor Mücken und Fieber schützen.

Wirklicher waren einstweilen die Wälder, die Wiesen und die Ufer des Steinhuder Meeres. Hier störte sie niemand. Nur der Jagdaufseher schreckte sie gelegentlich auf, wenn er effektvoll aus dem Dickicht brach und sie verdächtigte, die Marder aus den Fallen befreit zu haben. Doch er konnte ihnen nie etwas nachweisen. Den Holzfällern sahen sie dabei zu, wie sie mit langen, dünnen Sägen Baumstämme durchschnitten. Zacke um Zacke fräste sich das Sägeblatt durchs Holz, so wie die Zeit Minute für Minute durchs Leben schnitt. Man durfte keine Angst davor haben. Auch nicht vor dem Bauern, der sie um ein Haar erwischt hätte, als sie sich in der alten Scheune am Weg nach Mardorf mit Kartoffeln bewarfen und es ihnen eben noch gelang, sich oben im Heu zu verstecken, während er fluchend und schimpfend unter ihnen herumpolterte. Und auch dann nicht, als sie vom Vater vierzig Mark bekamen für einen Ausflug in die Lüneburger Heide und er ihnen auftrug, das Stöhrkreuz hinter Soltau zu besuchen. Herrliche, herausgeputzte Welt der Erinnerungen. Der alte Schäfer Stöhr, so erzählte der Vater, war gestorben und wurde von Knechten im offenen Sarg zum entfernten Friedhof getragen. An der Stelle, an der nun das Kreuz steht – sie heißt »der Totengrund« –, brach ein Gewitter los. Die Knechte setzten die Leiche ab und sprachen davon, dass Stöhr oft gesagt hatte: Es ist Gottes Wille und Gottes Wetter. Da tönte es aus dem Sarg heraus: »Gott’s Will un Gott’s Wäer, dat seggt he noch; Gott help em to’n ewigen Leben!« Entsetzt rannten die Knechte davon, kehrten aber wenig später zurück. Sie fanden den Toten unverändert steif und kalt und stumm im Sarg liegen. Da hat wohl, sagte der Vater, ein Spaßvogel die Stimme des Toten imitiert. Oder aber er war nur scheintot und erwachte durch den Donner für einen letzten Atemzug. Als die Brüder das Kreuz im Totengrund erreichten, fürchteten sie sich. An die Geschichte erinnerten sie sich genau, doch die Erklärungen des Vaters hatten sie vergessen.

Auch als der Halleysche Komet am Himmel stand, hatte der Vater die nötigen Erklärungen parat. In der Zeitung stand, das Giftgas Dicyan werde freigesetzt, wenn der Schweif des Kometen die Erde berühre, und viele Menschen glaubten, das Ende der Welt stehe bevor. In Rehburg verschlossen die Nachbarn Türen und Fenster, im nahen Winzlar läutete die Kirchenglocke. Der Vater aber rief die Familie in der Nacht des 19. Mai 1910 in den Garten und zeigte ihnen das harmlose Lichtknäuel am Himmel. Die Mutter stand neben ihm mit dem kleinen Wolfgang auf dem Arm; Hanna, Hans, Fritz und Ernst umringten die Eltern. Nur Wolfgang wird den Kometen noch einmal sehen, wenn er in sechsundsiebzig Jahren wiederkehrt, prophezeite der Vater. Die Mutter dachte an den kleinen Felix, den sie am Tag nach Neujahr geboren hatte und der im März gestorben war.

Vom Ende des Jahrhunderts aus, mehr als achtzig Jahre später, sah der Alte dieses Bild so scharf und so deutlich vor sich, als wäre er selbst ein Komet, der klar und unverändert auf seiner Bahn durchs All zurückgekehrt war. Brüder unterm Sternenzelt. Die Zeit konnte dem Bild nichts anhaben. Lichtwellen kristallisierten sich zu Erinnerungen aus. Reglos standen die Figuren da und starrten mit zurückgelegten Köpfen nach oben. Auch sich selbst sah er so, als hätte er sich verdoppelt, vervielfacht in der Zeit und befände sich eben jetzt, nur ein paar Schritte entfernt, am Fuß der Treppe, die in elf sich nach unten verbreiternden Stufen von der Veranda des Rehburger Hauses in den Garten führte. Er war es, der den blasser gewordenen Kometen dann noch ein zweites Mal sah, und nicht Wolfgang. Wolfgang, der Jüngste, war der Erste von ihnen gewesen, der den Eltern nachfolgte, noch vor Hans, vor Fritz, vor Hanna.

3 (ERDE)
Wilflingen 1996

Der Vormittag war mild und windstill, die Sonne wärmte schon ein wenig. Wie jeden Morgen hatte er kalt gebadet. Fünf Grad Celsius. Die Kälte kräftigte ihn und wehrte Influenzaangriffe ab, doch dann brauchte er Licht und Wärme, wie eine Eidechse, die geschmeidig werden möchte. Fritz dagegen hatte sich in seinen letzten Lebensjahren angewöhnt, warme Bäder zu nehmen. Das Wasser erhitzte ein Ofen, den er mit eigenhändig gestapeltem Buchenholz speiste. Nur die durch dieses Buchenholz erzeugte Wärme war geeignet, dem Badewasser die richtige Beschaffenheit zu verleihen. Die Temperatur musste exakt siebenunddreißig Grad betragen, aber das war nicht alles. Entscheidend war vielmehr eine Qualität, die sich nicht messen ließ, die Buchenholzwärme, die das Wasser weicher und voller machte. Fritz konnte den Unterschied spüren.

Eine Woche vor dem Tod des Bruders hatte Ernst einen Traum, der ihm jetzt wieder in den Sinn kam. Er sah Fritz zusammen mit dem Philosophen Martin Heidegger an einem Waldrand entlanggehen. Er wunderte sich nicht darüber, obwohl Heidegger bereits im Jahr zuvor gestorben war. Die beiden hatten sich regelmäßig besucht und ausgetauscht. Friedrich Georgs Analyse der technischen Welt war eine Voraussetzung von Heideggers Technikkritik, und Heideggers Begrifflichkeit färbte auf Friedrich Georg so sehr ab, dass er zauberformelhafte Sätze schrieb, die direkt aus diesen Gesprächen hervorgegangen sein mussten. »Zu dem Abbilden, bei dem die Ahmung selbst abgebildet wird, gehört alles Abbilden einer Ebenbildlichkeit. Hier reicht keinerlei Geschicklichkeit hin. Dem, was wir Art nennen, geht immer die Abbildung eines Ebenbildes voraus. Jemand, der keine Art hat, bildet nicht ebenbildlich ab.« Im Traum sah er die beiden mit auf den Rücken gelegten Armen und mit ihren Gedanken befasst in den Wald spazieren. Ihr philosophisches Gespräch blieb ihm als distanziertem Betrachter unverständlich: ein fernes Gemurmel. Deutlich und aus nächster Nähe sah er jedoch die Biene, die sich auf Heideggers Nacken niederließ und ihren Stachel in die Haut des Philosophen bohrte, bis der im Schmerz nach ihr schlug. Das soll gut gegen Rheumatismus sein, sagte Fritz mit seiner melodischen Stimme und dem leichten Lispeln, das er nie ganz ablegen konnte. Darauf Heidegger, verärgert: Mehr wissen Sie mir dazu nicht zu sagen?