KARL MAY’s

GESAMMELTE WERKE

BAND 83

 

 

AM MARTERPFAHL

 

KARL MAYS

LEIDENSWEG

 

 

AUTOBIOGRAFISCHE SCHRIFTEN

 

 

 

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 2001 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1583-3

 

 

 

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

Inhalt

 

Vorwort

Ein Schundverlag

(4. Kapitel)

5. Kapitel – Als Redakteur

6. Kapitel – Als Mitarbeiter

7. Kapitel – Im Prozess

Ein Schundverlag und seine Helfershelfer

(5. Kapitel)

6. Die Fäden der Spinne

7. Herr Rudolf Lebius

8. Erfolge und Misserfolge

9. Die Hinrichtung

Rudolf-Lebius-Liste

An die 4. Strafkammer des Königlichen Landgerichts III in Berlin

Begleitwort der Erstfassung von 1910

Vorwort

 

In den Jahren nach seiner großen Orientreise 1901 musste sich Karl May zunehmend gegen Angriffe literarischer und persönlicher Gegner zur Wehr setzen, die schließlich auch vor Verunglimpfungen des Dichters in der Öffentlichkeit nicht zurückschreckten. Damit begann Mays Leidensweg im Alter. Neben den erzählerischen Hauptwerken jener Jahre – vor allem den Bänden III und IV des umfangreichen Zyklus Im Reiche des silbernen Löwen, den kleineren Novellen wie Abdahn Effendi, dem zweiteiligen Roman Ardistan und Dschinnistan und dem Drama Babel und Bibel – sah er sich immer wieder gezwungen, verteidigende beziehungsweise polemische Schriften gegen einzelne Widersacher zu verfassen. In Ergänzung der Selbstbiografie Mein Leben und Streben (1910)[1], deren zweiter Teil nie erschienen ist, stellen diese Texte einen wesentlichen Bestandteil der Äußerungen Mays zu seinem Leben bzw. zu seinen schriftstellerischen Absichten dar. Daher finden sie nun auch Aufnahme in die Gesammelten Werke, was eine Reihe begleitender Hinweise notwendig macht.

Karl May erwehrte sich durch zahlreiche Prozesse – unter anderem gegen die Witwe des Verlegers H. G. Münchmeyer, Pauline – vor allem zweier Arten von Anschuldigungen. Zum einen ging es um den Vorwurf, er habe in den fünf umfangreichen Münchmeyer-Romanen (1882-1887) eine große Zahl sittlich anstößiger Stellen produziert, besonders die Schilderung ‚weiblicher Reize‘ betreffend; insgesamt seien die Romane der ‚Schundliteratur‘ zuzurechnen. Zum anderen wurde geltend gemacht – hierin tat sich vor allem Rudolf Lebius hervor –, May habe die Öffentlichkeit über sein nicht ganz einwandfreies Vorleben und insbesondere über seine Vorstrafen getäuscht. So habe er sich etwa in Kürschners Schriftstellerlexikon als Katholik ausgegeben, obwohl er doch protestantischer Konfession war, und seine katholischen Verleger wie Pustet in Regensburg, den Herausgeber des Deutschen Hausschatz, durch ein ‚katholisches Mäntelchen‘ irregeführt.

May verfolgte in der Auseinandersetzung mit Münchmeyer bzw. dessen Nachfolgern mehrere Interessen, denn einerseits war ihm daran gelegen, vom Verlag vorenthaltene Honorare einzuklagen, andererseits verwahrte er sich dagegen, selbst Urheber der inkriminierten anstößigen Stellen gewesen zu sein. Diese seien vielmehr von fremder Feder in die Romantexte hereingetragen worden.

Im Laufe der Auseinandersetzungen fiel es dem Schriftsteller ersichtlich zunehmend schwerer, zwischen ehrenwerten Gegnern wie dem Redakteur Dr. Hermann Cardauns und solchen mit eigennützigen Motiven wie Lebius zu differenzieren. Cardauns ging es insgesamt mehr um die Abwehr von Strömungen, die nach seiner Auffassung dem politischen und literarischen Katholizismus Schaden zufügen wollten – was sicher nicht Mays Absicht war. Im Falle Lebius hatte May ganz offenkundige finanzielle Forderungen des Redakteurs der eher obskuren Sachsenstimme abgelehnt, worauf dessen persönliche Attacken erst einsetzten.

Karl May aber mussten alle diese Gegner immer mehr als persönliche Feinde erscheinen, die es geradezu auf seine Vernichtung abgesehen hatten. Entsprechend vehement fielen seine Gegenattacken aus, zumindest fallweise. Die im vorliegenden Band aufgenommenen Texte wurden ursprünglich als Privatdrucke „nur für den Verfasser“ bzw. als „gedrucktes Manuskript“ aufgelegt. Der Zweiteiler Ein Schundverlag (1905) und Ein Schundverlag und seine Helfershelfer (1909) war wohl immer ein Fragment; außer den heute bekannten Teilen (S. 257-418 des 1. Bandes bzw. S. 81-148 des 2. Bandes[2]) ist offenbar nie mehr gedruckt worden und die Manuskripte existieren nicht mehr, weshalb auch die vorliegende Ausgabe mitten im Satz beginnt. Allerdings ist keineswegs sicher, ob May nicht tatsächlich mehr verfasst hat, aber nur diejenigen Passagen zum Druck gab, die ihm aus prozesstaktischen Gründen wichtig erschienen. Der recht uneinheitliche Charakter des Textes lässt diese Möglichkeit immerhin offen. Doch steht wohl außer Zweifel, dass May durch die Paginierung den Eindruck erwecken wollte, er hätte noch wesentlich mehr enthüllendes Material über die bedenklichen Geschäftspraktiken des Hauses Münchmeyer in petto.

Ab dem 5. Kapitel, das die Überschrift „Als Redakteur“ trägt, ändert sich der Tonfall, die zielgerichtete Kampfansage wird zur allgemein gehaltenen Lebensbeschreibung. Auch wenn konkrete Beweise dafür fehlen, scheint es durchaus möglich, dass Karl May hier zwei Texte vermischt hat: eine autobiografische Niederschrift und eine direkt auf prozesstaktische Zwecke bezogene Polemik. Der Autor beginnt mit offenen Briefen an verschiedene Gegner, allen voran an den Dresdner Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt, der May in der Dresdner Presse angegriffen hatte. Während hier ein insgesamt anklagender und nahezu pathetischer Klang vorherrscht, bedient sich May in den ausgesprochen autobiografischen Teilen eines mehr erzählenden, bei aller Schärfe betont detaillierten, manchmal fast witzig-ironischen Stils. Da die Darstellung aber teilweise dem widerspricht, was er in seiner Autobiografie zur Sache ausführt, muss auch die Vermutung, May habe vielleicht Teile des Schundverlag-Manuskripts für Mein Leben und Streben verwendet, rein spekulativ bleiben.

