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Dorothea Böhme

Sauhaxn

Kriminalroman

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © eisnase / photocase.com;

© mollartwork – Fotolia.com und © asifthebes – sxc.hu

ISBN 978-3-8392-3976-6

Vergleicht man Städte mit Speisen, dann ist New York ein scharf gewürzter Hotdog mit vielen Zwiebeln. Bei Berlin liegt die Currywurst nahe, München klingt nach Weißwurst mit Senf und Wien nach Gulasch mit Knödeln.

Lendnitz ist Kartoffelbrei.

Es ruht genauso passiv neben den Karawanken wie Püree neben den Erbsen. Die Konsistenz ist auch ungefähr die gleiche: im Winter Schneematsch, im Sommer Regenschlamm. Der Altersdurchschnitt beträgt 53,3 Jahre. Die Teenager von Lendnitz denken mit Sehnsucht an die Landeshauptstadt Klagenfurt. Einige ganz Verwegene studieren die Zugfahrpläne nach Wien. Die Pensionisten träumen von einem Alterssitz am Wörthersee oder zumindest einem wöchentlichen Bingoabend im Pfarrheim.

Andere Aktivitäten sind seit der Schließung des Kinos und der Schwimmhalle kaum möglich, und wer die zwölfeinhalb Bücher der Stadtbibliothek schon gelesen hat, sollte sich dringend nach einem anderen Wohnsitz umsehen.

Lendnitzens ganzer Stolz ist das Schlosshotel, von den Einheimischen liebevoll ›Schmuckkästchen‹ genannt. Vor 20 Jahren war es in einer internationalen Zeitung als ›billige Alternative zum Schloss am Wörthersee in Velden‹ bezeichnet worden, inzwischen kann man jedoch keine Vergleiche mehr zu Kärntens High-Society-Hochburg ziehen. Im Schlosshotel geht es geruhsam zu. Von Glanz und Glamour weit entfernt, blättern die Blümchentapeten langsam von den Wänden und die alten Holzdielen knarren bei jedem Schritt.

Alles in allem ist das Leben in Lendnitz so aufregend, wie jeden Tag zerstampfte Kartoffeln zu essen. Es ist langweilig.

Todlangweilig …

Dienstag

 

Johann Mühlbauer, vor 19 Jahren in Lendnitz geboren und nun angehender Koch im Schmuckkästchen der Stadt, mochte Kartoffelbrei. Er fand es beruhigend zu wissen, dass man sich beim Essen von Püree nicht an einer Gräte verschlucken und ersticken konnte.

Es war Dienstagvormittag, es war Frühling, es war ein wunderschöner Tag und genau 11 Uhr und 15 Minuten. Exakt eine Viertelstunde nach Dienstbeginn stellte Johann sein Fahrrad am Hintereingang des Schlosshotels ab, drückte die Tür auf und machte sich bereit für den bevorstehenden Arbeitstag. Im schmalen Flur stieß er beinahe mit dem Souschef Harald Moschik zusammen.

»’tschuldigung«, keuchte Johann und verschwand schnell im Nebenzimmer, um sich umzuziehen.

Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, stieß Harald Moschik sie auch schon wieder auf. Moschik war einer dieser Menschen, die ihre Nase grundsätzlich in die Angelegenheiten anderer stecken mussten. Vornehmlich, um sich darüber aufzuregen.

Es war wahrscheinlich Moschiks Schicksal, solch ein unauffälliges Äußeres zu besitzen, dachte Johann. Er musste schreien, um wahrgenommen zu werden.

»Mit dieser Einstellung kommst du hier nicht weit, lass dir das gesagt sein!«, meckerte Moschik wie erwartet und stach Johann mit seinem erhobenen Zeigefinger fast ins Auge. »Wenn du es nicht schaffst, morgens pünktlich zur Arbeit zu kommen, brauchst du bald gar nicht mehr aufzutauchen.«

Es überraschte Johann nicht, dass keiner der anderen Köche Moschik leiden konnte. Wenn man es recht bedachte, mochten ihn die Kellner ebenfalls nicht. Während Moschik weiter schimpfte, öffnete Johann seinen Spind, holte die Kochjacke heraus und sah dabei Bruce Willis in die Augen. Er straffte die Schultern, drehte sich zu Moschik um und – gab nach. »Tut mir wirklich leid«, sagte er und fühlte Bruce’ vorwurfsvollen Blick im Nacken. Das Poster war der erste Schritt seines Plans zu mehr Mut und Entschlossenheit. Johann hoffte, dass Bruce’ Männlichkeit auf ihn abfärbte. Bisher blieb der erwünschte Effekt aus.