Über Karl Mays inhaltliche Ausführungen in den Privatdrucken ist in der Vergangenheit durchaus kontrovers diskutiert worden. Dass er hier seine Autorschaft besonders an den ‚unsittlichen‘ Stellen der Münchmeyerschen Kolportageromane bestritt, wurde mitunter als reine Schutzbehauptung Mays abgetan. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass Kolportageverlage des 19. Jahrhunderts nachweislich mit den Manuskripten der Autoren ziemlich frei umzugehen pflegten. Dazu wurden im May-Münchmeyer-Prozess nach 1902 eindeutige Zeugenaussagen u. a. von Münchmeyers Neffen Adolf, der Schriftstellerwitwe Johanna Spindler und dem mit den Kolportage-Usancen vertrauten späteren May-Verleger Dr. Euchar Albrecht Schmid vorgebracht. Wenn in den Kolportagetexten Karl Mays dennoch für ihn typische Stilmerkmale zu finden sind, so beweist dies nicht mehr als die – auch vom Autoren unbestrittene – Tatsache, dass seine eigenen Manuskripte den Drucken zugrunde gelegt worden waren, leider aber eben unter Einschaltung von Änderungen fremder Hand. Sogar der Münchmeyer-Anwalt Oskar Gerlach gab am 25. September 1909 vor dem Dresdner Landgericht Eingriffe in den originalen Text von „nicht mehr als 5%“ der Romane zu, was immerhin im Einzelfall bis zu 260 Seiten bedeutete!

Von den Fragen nach Veränderungen oder deren Umfang ganz abgesehen mussten die in vielen Teilen trivialen Werke dem späteren Geschmack Mays nach 1900 und seinen neuen literarischen Vorstellungen, die zu den symbolischen Spätwerken führten, dezidiert widersprechen und den Autor, der seine Texte nach vielen Jahren erstmals wieder zu Gesicht bekam, zutiefst schockieren. Das Entsetzen, das aus vielen Passagen der Drucke spricht, war zweifellos echt und ungespielt, zumal die Münchmeyer-Witwe Pauline May nicht nur nachweislich um einen Gutteil der ihm zustehenden Honorare betrog, sondern ihn auch durch ihren Anwalt Oskar Gerlach moralisch verächtlich zu machen suchte. So ist von Mays Darstellung der Verhältnisse im Hause Münchmeyer aus heutiger Sicht vor allem jener Teil bedeutsam, der über seine frühe Schriftstellertätigkeit Auskunft gibt, trotz mancher kleinerer Widersprüche zwischen dem Schundverlag und den späteren entsprechenden Ausführungen in Mein Leben und Streben. Für Mays Reiseerzählungen und die Position des Ich-Erzählers dort ist ja besonders die moralische Perspektive bemerkenswert, der Versuch des Schriftstellers, nicht nur spannende Abenteuer zu erzählen, sondern auch ‚das Gute‘ zu vertreten. Rückblickend schildert May im ersten Band des Schundverlags die Zustände bei Münchmeyers stark moralisierend und aus der Perspektive des ‚Wissenden‘. Es dürfte ersichtlich und menschlich verständlich sein, dass May die dortigen Verhältnisse im Jahre 1875, als er seine Redakteursstelle antrat, noch nicht durchschauen konnte. Auch wissen wir nichts Genaues über die Gründe, die ihn schon 1877 zur Kündigung bewogen. Sicher scheint zu sein, dass der Schlendrian, den May im Hause und Verlag Münchmeyer vorfand – er monierte beispielsweise das Fehlen einer ordentlichen Buchführung – nicht nur für diesen Kolportagebetrieb prägend war. Insgesamt wurde im Geschäft mit der Trivialliteratur, wie wir aus zeitgenössischen Quellen wissen, nicht sehr zimperlich mit geschäftlichen Fakten und insbesondere nicht mit den Autoren umgesprungen, die sich oft nackter Ausbeutung ausgeliefert sahen.

Auch hatte May 1882 recht leichtgläubig oder zumindest vertrauensselig mit Münchmeyer die Abmachung bezüglich der fünf Lieferungsromane getroffen, denn es existierte hierüber kein schriftlicher Kontrakt. Was mündliche Zusicherungen wert waren wie die, es sollten nicht mehr als 20.000 Exemplare von jedem Romanheft gedruckt werden und der Verfasser bei pflichtgemäßer Erfüllung seiner Aufgaben eine „feine Gratifikation“ erhalten, hätte er aus früheren Erfahrungen mit Münchmeyer eigentlich besser wissen müssen. Jedenfalls war er im Jahre 1882 offenbar zu froh, schriftstellerische Aufgaben zu bekommen, als dass er wirklich lange gezögert hätte. Dass das Geschäftsgebaren Münchmeyers, ja der ganze Stil der Kolportage, nicht Mays Wesen und Auffassungen entsprachen, darf man als gegeben ansehen. Die moralische Entrüstung des Autors wurde aber zweifellos 1905, als er seine Beziehungen zur Kolportage ausführlich für Prozesszwecke niederschrieb, durch die Fülle der Ärgernisse und ausufernden Angriffe noch erheblich verstärkt.

Für den heutigen Leser, zumal den mit Leben und Werk Karl Mays etwas näher vertrauten, ist allerdings eher zweitrangig, inwieweit sich alle Vorkommnisse wirklich genau so abgespielt haben, wie es im Schundverlag zu lesen ist. Bedeutsam ist vielmehr, dass sich auch in diesem ungewöhnlichen Schriftwerk – zumindest partienweise – das erzählerische Können Mays entfaltet, seine Fähigkeit, den Leser zu fesseln, Charaktere und Personen mit wenigen Strichen treffend zu schildern, Situationen genüsslich und mit Humor auszumalen.

Aus allen Kampfschriften der letzten Lebensjahre ist zu konstatieren, dass Mays argumentative Technik, die klare und deutliche Gliederung der einzelnen Fakten, die er gegen seine literarischen Widersacher zu Felde führt, und die logische Folgerung aus gegebenen Tatsachen nicht seine Stärke waren. Immer wieder wird der Faden der Darstellung seiner Jahre in Diensten des Trivialverlegers durch persönliche Bemerkungen, durch Rekurs auf Presseartikel, durch ausführliche Rekapitulation von Vorwürfen und die Replik auf dieselben unterbrochen. Man kann sich leicht vorstellen, dass Journalisten, die etwa diesen Privatdruck erhalten sollten – denn May hat ihn offenbar nicht bei Gericht vorgelegt, aber möglicherweise an mit den Prozessen befasste Personen weitergegeben –, die Lektüre bereits nach kurzem eher verwirrt abgebrochen hätten. Schlüssiges Argumentieren war May in seiner verständlichen Aufregung nicht immer möglich.