»Beeil dich gefälligst, es wartet eine ganze Kiste Brokkoli auf dich!«, beendete Moschik seine Schimpftirade und stapfte aus dem Zimmer.

Johann knöpfte die Kochjacke zu und verstaute seinen Rucksack im Schrank. Das nächste Mal würde er sich Moschiks Gemecker nicht kommentarlos anhören. Er würde Kontra geben und sich wie ein richtiger Mann verhalten. Seufzend schlug Johann seine Spindtür zu. Nächstes Mal.

»Ich bring dich um, du Schweinehund!«

Johann blinzelte erschrocken. Ein dicker, ihm unbekannter Mann gestikulierte in der Küche aufgebracht mit den Händen, während er wüste Beschimpfungen gegen den Chefkoch Karl Bachmaier ausstieß. Harald Moschik stand sichtlich verängstigt neben dem Herd, während sich der Chefkoch verwirrt am Kopf kratzte.

»Was soll denn das?«, fragte Bachmaier, als der tobende Dicke ein Brettchen mit geschnittenen Zucchini von der Arbeitsfläche fegte.

»Oh, ich sag dir, was das soll!«, schrie der Unbekannte. »Ich werd dich fertigmachen, Bachmaier. Ich werd dich fertigmachen, so wie du mich fertiggemacht hast.« Er schnappte sich einen Teller und warf ihn mit aller Wucht in Richtung des Chefkochs. Der duckte sich trotz seines Übergewichts geschickt, verlor aber einen Großteil seiner Nonchalance.

»Hey«, rief er empört und ging gleich vor der nächsten Attacke in Deckung.

»Kaputt geschuftet habe ich mich. Hast du gehört? Kaputt geschuftet für dieses Hotel«, brüllte der Dicke. »Ich war so dicht dran, dem Schlosshotel in Velden den Rang abzulaufen.« Er warf einen weiteren Topf nach dem Chefkoch, der inzwischen alle Mühe hatte, den heranfliegenden Geschossen auszuweichen. »Aber dann bist du gekommen und hast alles ruiniert.« Er schnaufte und trat gegen einen Mülleimer, der scheppernd zu Boden fiel.

Johann sah zu Harald Moschik, der sich bisher keinen Millimeter bewegt hatte. Blass war er geworden.

Wie war der Dicke eigentlich in die Küche gekommen? Der Hintereingang war doch immer abgeschlossen. Oh, oh. Johann fühlte, wie er ebenfalls blass wurde. Er hatte vergessen, die Hintertür abzuschließen. Es war seine Schuld.

»Du bist eine Beleidigung für das Schlosshotel! Eine Beleidigung für unsere ganze Zunft, du schmieriger, widerlicher Möchtegern-Koch! Du und deine krummen Geschäfte!«

Krumme Geschäfte? Was sollte das heißen? Wer war der Kerl überhaupt? Ein Teller traf den Chefkoch gegen die Brust.

»Hör mal zu, Seligmann«, begann Karl Bachmaier, »ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.« Aha, er kannte ihn, dachte Johann. Seligmann hieß der Verrückte also. Nur knapp wich der Chefkoch dem nächsten Geschoss aus. Diesmal war es ein Messer. Die Sache wurde heikel, fand Johann. Er überlegte, was er tun sollte. Was er tun konnte. Eine Chance, den Dicken aufzuhalten, hatte er nicht. Der Unbekannte schien zwar schon über 60 zu sein, doch besaß er mindestens das Dreifache seiner Körpermasse. Noch hatte dieser Seligmann ihn nicht gesehen und Johann hoffte, sich unbemerkt zurück nach draußen schleichen zu können. Von dort aus könnte er dann eine heldenhafte Rettungsaktion ganz im Stile Bruce Willis’ starten. Oder die Polizei rufen.

Doch auch in Harald Moschik kam jetzt Bewegung. Das war Johanns Verhängnis. Der Souschef löste sich aus seiner Erstarrung, wollte aus der Küche stürmen und prallte in der Tür heftig mit Johann zusammen. Beide gingen zu Boden und der wütende Unbekannte rastete endgültig aus.

»Ihr da«, schrie er. »Stehen bleiben!« Johann hielt sich die Nase und blickte auf. Der Dicke schnappte sich Johann und Moschik gleichzeitig, zerrte sie an ihren Kochjacken hoch und schubste sie durch die Küche.