Stattdessen fasziniert der Text da, wo Situationen und Erlebnisse „im Dunstkreis der Kolportage“ ganz plastisch und nicht ohne das Behagen des gewieften Erzählers auszukosten geschildert werden. Als formale Gliederung findet sich im ersten Teil immer wieder wie ein Leitmotiv der Ausdruck „Lüge“, um so das vorherrschende Element Münchmeyerschen Denkens und Handelns aus der Sicht des Opfers zu charakterisieren. May zeigt auf, wie nach seinem Empfinden das Element der Lüge in all ihren verschiedenen Ausprägungen Leben und Arbeit im Hause Münchmeyer bestimmt hat. Besonders prangert er Münchmeyers Geiz und dessen übergroße ‚Geschäftstüchtigkeit‘ an. Aber auch Pauline habe ihren Mann hinters Licht geführt, schreibt May, etwa durch private Wechsel hinter seinem Rücken. Zur Atmosphäre der Lüge gehört weiter die Vorspiegelung eines familiären Umgangs mit Geschäftspartnern und Mitarbeitern. Hinter der erheuchelten Fassade des gutbürgerlichen Verlagsbetriebs entlarvt May bestechend ein Bild permanenter heimlicher Betrügerei; ganz deutlich wird hier auch, dass er – durchaus zu Recht – das Prinzip ‚mehr Schein als Sein‘ als Grundmechanismus des Kolportagegeschäfts und der von ihm hervorgebrachten Literatur begriff. Diese zeichnet ja ein verfärbtes Bild der Wirklichkeit; einerseits wird der Leser in eine bunte Scheinwelt abenteuerlicher Chimären gelockt, die ihn von seinen alltäglichen Problemen ablenken sollen. Andererseits gaukelt der Kolportageroman mit seinen fantastischen Happyends den Dienstmädchen und anderen typischen Lesern ein rosafarbenes Ideal vor, in dem wunderbare Schickungen immer zu einem guten Ende führen und Liebe und Glück als wundersame Himmelsmächte über alle Widernisse siegen.

Dieses Prinzip des schönen Scheins, der bewusst übertriebenen Emotionen, Ausdrucksformen und Erlebnisse kennzeichnet auch – mit Abstrichen – die Maysche Kolportage. Nicht zuletzt ist die Abrechnung des Autors mit der Kolportageschreiberei also auch ein Abrücken von einer Phase seines eigenen Schaffens. Die moralischen Maximen, die er in der Auseinandersetzung mit der ‚Münchmeyerei‘ aufstellt, sind somit auch als Impuls für sein spätes Werk zu verstehen.

Wenn May Münchmeyers Großmannssucht tadelt, sein Prahlen mit scheinbar großen Erfolgen und mit falschen Titeln, sein Doppelspiel hinter der bürgerlich-ehrbaren Fassade usw., dann ist dies auch eine Spiegelung eigener Irrwege, die er in seinem Schaffen ging. May schreibt über einen Verlagsmitarbeiter: „Das war der Buchdrucker Gleissner, ein fast über seine Kräfte arbeitsamer, höchst brauchbarer, gewissenhafter Mann, dem Münchmeyer zur größten Dankbarkeit verpflichtet war, denn ohne den unausgesetzten Beistand dieses klugen, umsichtigen und außerordentlich treuen Geschäftsmanns wäre Münchmeyer ohne alle Frage geblieben, was er war. Gleissner war die Seele des Geschäfts. Er konnte alles, entdeckte stets Neues, war vorsichtig, doch unternehmend und wusste überall Rat. Es fehlte ihm nur eines, seinen eigenen Weg zu machen, nämlich das selbstbewusste Auftreten, das Imponieren, die Suada, der Kothurn. Es war ihm nicht gegeben, jemand zu überreden; darum blieb er stets im Hintergrund. Der ‚Heinrich‘ besaß das alles in hohem Grade; er hatte es sich auf seinen Kolportagewanderungen angeeignet. Er verstand es ausgezeichnet, die Gedanken anderer als die seinigen auszumalen und sich nutzbar zu machen; er stand stets vorn, im Licht.“

Zweifellos stimmt diese scharfe Charakteristik mit dem überein, was uns ansonsten auch über den Menschen Heinrich Gotthold Münchmeyer und besonders über sein Auftreten als Verleger überliefert ist. Von Haus aus war er Handwerker und Zimmergeselle, und im Buchhändler und Verleger Zimmermann, einem üblen Ausbeuter schriftstellerischer Talente in Mays Kolportagewerk Der verlorene Sohn lässt sich ebenfalls ein Stück seiner Persönlichkeit wieder erkennen. Dennoch kann man nicht umhin, ein wenig von dieser Wesensschilderung auch auf May selbst zu beziehen. In seinen Reiseerzählungen versteht er es in virtuoser Weise, den Eindruck zu erwecken, er habe dies alles selbst erlebt, und zu der May-Begeisterung in den 1890er Jahren gehörte auch ein Stück Selbstbeweihräucherung. Denn die Verehrer, die Karl May in der Villa „Shatterhand“ besuchten, meinten ja nicht nur dem Schriftsteller, sondern dem Mythos Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi zu begegnen. Wenn May also die Machenschaften im Hause Münchmeyer als übertriebene Selbstgefälligkeit und Hochstapelei kritisiert, so ist dies mit ein Indiz dafür, dass er zumindest unbewusst ähnliche Tendenzen in seinen bisherigen Taten und Werken wieder finden konnte. Ausgangspunkt des Spätwerks war es ja, nicht mehr wilde Geschichten erfinden zu wollen, sondern Gleichnisse zu bieten, den Lesern in Bildern den Spiegel des eigenen Ichs, der menschlichen Fehler und Schwächen – und der möglichen Höherentwicklung zum „Edelmenschen“ – vorzuhalten. Der Bruch mit dem eigenen Schreiben vor der Spätphase, spielt ja im symbolischen Alterswerk eine bedeutsame Rolle und wird zum Beispiel in Im Reiche des Silbernen Löwen IV[3] deutlich thematisiert: Im einleitenden Nachtgespräch mit dem Ustad, dem Meister – alter ego des aufwärts strebenden Karl May – entsagt der wie immer in der ersten Person erzählende Autor gleich zu Beginn den abenteuerlichen Ich-Fiktionen wie Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Und am Schluss des Romans siegt der verunstaltete Hengst Kiss-y-Darr – was laut May ‚Schundroman‘ bedeutet – über das Pferd des Ghulam, des Henkers: Hinter dieser Figur verbirgt sich offenkundig Hermann Cardauns, der es als sein Hauptziel gesehen hatte, die Kolportageromane Mays als Produkt einer verderbten schriftstellerischen Fantasie und Doppelmoral zu brandmarken, die im Stande war, auf der einen Seite „sittlich einwandfreie“ Reiseerzählungen, auf der anderen Seite „verderbliche“ Kolportage zu schreiben. Nun, im Roman, muss Ghulam gestehen, dass Kiss-y-Darr nur von ihm selbst und seinen Helfershelfern „zum Schund gelogen“ wurde.

Wenn man die Romanfiktion auflöst, lässt sich folgende Botschaft entschlüsseln: Auch hinter den vermeintlichen Schundromanen der Münchmeyer-Phase verbirgt sich Maysches Denken von echter Moralität. Im Bannkreis der lügenhaften Kolportagepraxis wurde dieses Denken aber in blendende, täuschende Trivialfiktion verwandelt. Indem May sich im Silberlöwen IV und in seinem gesamten Spätwerk von den Aufschneidereien der frühen Werke distanziert und von seiner Helden-Fiktion als Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand Abschied nimmt, wird auch der vermeintliche Schund der Kolportage als lediglich verkleidete Wahrheit neu bewertet. Es kann so nicht Wunder nehmen, dass auch in Mays Kolportageromanen moralische Maximen erkennbar sind, die sich durch das Gesamtschaffen bis hin zum esoterischen Spätwerk wieder finden lassen.

Indem May die Münchmeyerei enttarnte, wie er sich das in den beiden Teilen des Schundverlags vorgenommen hatte, vollzog er in Wahrheit auch eine Abkehr von seiner eigenen Vergangenheit, mit dem Fehlverhalten seiner frühen Jahre. Eine scheinbar nebensächliche Formulierung im Schundverlag deutet dies an. May spricht über Unterschlagungen, die Pauline Münchmeyer gegenüber ihrem Mann verheimlichen musste und bei der er, May, zum Mitschuldigen gemacht wurde, wenn auch nicht im strafrechtlichen Sinne.

Wörtlich schreibt er in dieser Passage: „Und das Schlimmste für mich, ich war Mitwisser geworden. Mitschuldiger, Hehler! Die giftige Säure hatte auch mich schon ergriffen! Und ich hatte mir doch so Gutes, so Hohes, so Edles vorgenommen gehabt!“ Interessanterweise hat die Metapher der „giftigen Säure“ für Lüge und Heuchelei im späten Werk Karl Mays eine kluge Entsprechung gefunden: Als er im Rahmen eines Vergleichs 1903 dem Münchmeyer-Nachfolger Adalbert Fischer einen Band mit Erzgebirgischen Dorfgeschichten[4] liefern musste, hat May, von Fischer wahrscheinlich kaum bemerkt, unter das alte Material aus den späten 1870er und 1880er Jahren zwei ganz neue Texte gemischt, von denen Das Geldmännle umso bedeutungsvoller ist, als sich hier wiederum eine Abrechnung mit den Münchmeyerschen Praktiken in verschlüsselter Form findet. Der Papiergeldfälscher Frommhold (lies: Gotthold!) Uhlig bringt den strebsamen, aber armen Musteranton durch die giftigen Dünste seiner Falschgeldfabrikationsmaschine um. Die Geschichte lässt sich im Kontext des Schundverlags leicht deuten: Der Musteranton ist der nach Höherem strebende Karl May selbst, hinter seinem Arbeitgeber Frommhold verbirgt sich Heinrich Gotthold Münchmeyer, der durch den giftigen Extrakt seiner verleumderischen und heuchlerischen Machenschaften den moralischen Tod des Angestellten Musteranton alias Karl May herbeiführt. Wer das für Überinterpretation hält, sei daran erinnert, dass May in der Phase seiner Prozesse und scheinbar nicht enden wollenden Kämpfe gegen persönliche und literarische Gegner in den letzten beinahe zwölf Lebensjahren mehrfach nicht nur psychisch, sondern auch physisch dem Zusammenbruch nahe war – und „Zusammenbruch“ ist nicht zufällig auch das vierte Kapitel des Silberlöwen IV überschrieben. Hier findet die entscheidende, letzte Auseinandersetzung mit den Widersachern statt, die am Ende allesamt sterben oder wahnsinnig werden: Ghulam el Multasim, der Henker, wird vom Scheik ul Islam, dem Hüter der religiösen Dogmen erdolcht. Der Scheik ul Islam und die Gul-i-Schiraz, die verführerische Blume des Bösen, hinter der man nicht nur eine verschwommene und übertriebene Darstellung von Mays erster Frau, Emma Pollmer, als vielmehr eine Metamorphose des ‚bösen‘, verführerischen ‚weiblichen Prinzips‘ schlechthin erblicken mag, sterben und Ahriman Mirza verfällt in Wahn. Im realen Leben aber waren diese Gegenspieler weiterhin tätig und führten zu der fast völligen geistigen und körperlichen Erschöpfung des an den Pranger gestellten Schriftstellers.

Wenn man die Schundverlag-Privatdrucke heute liest, im Abstand von fast neunzig Jahren, so mag man gelegentlich über die beinahe brillante Bösartigkeit der Mayschen Charakterporträts erschrecken oder sich verwundern über den Versuch, aus einem ganz gewöhnlichen, mittelmäßigen  Kolportageverlag namens Münchmeyer so etwas wie eine besondere Spielart des Bösen herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass May einmal schreibt, Münchmeyers Bruder Fritz habe seine Schwägerin Pauline stets nur das „alte M...“ genannt. Hinter dieser Anspielung verbirgt sich der sächsische Dialektausdruck ‚Mensch‘: Das ‚Mensch‘, wie May es boshaft andeutet, kann hier aber nicht nur als herabsetzendes Neutrum für eine Frau gelesen werden, die – laut May – keine Kinder bekommen konnte oder wollte; wir wollen den Dialektausdruck nicht einseitig negativ interpretieren, sondern auch als unbewussten Ausdruck dafür, dass es in jenen Geschichten Mays unübersehbar ‚menschelt‘, im guten wie im schlechten Sinne. Auch wenn May da oder dort die Grenze zur persönlichen Beleidigung sogar überschritten haben könnte, sind seine Anmerkungen über den ‚Fall Münchmeyer‘ heute längst verjährt, aber als psychologisches Dokument über den gehetzten Menschen Karl May in den Jahren um 1905 bis heute bedeutend und von großem Wert für den Leser, der sich über Mays Psyche im Ganzen, ohne verklärende Scheuklappen, ein Bild machen will.