»Sofort da rüber«, brüllte er und deutete ihnen, sich neben den Chefkoch zu stellen. Harald Moschik spielte Chamäleon und nahm das Weiß der Fliesen hinter ihm an und auch Johann musste schlucken. Er brauchte einen Moment, um seine Beine wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch Seligmann ließ ihm keine Zeit.

»Da rüber, hab ich gesagt!« Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung und Johann flitzte durch die Küche. Direkt neben Karl Bachmaier, zum Zentrum des Überfalls. Johann dachte an ›Stirb langsam‹ und wie Bruce Willis es dort allein mit zwölf Terroristen aufgenommen hatte. Barfuß und mit einem Feinripp-Unterhemd bekleidet.

Johanns Atem beschleunigte sich auf ungesunde Art und Weise, er konnte jeden einzelnen Herzschlag im Hals spüren. Es war seine Schuld, dass ein Irrer seinen Chef mit einer Waffe bedrohte. »Feigling«, rief eine kleine innere Stimme. Und dann: »Bruce Willis.«

Johann fasste einen schnellen Entschluss. Er hatte den Überfall erst möglich gemacht, nun wurde es Zeit, ein Held zu sein. Stirb langsam.

»Du hast es überhaupt nicht verdient, das Restaurant zu leiten. Gar nichts hast du verdient!«, kreischte Seligmann und entsicherte seine Pistole. Wo kam die denn so plötzlich her?

»Hey«, schrie Johann und sprang zur Seite, um die Aufmerksamkeit Seligmanns von seinem Opfer abzulenken. Unglücklicherweise stolperte er dabei über den Mülleimer, stieß gegen den großen Nudeltopf auf dem Herd und überschwemmte die Küche mit Salzwasser und glitschigen Spaghetti.

Seligmann wirbelte herum und drückte ab. Ob Johanns Ablenkungsmanöver oder mangelnde Treffsicherheit die Ursache gewesen war, konnte Johann nicht sagen. Bachmaier, der die letzten Minuten leise wimmernd in der Ecke gestanden hatte, fiel jedenfalls nicht tot zu Boden. Er schrie auf und floh in Johanns Arme. Dem blieb die Spucke weg, als 125 Kilo Chefkoch ihn zu Boden rissen. Immerhin lagen sie beide nun unter der Arbeitsfläche, außerhalb der Schusslinie.

Keuchend versuchte Johann, Bachmaier von sich herunterzuwälzen, während um ihn herum das Chaos seinen Lauf nahm. Harald Moschik fiel in Ohnmacht. Wobei er zunächst nach hinten gegen ein Regal stolperte und sämtliche Töpfe und Teller herunterriss, bevor er selbst mit dem Kopf an der Arbeitsfläche aufschlug und zu Boden rutschte.

Der dicke Seligmann fuchtelte weiter aufgeregt mit seiner Pistole in der Luft herum, um wieder Herr der Lage zu werden. »Klappe halten oder ich schieße!«, kreischte er. »Klappe halten!« Er drückte erneut den Abzug, es krachte und eine Kugel schlug in die Deckenlampe ein. Es knisterte, das Licht begann zu flackern und die Lampe fiel mit lautem Scheppern zu Boden, Seligmann genau vor die Füße. Vor Schreck machte der einen Satz zur Seite, landete in der Salzwasser-und-Nudel-Pfütze und geriet aus dem Gleichgewicht.

Entsetzt blickte Johann auf dessen hilflos wedelnde Hände. Er konnte gerade noch »Vorsicht« rufen, da war es auch schon zu spät. Ein weiterer Schuss löste sich, Johann zog den Kopf ein und plötzlich lag der dicke Seligmann direkt vor ihm auf dem Boden.

Eine Blutlache bildete sich unter seinem Kopf.

»Morgen! Was macht ihr hier für einen Lärm?«, rief jemand fröhlich und stieß die Schwingtür auf, die das Restaurant von der Küche trennte. Marko, der Kellner, betrat die Küche und blieb mit offenem Mund stehen.

Tief durchatmen, sagte sich Johann, tief durchatmen. Ihm war zum Heulen zumute. Eins, zwei, einatmen. Er versuchte, sich auf die Atmung zu konzentrieren. Es war alles seine Schuld. Drei, vier, ausatmen. Nein, war es nicht! Was konnte er dafür, wenn ein Irrer das Schlosshotel überfiel? Es machte auch niemand Bruce Willis dafür verantwortlich, dass er ständig in Terrorangriffe verwickelt wurde. Eins, zwei, einatmen. Aber Johann hatte den Überfall ermöglicht. Drei, vier, ausatmen. Deshalb hatte er helfen wollen. Eins, zwei, einatmen. Und entspannen. Erschwert wurde das allerdings durch Bachmaier, der Johann immer noch die Luft abdrückte. Trotzdem zählte er tapfer weiter. Er musste sich von der Katastrophe ablenken, die er mitverursacht hatte.

Außer dem Kellner, der immer mal wieder: »Was …?«, stammelte, war es in der Küche mucksmäuschenstill. Harald Moschik lag regungslos auf dem Boden, Seligmann ebenfalls. Karl Bachmaier rollte sich schließlich mühsam von Johann hinunter, womit dieser sich wieder ganz aufs Atmen konzentrieren konnte. Eins, zwei … Marko, der Kellner, zuckte über die Küchenbelegschaft die Achseln und widmete sich dann dem am Boden liegenden Seligmann. Dessen Blut vermischte sich mit dem Salzwasser und färbte den Küchenboden rosa. Und in diesem Gemisch ringelten sich die Spaghetti wie blasse Würmchen und ließen Johann an Maden denken, die nur darauf warteten, Seligmann aufzufressen. Johann wurde schlecht.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte Marko, der die ganze Sache offenbar weitaus distanzierter sah als Johann.

Atmen, sagte Johann sich. Eins, zwei. Es hieß heute zum zweiten Mal: Sei ein Mann!

»Es ist meine Schuld«, sagte er, wurde jedoch vom Chefkoch übertönt, der sich laut stöhnend den Arm hielt und heulte: »Ich brauche einen Krankenwagen! Einen Krankenwagen!«

Die Idee fand Johann ganz vernünftig, vor allem unter Berücksichtigung des bewusstlosen Moschiks und Seligmanns Blutlache. Außerdem war es eine günstige Gelegenheit, unangenehmen Fragen zu entkommen.

 

Keine fünf Minuten später waren Sirenen zu hören. Lendnitz war ein Nest. Weite Wege gab es nicht.

»Aus dem Weg«, riefen zwei Sanitäter, die mit einer Trage hereingestürzt kamen. Zwei Streifenpolizisten folgten ihnen, die Pistolen im Anschlag.

»Platz da!«, rief der jüngere Polizist, der seine Dienstwaffe enthusiastisch von einem zum anderen schwenkte.

Und da war er wieder, der Lauf einer Pistole, in den Johann zum zweiten Mal an diesem Morgen blickte.

»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte der ältere Polizist und wandte sich ausgerechnet an den Kellner. Johann bezweifelte, dass er von dem brauchbare Informationen bekommen würde.

»Wer hat geschossen? Wo ist der Verbrecher?« Aufgeregt lief der jüngere Polizist von einer Seite der Küche zur anderen. Seine Pistole hielt er weiterhin ausgestreckt in beiden Händen. Als deutlich wurde, dass keine unmittelbare Gefahr drohte, steckte er seine Waffe enttäuscht zurück ins Holster und verkündete: »Wir brauchen Ihre Zeugenaussagen.«

»Und ich brauch ’ne Pause«, murmelte Johann. Aber ihn fragte ja keiner.

Die beiden Sanitäter knieten sich neben Seligmann nieder, fühlten seinen Puls und stellten fest, dass sie nichts mehr tun konnten.

»Tot«, kommentierte einer der Sanitäter überflüssigerweise.

»Tödliche Schussverletzung im Kopfbereich«, präzisierte der andere. Zu seinem Kollegen sagte er: »Ruf den Notarzt, der muss sich den hier ansehen.« Sie wandten sich Moschik zu und klopften ihm auf die Wange. Bachmaier versuchte vergeblich, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er hielt sich immer noch den Arm und jammerte.

Schließlich dröhnte eine laute Stimme durch die Küche: »Ruhe! Was soll denn der ganze Lärm? Ruhe!«

Erleichtert atmete Johann so lange auf, bis er den Hauptkommissar der örtlichen Polizei erkannte. Mit einem Assistenten im Schlepptau betrat der die überfüllte Küche und Johann bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Mist, an die Polizei hatte er nicht gedacht, als er den Notruf wählte. Johann machte sich so klein wie möglich und hoffte das Beste. Es war Notwehr gewesen. Er hatte nur helfen wollen. Johann schielte vorsichtig in die Richtung des Kommissars und erntete einen durchdringenden Blick. Er schluckte und sackte in sich zusammen. Vielleicht würde ein umfassendes Geständnis strafmildernd wirken?