Somit ist die Zeit reif, auch die sehr persönlichen Bekundungen Karl Mays unverkürzt und lediglich orthografisch sowie in einzelnen Stilfragen modernisiert in die Gesammelten Werken aufzunehmen. Dasselbe gilt auf Grund des engen inhaltlichen Zusammenhangs für einen weiteren Privatdruck, nämlich die Verteidigungsschrift An die 4. Strafkammer des Königlichen Landgerichtes in Berlin. Dem Text vom 3.12.1911 folgt das Begleitwort, das May im August 1910 dem kürzeren ersten Entwurf beigegeben hatte.

Anders als beim Schundverlag handelte May hier konkret in einer bestimmten Rechtssache, nämlich seiner Privatklage gegen den Journalisten Rudolf Lebius, der ihn in zahlreichen Publikationen mit ehrenrührigen Beschuldigungen belegt hatte. Die beiden Privatdrucke bezogen allgemein gegen die Angriffe im Zusammenhang mit der Kolportagetätigkeit und gegen den Vorwurf Stellung, May habe unsittliche Romane verfasst. Die ursprünglich 48-seitige Schrift An die 4. Strafkammer dagegen wurde gezielt zur Begründung der Mayschen Berufung gegen das Urteil vom 12.4.1910 des Amtgerichts in Berlin-Charlottenburg verfasst und im Jahre 1911 noch einmal erheblich erweitert. Zur Sache sei kurz Folgendes gesagt: Lebius, damals Redakteur des wenig bedeutenden Dresdner Blattes Sachsenstimme, hatte sich im Frühjahr 1904 wegen eines Darlehens an May gewandt, unterstützt von einer anonymen Drohung vor den Folgen der Nichtzahlung. May reagierte auf diesen offenkundigen Erpressungsversuch nicht, worauf Lebius eine Serie von ‚enthüllenden‘ Artikeln über seine Vorstrafen etc. herausbrachte. Daraufhin klagte May gegen Lebius und erreichte im Jahre 1905, dass dieser seine Zeitschrift einstellen und sich schimpflich aus Dresden zurückziehen musste – was dazu führte, dass Lebius in seinem Hass auf May noch bestärkt wurde. Neue Arbeit fand er in den Publikationen der so genannten ‚gelben‘ Werkvereine, einer Art gegen die Sozialdemokratie gerichteten Gewerkschaftsbewegung. Im Vorwärts, dem Partei-Organ der SPD, erschienen 1907 Vorwürfe, Lebius sei kein Ehrenmann, gegen die jener seinerseits gerichtlich vorging. Karl May sollte in der Sache aussagen, was Lebius mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Unter dem Namen eines Strohmanns, Friedrich Wilhelm Kahl aus Basel, veröffentlichte er 1908 die Schmähschrift Karl May, ein Verderber der deutschen Jugend. Kahl, ein idealistischer junger Mann, der von Lebius offenbar getäuscht worden war, zog sich dann aber, als die Hintergründe der Fehde bekannt wurden, von der Sache zurück. Die Broschüre durfte nicht weiter verbreitet werden.

Lebius gab in seinem Bemühen, Karl May geradezu menschlich zu vernichten und seinen Ruf zu zerstören, nicht auf, trachtete aber nun auf anderen Wegen sein Ziel zu erreichen. Er suchte die von Karl May geschiedene und über die Umstände der Trennung und ihr ganzes Leben deutlich verbitterte Emma Pollmer auf und erhielt von ihr allerhand Informationen über Mays angebliche sexuelle Zügellosigkeit. Aus obskuren Quellen vermochte Lebius auch zu ‚ermitteln‘, dass May ein Räuberleben geführt habe und in den Wäldern des Erzgebirges unter anderem mit dem berüchtigten Louis Napoleon Krügel herumgezogen sei, um dort Untaten zu verüben. Alle diese und noch viel mehr sensationell verdrehte Lügen über Karl May präsentierte Lebius 1909 und 1910 im Presseorgan der ‚gelben‘ Vereine, dem Bund. May wehrte sich gerichtlich, indem er Lebius wegen Verleumdung und Beleidigung verklagte und auch gegen Emma und andere Informanten juristisch vorging. Nachdem es im Mai 1909 zu einem Vergleich gekommen war, mussten sich beide Parteien zu einem friedlichen Verhalten in der Zukunft verpflichten. Lebius hielt sich aber nicht an seinen Teil der Absprache und fuhr fort, May zu beleidigen. Dabei spielte eine wichtige Rolle, dass er den Schriftsteller unter anderem in Anlehnung an die Theorien des bekannten italienischen Kriminologen und Psychologen Cesare Lombroso als „geborenen Verbrecher“ bezeichnete. Der solcherart Beleidigte stellte daraufhin Anfang 1910 Strafantrag wegen Verleumdung und übler Nachrede. Als er zudem Kenntnis vom einem Privatbrief erlangte, in dem Lebius die Lombroso-Worte explizit auf seine Person anwandte, stellte Karl May wegen dieses Vorgangs erneut Strafantrag und erhob Privatklage. Die Sache wurde vor dem Charlottenburger Amtsgericht am 12.4.1910 verhandelt und nahm einen von May völlig unerwarteten Verlauf. Im Vertrauen auf die unumstößlichen Fakten und die offenkundigen Verleumdungsabsichten des Rudolf Lebius erschien May ohne Anwalt und erhielt auch zunächst durchaus Recht. Der schon recht betagte Amtsrichter schickte sich gerade an, eine Verurteilung auszusprechen, als Lebius’ Anwalt eingriff und den Richter sogar dazu bewegen konnte, den Spruch abzuändern und Lebius wegen „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ freizusprechen. Dieses Fehlurteil hat Karl May in großem Maße Schaden zugefügt, weil nun in breiten Teilen der Presse der Eindruck entstehen konnte, er sei tatsächlich eine Person mit ‚unsauberer‘ Vergangenheit. Von den unwiderlegbaren Fakten, den Vorstrafen Mays etwa, wurde dabei eigentlich weniger Gebrauch gemacht; dafür kursierten die von Lebius verbreiteten Schauergeschichten nunmehr unter marktschreierischen Überschriften in vielen Presseorganen.