»Herr Hauptkommissar, ich möchte eine Aussage machen«, sagte Johann, wurde aber von dem Beamten unterbrochen.

»Nun mal langsam und immer der Reihe nach. Mein Name ist Reichel«, stellte sich der Hauptkommissar vor. »Was ist passiert?«

»Ich glaube«, begann Johann tapfer, wurde jedoch ein zweites Mal gestört. Diesmal durch den Lärm der Streifenpolizisten. Zumindest nahm Johann an, dass sie es waren, die im Zuge ihrer Spurensuche einen Topf nach dem anderen laut scheppernd zu Boden stießen.

Außerdem hatten es die Sanitäter mittlerweile geschafft, Harald Moschik wieder aufzuwecken, der nun mit Bachmaier um die Wette stöhnte.

»Ruhe, verdammt noch mal!«, donnerte der Kommissar. »Ich will endlich wissen, was hier los ist!«

Die Polizisten hielten in ihrer Durchsuchung der Küche inne und sogar Moschik und Bachmaier stellten das Jammern ein.

»Na also, geht doch. Huber, Sie nehmen die Personalien auf«, wies Reichel seinen Assistenten an. »Sie bringen die Verletzten ins Krankenhaus«, wandte er sich an die Sanitäter. »Sie halten die Klappe und bewegen sich nicht mehr«, sagte er zu den beiden Streifenpolizisten.

Er blickte sich um und fragte: »Gibt es ein Büro, in dem man sich in Ruhe unterhalten kann?«

Sein Assistent, offenbar ein aufmerksamer Mann, deutete auf das kleine Büro des Chefkochs am Ende der Küche.

»Wow, Mann, das war krass«, sagte der Kellner. Nachdem der Assistent von allen anderen die Personalien aufgenommen hatte, kam er mit den Händen in den Taschen zu Johann hinübergeschlendert. Johann, dem nach wie vor die Knie schlotterten, fand Markos lässige Haltung beneidenswert unangebracht. Marko hatte ebenfalls ein Bruce Willis Poster über dem Bett hängen, das hatte Johann gesehen, als Marko ihn einmal zu sich nach Hause eingeladen hatte. Johann hatte erfahren, dass Marko bei seinen Eltern wohnte und trotzdem Frauen kennenlernte. Vielleicht lag es daran, dass er regelmäßig ins Fitnessstudio ging. Marko war beim Thema Mut und Selbstbewusstsein sehr viel weiter als Johann.

Andererseits war Marko erst in die Küche gekommen, nachdem Johann seine heldenhafte Tat vollbracht hatte. Nachdem die Schüsse gefallen waren und nachdem die Bedrohung längst am Boden gelegen hatte. Tot. Johann zuckte mit den Schultern und sagte: »Du bist schließlich nicht mit einer Waffe bedroht worden.«

»Das war voll cool. Wie im Film.«

»Ein Mensch ist gestorben. Das war wie in einem ziemlich Furcht einflößenden Film.«

Marko zuckte mit den Schultern und grinste. »Trotzdem cool.«

Johann war sich nicht sicher, ob Marko wirklich so abgebrüht war oder den Ernst der Lage nicht erkannt hatte. Da in diesem Moment jedoch Moschik die Hände der Sanitäter beiseiteschlug und den Kommissar zu sprechen verlangte, konnte Johann nicht mehr antworten.

»Wo ist der Kommissar? Der Hauptkommissar? Ich bin Zeuge, jawohl!«, machte der Souschef sich wichtig und Marko verdrehte die Augen.

»So ein Trottel«, murmelte er.

Johann lächelte verkrampft. Ihm war nicht nach Lästern. Ihm war eigentlich nach gar nichts. Er wollte nur nach Hause.

»Aber Sie können doch nicht …«, sagte der erste Sanitäter entrüstet. Harald Moschik stieß entschlossen deren mehr oder weniger fürsorgliche Hände weg und stürzte ins improvisierte Kommissariatsbüro.

»Ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen.« Moschik knallte die Tür zu Bachmaiers Büro hinter sich zu.

Es dauerte nur wenige Minuten, dann stand er wieder in der Küche.

»Herr Mühlbauer?«, rief der Hauptkommissar und Johann zuckte zusammen.

Zögerlich ging er in Bachmaiers Büro. Dort hatte sich Hauptkommissar Reichel inzwischen häuslich eingerichtet. Sein Jackett hing über dem Drehstuhl, drei eng beschriebene Zettel und ein Handy lagen vor ihm auf dem Schreibtisch. Er hatte sich sogar ein Glas Orangensaft organisiert. Der Kommissar blickte Johann müde an und bedeutete ihm, sich zu setzen.

»Sie sind Johann Mühlbauer?«

Johann nickte unglücklich und Reichel schrieb etwas auf einen vierten Zettel. War er etwa schon schuldig gesprochen? Was hatte der Kommissar herausgefunden?

»Sie haben mit dem Einbrecher gemeinsame Sache gemacht, um ihren Chef Karl Bachmaier zu beseitigen?«

»Wa… was?« Johann fiel die Kinnlade herunter.

»Wie ich von einem Ihrer Kollegen erfahren habe, ist das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Ausbilder äußerst schlecht.«

Johann schüttelte hastig den Kopf. »Bachmaier kann niemand leiden. Nicht einmal der Moschik selber!«, sagte er. Einer Ihrer Kollegen, dass ich nicht lache, dachte Johann. Der Kommissar hatte außer Moschik niemanden vernommen.

»Außerdem hasse ich Bachmaier doch nicht«, fügte Johann schnell hinzu, während Reichel seine Augenbraue hob. »Warum auch? Ich kenn ihn ja noch nicht mal besonders gut.«

»Aber es stimmt, dass er Ihnen schlechte Noten gegeben hat?«, bohrte Reichel nach.

»Karotte kann ihn trotz guter Noten nicht leiden.«

»Karotte?«

»Der Lehrling im dritten Lehrjahr. Er ist im Moment im Urlaub.«

Der Hauptkommissar schrieb wieder etwas in seinen Block.

»Das Motiv liegt eindeutig eher bei Ihnen«, murmelte er.

Johann schloss die Augen. »Hören Sie! Ich hab diesen Einbrecher umgebracht, wie kann ich da sein Komplize sein?«

»Sie haben ihn umgebracht?« Reichel rutschte interessiert in seinem Stuhl nach vorn.

»Nein! Ich meine, das Nudelwasser war’s. Er ist ausgerutscht und hat geschossen und schließlich war er tot.« Johann spürte, wie sich in seinem Hals ein dicker Kloß bildete. »Verhaften Sie mich jetzt?«

Der Hauptkommissar legte den Kopf schräg und klopfte mit dem Kugelschreiber gegen sein Kinn. »Vielleicht waren sie tatsächlich Komplizen. Der Mord ist nicht nach Plan verlaufen und Sie wollten einen unliebsamen Zeugen loswerden?«, fragte er.

»Nein, nein, nein!«, antwortete Johann hektisch.

»Mir wurde gesagt, dass die Tür zum Hintereingang immer abgeschlossen ist«, setzte der Kommissar nach. »Jemand muss sie für den Täter absichtlich offen gelassen haben. Und da der Täter in die Küche gelangen konnte, nachdem sie als Letzter durch die Hintertür gekommen und im Umkleideraum gewesen sind …« Er ließ den Satz unvollendet in der Luft schweben.

»Das habe ich vergessen. Bestimmt, es war keine Absicht! Ich kannte den Seligmann überhaupt nicht.«

»Aha«, machte Reichel, »seinen Namen kennen Sie aber.«

»Ich … Bachmaier hat ihn so genannt. Er hat ihn angeredet. Ich hab den Mann vorher noch nie gesehen! Ich hab doch erst letztes Jahr meine Ausbildung angefangen.«

Der Kommissar nickte interessiert und Johann merkte, wie seine Stimme weinerlich wurde. »Sie glauben doch nicht, dass ich diesem Seligmann dabei geholfen habe, oder? Herr Kommissar, ich hasse Bachmaier nicht! Ich hasse niemanden.«

Reichel brummte noch einmal vor sich hin, lächelte dann und entließ Johann mit dem Satz: »Danke für Ihre Aussage, Herr Mühlbauer.«

Angespannt schloss Johann die Bürotür hinter sich. Was sollte er von diesem Gespräch halten? Er war beschuldigt worden, den Mord an Bachmaier geplant und, nachdem das nicht geklappt hatte, Seligmann umgebracht zu haben. Johanns Kopf fühlte sich an, als wäre er in dicke Watte gepackt. Es dauerte einen Moment, bis sich die Ungeheuerlichkeit dieser Anschuldigungen setzte.

Wie in Trance schlich Johann zurück in die Küche und prallte fast mit Harald Moschik zusammen, der mit verbundenem Kopf Anweisungen hierhin und dorthin schrie und sich in Bachmaiers Abwesenheit in der Rolle des Küchenchefs wichtig machte.