Der Schlag, den das Charlottenburger Urteil Karl May versetzt hat, ist mit der Wiedergabe nüchterner Fakten gar nicht nachvollziehbar. Er war geradezu seelisch gebrochen und auch in seiner schriftstellerischen Tätigkeit eingeschränkt, seine Kräfte waren verbraucht. Indiz dafür dürfte es sein, dass May im Jahre 1911 nur eine einzige Arbeit zu Papier brachte, eben jene zweite Fassung der Schrift An die 4. Strafkammer, mit der er seine Berufung gegen das Charlottenburger Urteil begründete. Immerhin wendete sich das Blatt, zumindest in diesem Teilabschnitt der gerichtlichen Auseinandersetzungen, noch einmal zu Mays Gunsten: Bei der Berufungsverhandlung am 18.12.1911 wurde Lebius wegen schwerer Beleidigung zu einer – allerdings geringen – Geldstrafe verurteilt. Weniger das Urteil selbst als vielmehr das ganze Verhalten des den Prozess leitenden Vorsitzenden Richters, der May ausdrücklich gegen Vorwürfe des Lebius-Anwalts in Schutz nahm, führten dazu, dass in der Folge auch wieder für May positive Stimmen hörbar wurden und der Wiener Akademische Verband für Literatur und Musik ihn sogar durch seinen Vorsitzenden Robert Müller zu einem Vortrag im März 1912 in Wien einlud. Kurze Zeit später, am 30. März 1912, kurz nach der erfolgreichen Wiener Rede, verstarb Karl May. Das Ende der Prozesse gegen den Münchmeyer-Verlag – letztlich ein Sieg, aber ein zu später Sieg – sollte er nicht mehr erleben; auch die Klagen gegen Lebius von Anfang 1910 ‚erledigten‘ sich erst durch den Tod des Dichters.

Man muss alle diese Fakten berücksichtigen, um zu verstehen, warum May so viel Kraft und Energie in seine Verteidigung steckte. Die Schrift An die 4. Strafkammer, wie sie hier in der zweiten, erheblich längeren Fassung von 1911 vorliegt, ist ein erschütterndes Dokument des Kampfes gegen wirkliche menschliche Niedertracht. May macht sehr deutlich, dass Emma Pollmers Bemerkung, nachdem ihr die Augen über Lebius geöffnet worden waren, dieser sei „ein Schuft, der über Leichen geht“, zutreffend war.

Ein großer Teil von An die 4. Strafkammer ist damit ausgefüllt, dass May die einzelnen Beleidigungen und Unwahrheiten von Lebius im Detail anführt und zum größten Teil durch Fakten und Zeugenaussagen anderer Personen widerlegt. Die entsprechenden Teile des Schriftsatzes lesen sich heute natürlich ausgesprochen mühsam, zumal wenn man mit den Fakten nicht detailliert vertraut ist. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu wissen, dass May die erste Fassung, die bereits Mitte Juni 1910 gedruckt und vervielfältigt wurde, im Laufe des Jahres 1911 vollständig neu gestalten und erheblich erweitern musste, weil Lebius inzwischen in seinem Buch Die Zeugen Karl und Klara May 1910 neues, massiv beleidigendes Material vorgelegt hatte. Dass May sich immer wieder mit stets übleren Vorwürfen auseinanderzusetzen hatte, führte offenkundig dazu, dass seine Verteidigungsschrift nicht ganz übersichtlich geriet. Während der Arbeit kamen May offenkundig stets neue Vorwürfe bzw. Argumente in den Sinn, zu denen er Stellung nehmen musste. Dennoch ist die Fassung von 1911 partienweise von großem Interesse, weil May sich hier zum Teil recht differenziert über Lebius und auch über seine erste Ehefrau Emma äußert.

In dem Manuskript Frau Pollmer, eine psychologische Studie[5] von 1907, das May „nur für mich allein“ schrieb, wird die ganze Tiefe der psychologischen Abgründe deutlich, die sich besonders nach der Scheidung zu seiner ersten Ehefrau auftaten. Verglichen mit diesen teilweise hasserfüllten Charakterisierungen hat sich May 1911 bewusst zurückgehalten. Von großer Bedeutung sind hier die längeren Ausführungen zur Frühzeit seiner Ehe, mit der er gleichzeitig auch das Verhältnis zu Münchmeyer neu beleuchtet. Emma May wird als leichtsinnig, ungebildet, vielleicht sogar extrem verführbar in jeder Hinsicht gekennzeichnet, was May zum Teil aber auch auf die Verhältnisse, unter denen sie aufwuchs, zurückführt. Dass „Frau Pollmer an der Scheidung ihrer Ehe schuldig ist“, diese Darlegung nimmt einen großen Teil des Schriftsatzes ein und muss natürlich unter dem Gesichtspunkt gelesen werden, dass May hier zu begründen suchte, warum sich seine erste Frau so leicht zum Werkzeug des Lebius machen ließ. Die dort angeführten Gründe, insbesondere die Behauptung, Emma habe sich von ihren Freundinnen gegen ihren damaligen Mann einnehmen lassen, sind sicherlich bis zu einem gewissen Maß einseitig. Die ganze Tragödie der Ehescheidung, bei der auch die immer stärkere, gewiss teilweise auch auf gemeinsamen geistigen Interessen beruhende Beziehung zu Mays späterer zweiter Frau Klara eine Rolle spielte, kann hier nicht erläutert werden.[6] Manche Details, die in der Landgerichtsschrift ausgeführt werden, sind auch für die biografische Spiegelung im Spätwerk, besonders in den Teilen III und IV des Silberlöwen bedeutungsvoll; so wird Emmas Angebot erwähnt, auch nach der Scheidung als Köchin zu May und Klara gehen zu wollen. Pekala, die Emma-Spiegelung des Silberlöwen, ist als Köchin im Reich des Ustad tätig. So kann ein aufmerksamer Leser aus diesen sehr ausführlichen Darlegungen von 1911 manches Detail aus dem Leben Karl Mays erfahren, das ihm bisher noch entgangen war. Auch die Charakterisierung Lebius’ durch May ist sehr eingehend und aufschlussreich, besonders in den Passagen, in denen Letzterer die Sprache seines Peinigers analysiert und neben dem Verleumder und „Schuft“ auch den Politiker Lebius ins Rampenlicht rückt, der alle seine Manöver unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit, quasi mit taktischen Vorgaben vornahm.