Tausend Fragen schwirrten Johann im Kopf herum, aber eine beschäftigte ihn am meisten: Was hatte Seligmann eigentlich gemeint, als er gesagt hatte, Bachmaier würde krumme Dinger drehen?

 

*

 

»Was hat Seligmann gemeint, als er Ihnen unterstellte, krumme Dinger zu drehen?«

Karl Bachmaier, Chefkoch des Schlosshotels Lendnitz, seufzte. Er hatte geahnt, dass sich Kommissar Reichel sofort darauf stürzen würde. Karl befand sich im Behandlungszimmer des Krankenhauses. Die Polizei hatte die Befragung der Angestellten im Schlosshotel abgeschlossen, jetzt war er an der Reihe. Trotzdem hätte er gern etwas mehr Zeit gehabt, um sich auszuruhen und seine Aussage vorzubereiten.

»Herr Bachmaier«, mahnte der Kommissar.

Der Assistenzarzt piekste Karl unsanft eine Nadel in den Arm und er schrie auf.

»Können wir das vielleicht später machen? Wenn der Metzger mich zusammengeflickt hat?«, fragte er den Hauptkommissar, um gleich darauf erneut »Au!« zu rufen. Der Assistenzarzt mochte es wohl nicht, Metzger genannt zu werden.

Reichel kaute auf einem Kugelschreiber und sah den Chefkoch interessiert an. »Nein, ich glaube, ich möchte die Antwort jetzt wissen.«

Karl hoffte, dass der Kommissar auf die Mine biss. »Woher soll ich denn wissen, was der Spinner damit gemeint hat? Seligmann hat einen Knall. Hatte. Völlig durchgedreht, der Kerl.«

»Aha«, machte Reichel und nahm den Stift aus seinem Mund. »Sie sind sich also sicher, dass Sie keine krummen Dinger drehen?«

Bachmaier schüttelte den Kopf. »Für wie dämlich halten Sie mich eigentlich? Selbst wenn ich illegale Sachen machen würde – was ich nicht tue, möchte ich noch mal betonen! – Ihnen würde ich das doch nicht auf die Nase binden.«

Der Kommissar nickte bedächtig und steckte seinen Notizblock in die Hemdtasche. »Danke, Herr Bachmaier, das war fürs Erste alles«, verabschiedete er sich und stand auf.

»Ist der komplett bescheuert?«, fragte Bachmaier den Arzt, als die Tür hinter Reichel zuschlug. Der zuckte nur mit der Schulter und klebte Bachmaier ein Pflaster auf die genähte Wunde. Danach verschwand er ebenfalls aus dem Behandlungszimmer und Bachmaier war sich selbst überlassen. Er versuchte, den Arm vorsichtig zu bewegen, und stellte fest, dass es nicht ging. Er würde sich ein ärztliches Attest holen müssen. Schlecht gelaunt schlurfte er durch die Drehtür zum Ausgang. Sein Handy klingelte und er fummelte es mit seinem linken Arm ungeschickt aus der Jackentasche. »Was gibt’s denn?«, meldete er sich unfreundlich.

»Bachmaier, ich bin’s, Hirtentaler«, begrüßte ihn sein Lieferant nicht viel freundlicher. »Wird etwas später heute Abend, so gegen eins wahrscheinlich. Alles wie gehabt, ja?«

»Hirtentaler! Warum meldest du dich erst jetzt?« Karl zündete eine Zigarette an, lehnte sich an sein Auto und schimpfte: »Ich hab dich schon mindestens zehnmal vergeblich angerufen. Der Stoff, den du mir letztes Mal angedreht hast, ist der letzte Dreck. Den kannst du wieder mitnehmen. Und ich will die nächste Lieferung gratis oder unser Deal ist gestorben.«

»Reg dich ab, Bachmaier. Der Stoff war erste Sahne. Nicht gepanscht, reinstes Zeug. Wenn du Qualität nicht von ’nem Billigimitat unterscheiden kannst, ist das nicht mein Problem«, antwortete Hirtentaler und Bachmaier hätte das Handy am liebsten in den nächsten Mülleimer geworfen.

Die Aufregung war nicht gut für seinen Blutdruck. »Um eins. Wir unterhalten uns dann«, verabschiedete er sich und fügte in Gedanken ›Du dumme Sau‹ hinzu. In seinem Kopf pochte es. Die letzte Lieferung von Hirtentaler war alles andere als ›erste Sahne‹ gewesen. Bachmaier fürchtete sogar, einige Kunden verloren zu haben, was er sich nicht leisten konnte. In zwei Jahren wollte er genug Geld auf seinem Liechtensteiner Konto haben, um sich zur Ruhe setzen zu können. Auf Mallorca. Dafür durfte er der High Society Lendnitzens aber kein minderwertiges Koks verkaufen. Verärgert stieg Bachmaier in sein Auto. Sein Handy klingelte wieder.

»Was denn jetzt?«, fragte er gereizt.

»Ich bin’s, Amalie. Ich wollte nur sagen, dein Abendessen steht im Kühlschrank. Ich bin beim Yoga.« Und damit hatte seine Frau auch schon wieder aufgelegt.

Der Lebensabend auf Mallorca konnte für Karl nicht schnell genug kommen. Der Lebensabend auf Mallorca allein. Ohne Amalie.

Zu Hause zog er die Rollläden herunter und legte sich ins Bett. Nach der ganzen Aufregung im Schlosshotel würde ihm etwas Schlaf sicher guttun.

 

*

 

Etwas Ruhe würde Johann sicher guttun. Er war auf dem Weg nach Hause und die Ereignisse des Vormittags steckten ihm in den Knochen.

Hielt ihn die Polizei tatsächlich für fähig, eiskalt einen Mord geplant zu haben? Ihn, den viel zu ungeschickten, viel zu dünnen Lehrling? Sogar seine Mutter sah ihn mitleidig an. Zu Weihnachten hatte sie ihm ein Jahresabonnement für ein Fitnessstudio geschenkt. Die Trainerin am Eingang jedoch war eine so überirdische und vor allem sportliche Schönheit gewesen, dass Johann auf dem Absatz kehrtgemacht hatte. Er würde wohl nie so etwas wie Schultern entwickeln.

Mehr Mut und Entschlossenheit, das war Johanns Ziel. Er hatte einen Plan. Erst wollte er Selbstbewusstsein sammeln, dann nach Klagenfurt gehen. Doch noch war er nicht so weit, der Großstadt, den Frauen und der Gefahr ins Auge zu sehen. Nach wie vor brauchte er sein Bruce-Willis-Poster und meistens half nicht einmal das. Er war so weit entfernt von eiskalt, entschlossen und mörderisch, wie Lendnitz vom wirklichen Leben.

Johann war so aufgewühlt, dass er um ein Haar ein Stoppschild übersehen hätte. Das passierte ihm sonst nie. Vorschriftsmäßig stieg er jedes Mal vom Rad, wartete an roten Ampeln und hielt selbst an Zebrastreifen. Ein weiterer Grund, weshalb er nicht bereit war für eine Stadt mit mehr als 10.000 Einwohnern.

Johann kam zum Kreisverkehr, dem Verkehrsknotenpunkt der Stadt, an dem die Klagenfurter Straße endete, und hielt auch hier, um einen blauen Golf passieren zu lassen. Hinter dem Auto machte in einiger Entfernung ein gelber Käfer solch einen ohrenbetäubenden Lärm, dass Johann beschloss, sogar diesen noch etwa 50 Meter entfernten Wagen vorbeifahren zu lassen. Der Besitzer musste neu im Ort sein, zumindest hatte Johann den uralten Käfer bisher nie gesehen. Oder gehört. Er widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten und sah den Fahrer neugierig an. Kurzsichtig wie er war, musste er einige Male blinzeln, doch das altersschwache Gefährt fuhr so langsam, dass er genug Zeit hatte, das Wunder zu betrachten, das dort an ihm vorüberzog. Hinter dem Steuer saß die schönste Frau, die Johann jemals gesehen hatte. Dunkle Locken ringelten sich um ein rundliches Gesicht, die Lippen konzentriert zusammengepresst, während das reizende Wesen energisch am Schaltknüppel riss. Es verschlug Johann die Sprache. Fasziniert blickte er dem Käfer hinterher, der laut aufröhrte, als er in eine Seitenstraße abbiegen wollte. Der Motor stotterte, das Auto machte einen Satz nach vorn, dann stand es still.

Schicksal. Verträumt sah Johann nach oben. Das musste Schicksal sein. Wie hätte es sonst passieren können, dass die Schöne direkt vor seiner Nase Hilfe brauchte? Er schob sein Rad in Richtung des gelben Käfers und blieb unsicher daneben stehen.

»So ein Dreck.« Die Schönheit stieg aus dem Wagen und gab dem Vorderrad einen kräftigen Tritt.

»Du bist ja klein«, rutschte es Johann heraus, der sich die Frau seiner Träume definitiv größer vorgestellt hatte.

»1,51 Meter. Und du?«