An die 4. Strafkammer in der zweiten, erweiterten Fassung ist Karl Mays letzte größere schriftstellerische Arbeit. Obwohl bzw. gerade weil der Text eine seltsame Mischung aus Verteidigungsschrift, Darstellung der Ehescheidung und allgemeiner autobiografischer Daten bietet, ist er von großem Interesse für Mays letzte Lebensjahre und für die große Tragik, die die Prozesslawine der Jahre nach 1901 auslöste

In Mays großen Reiseerzählungen kommt es immer wieder vor, dass die Bösewichte, aber auch die edlen Helden am Marterpfahl eines Indianerstammes landen – wobei zumindest die Guten auf ihre endliche Rettung hoffen dürfen. Karl May kam bei der Abwehr seiner ebenso hartnäckigen, wenn auch vielleicht nicht immer unmittelbar tödlichen literarischen und persönlichen Gegner dieses Motiv wieder in den Kopf und so stellte er im Schundverlag schmerzlich und tief enttäuscht fest: „Ich hänge am Marterpfahl, und alle Welt schlägt auf mich ein.“ Eine im übertragenen Sinne nur allzu treffende Einschätzung der Vorgänge, die den Verfasser bewegten; noch Anfang 1910 übrigens plante Karl May, seine Autobiografie Am Marterpfahl und Pranger zu nennen.

Auch wenn die Lektüre dieser Texte nicht immer so fröhlich unterhaltsam sein mag wie bei den Reiseabenteuern – aufschlussreich und typisch für das, was Karl May in seinen letzten Jahren zu verarbeiten hatte, sind sie allemal.

 

Christoph F. Lorenz

 

 

 

Ein Schundverlag

 

(4. Kapitel)

 

...und keineswegs zu wiederholen, dass ich dieses Buch nicht schreibe[7], um behördliche Organe zu kritisieren, sondern um denen, die nach uns kommen, zu zeigen, was der Humanität und Christlichkeit des jetzt beginnenden Jahrhunderts noch alles möglich war. Auch der Gedanke, Böses vergelten zu wollen, liegt mir vollständig fern. Da aber meine Person von der Zukunft meiner literarischen Werke nicht abzutrennen ist, so habe ich das, was jetzt mit mir geschieht, dem Urteil unserer Nachfolger vorzulegen, und zwar so objektiv, dass noch die spätere Zeit mir zugeben muss, die Wahrheit gesagt zu haben. Es ist in der Literatur noch keines einzigen Volkes ein derartiges Haberfeldtreiben veranstaltet worden wie gegen mich, und sobald die künftigen Geschlechter davon hören, sollen sie zugleich im Stande sein, zu entscheiden, ob ich dies verdiente oder nicht. Der in der Gegenwart Lebende darf noch in Nebel schauen; der auf sie Zurückblickende aber muss klaren Auges sein.

Darum habe ich im ersten Kapitel dieses Buches zwar die ablehnenden Bescheide der Königlichen Staatsanwaltschaft ganz wörtlich wiedergegeben und auch die Namen der beiden Beamten hinzugefügt, mich aber einer Bemerkung hierzu sorgfältig enthalten. Die beiden Anzeigen liegen nun bei der nächsthöheren Instanz, deren Entscheidung abzuwarten ist, bevor ich weiteres hierüber registriere. Aber da mit Bestimmtheit vorauszusehen ist, dass unsere neue, vollständig umgewandelte Psychologie uns ganz unmöglich erlauben kann, in der bisherigen, ebenso ungerechten wie grausamen Unterdrückung der ethisch Auferstandenen fortzufahren, so halte ich es für geboten, eine dann geltende Regel, die man zwar jetzt schon kennt, aber leider fast nie beachtet, hier anti cipando[8] zu nehmen. Ich meine den Satz: Auf geradem Lebensweg beweist man nichts.

Nur wer steigt, zeigt, dass er will und kann. Wer aber abstürzte und doch nicht unterging, sondern sich trotz seiner zerschlagenen Glieder wohl gar noch höher emporarbeitete, als er früher stand, der hat doppelten Aufstieg hinter sich und zweifachen Beweis erbracht, dass die Stelle, an der er stürzte, den Vorwurf verdient, nicht aber er. Jedermann, der klar und unbefangen denkt, sagt sich von den bisherigen Versündigungen los und bekennt sich zu dem unanfechtbaren Axiom: Wer nur leicht fiel, der kann sich leicht erheben, aber auch leicht wieder fallen. Je schwerer einer fehlte, desto schwerer kommt er wieder auf, doch umso sicherer steht er dann auf seinen neuen Füßen. Es ist nicht nur in psychologischer Beziehung, sondern auch noch anderweit sehr falsch, dem zur Gesellschaft Zurückgekehrten umso mehr zu misstrauen, je tiefer sein Fall gewesen ist. Vielmehr lehrt die einfachste Logik ebenso wie die tägliche Erfahrung, dass er ganz im Gegenteil der Versuchung viel besser widersteht als der leicht oder gar nicht Bestrafte, denn er hat sich kennen und verachten gelernt. Und je längere Zeit zwischen damals und jetzt vergangen ist, umso weniger ist es angezeigt, noch auf das Vorhandensein alter Rückstände zu schließen. Nicht im scheinbar gesunden Dahinleben und auch nicht nach leichten, sondern nur nach schweren Krankheiten pflegt eine neue und meist viel kräftigere Konstitution geboren zu werden. Es wird Zeit, dies endlich auch auf das Gebiet des Ethischen anzuwenden: Nicht nach der scheinbaren Größe der Schuld messt euren gegenwärtigen Zweifel, sondern nach der Größe der damaligen Katastrophen wachse euer jetziges Vertrauen. Denn es ist hier auf diesem Gebiet genauso wie auf allen andern, dass es keine Besserung gibt, als nur durch Katastrophen. Und wer die Kraft besaß, solche Verhängnisse niederzuringen, der ist zu schützen, nicht aber zu vernichten.

Und noch einen zweiten Punkt gestatte ich mir hier festzustellen. Ich darf dies nicht unterlassen, obgleich ich noch am anderen Ort auf Herrn Rudolf Lebius zurückzukommen habe. In dem mir auf meine Anzeige von der Königlichen Staatsanwaltschaft zugegangenen Einstellungsbeschluss heißt es nämlich: „Der Sachsenstimmenartikel vom 11. September 1904 stellt sich objektiv als ein rein sachlich gehaltener dar, der zwar nach manchen Richtungen hin Tadel ausspricht, der aber gleichzeitig verschiedenfach Seiten Mays hervorhebt, die der Verfasser bewundert. Er geht nach keiner Richtung über eine zulässige sachliche Kritik hinaus.“

Dieser Sachsenstimmenartikel befindet sich neben dem Einstellungsbeschluss im ersten Kapitel dieses Buches. Ich habe mich dort jeder subjektiven Bemerkung enthalten und tue dies auch jetzt noch. Vollständig objektiv zu konstatieren aber habe ich Folgendes:

Erstens behandelt der erwähnte Artikel einen Besuch, den ich dem Herrn Lebius bei mir erlaubte. Ich zog aber aus nahe liegenden Gründen einen Zeugen hinzu, der die ganze Unterredung vom ersten bis mit dem letzten Wort hörte. Ich weiß nichts davon, dass dieser Zeuge von der Staatsanwaltschaft vernommen worden ist. Er kennt den Artikel und bezeichnet ihn als eine einzige, große, böswillige Verzerrung und Fälschung unserer Unterredung. Er stellt auf 200 Zeilen genau 75 Behauptungen fest, die nicht auf Wahrheit fußen. Er ist ebenso wie ich jederzeit bereit, dies nachzuweisen.

Zweitens sagt Friedrich Hebbel auf Seite 20 seines zehnten Bandes: „Lessing macht es mit Recht zur moralischen Bedingung aller Kritik, die sich nicht von vornherein um den Kredit bringen will, dass dem Kritiker von einem Autor nie mehr bekannt sein dürfe, als das zu besprechende Werk selbst ihm verrate; auf den Missbrauch amtlicher Erfahrungen sind sogar angemessene Strafen gesetzt.“

Ich bemerke auch hierzu nichts; aber ich gestatte mir, anzunehmen, dass Lessing und Hebbel doch wohl Männer waren, welche genau wussten, was man unter einer „zulässigen, sachlichen Kritik“ zu verstehen hat. Ich lese daraufhin den Lebius-Artikel mit seinen 75 persönlich zugespitzten Punkten noch einmal durch und lege ihn dann den Manen[9] dieser beiden berühmten deutschen Dichter und kritischen Autoritäten in die Hände. Gegen den oben gekennzeichneten „Missbrauch amtlicher Erfahrungen“ von Seiten des Herrn Lebius haben wir dann später aufzukommen. Für jetzt erübrigt nur noch, mein im vorigen Kapitel gegebenes Versprechen zu erfüllen und die dort erwähnten vier Schriftstücke hier anzufügen. In welcher Absicht dies geschieht, habe ich an dem angegebenen Ort bereits gesagt.

 

 

 

No. 1

Herrn Geheimen Hofrat, Rektor magnificus, Professor Dr. Gurlitt, Dresden

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Sehr geehrter Herr!

 

Soeben lese ich Ihre Erklärung im „Dresdner Journal“ vom 9.2.05. Man ist also gewillt, diese geradezu lächerliche Angelegenheit immer wieder aufzuwärmen. Da beeile ich mich denn, Sie um Ihrer selbst willen zu ersuchen, die dort erwähnten, Ihnen „von verschiedenen Seiten zugegangenen Anfragen“ ja nicht etwa in den Papierkorb zu werfen, sondern sorgfältig aufzubewahren. Sie werden nämlich Gelegenheit finden, sich durch Vorzeigen derselben als den Mann zu legitimieren, der jene Anfrage nach mir nur aus höchsten und reinsten Gründen an das Königliche Ministerium gerichtet hat, nicht aber in Beeinflussung von Personen, welche der Herausgeberin des einst so hochinteressanten „Venustempels“ dienen.

Dieser „Venustempel“ war ein ganz unbeschreibliches Werk über die allerniedrigste, venerische Kloakenliebe, mit nackten Frauen und Geschlechtsteilen, in hundert verschiedenen Lagen und Zuständen abgebildet. „Das ist unser schönstes Werk“, pflegte Frau Münchmeyer zu sagen, „das bringt Geld, viel, viel Geld!“ Aber die Dresdner Sittenpolizei war anderer Meinung. Sie hielt diese Geldquelle für skandalös unsittlich und stellte sich eines Tages in bedeutender Anzahl ein, um den „Venustempel“ zu konfiszieren. Die Ausbeute war nicht groß, denn Herr und Frau Münchmeyer hatten Wind bekommen und die Vorräte alle gut versteckt. Hinter anderen, schnell vorgeschobenen Werken, im Fahrstuhl, von Vexierriegeln vortrefflich beschützt, an jedem verborgenen Ort standen die hohen Säulen der nackten Göttin, für fremde Augen fast unmöglich zu entdecken. Auch in den Wohnräumen war die liebe Venus untergebracht. Sie steckte sogar unter den Betten, in denen die Kinder anderer Leute schliefen. Zeugen hierfür sind noch heute mehr als genug vorhanden; sie stehen bereit. Man rief sich damals über den Münchmeyerschen Hof herüber und hinüber lachend zu, in wie köstlicher Weise die Sittenpolizei der Haupt- und Residenzstadt Dresden auf Jagdweg No. 13 „gemünchmeyert“ worden sei! Das war zur Zeit, als ich der Schwager von Frau Münchmeyer werden und ihre Schwester heiraten sollte. Ich lehnte aber ab, kündigte meine Stelle als Redakteur und ging. Vexierschlösser, um verbotene „Venustempeleien“ vor der Polizei verstecken zu können, das passte nicht in meinen Lebensplan.

Warum ich Ihnen das erzähle, Herr Rektor? Weil Sie mir Leid tun! Es handelt sich zwar jetzt nicht mehr um den alten „Venustempel“, aber doch um etwas nicht weniger schlimmes, nämlich um fünf, sage fünf Romane von abgrundtiefer Unsittlichkeit, die ich verschwinden lassen will, damit die deutsche Volksseele nicht länger mehr von ihnen vergiftet werde. Von wem diese giftigen Stellen stammen, ob von mir oder von späteren anderen, hat erst in zweiter Linie zu stehen, obgleich es sich grad hierbei um meine Schriftstellerehre handelt. Vor allen Dingen und zunächst hat diese Münchmeyersche Eiterbeule aufzuhören, ihre Jauche weiter zu ergießen. Und da mein Name es ist, den man bei dieser moralischen Volksvergiftung reklametrommelnd in die Gassen schreit, so habe ich nicht nur die heilige Pflicht, sondern auch das unumstößliche Recht, diesem skandalösen Treiben Einhalt zu gebieten. Hat doch der jetzige Besitzer der Firma erst kürzlich, am letzten 21. Dezember, vor allen Richtern der 6. Zivilkammer des Königlichen Landgerichts ohne alle Scheu und Scham in lauten Worten erklärt, dass „solche Stellen in Menge vorhanden seien!“

Wissen Sie, was das heißt, mein Herr? Ich kämpfe den schwersten Kampf, den man sich denken kann, um die deutsche Volksseele von dieser Pest zu befreien. Ich habe die Religion, das Gesetz, die Moral, die gute Sitte auf meiner Seite. Mir gegenüber stehen die, welche mit dieser „abgrundtiefen Unsittlichkeit“ nicht nur Hunderttausende, sondern Millionen verdienten und weiter verdienen wollen. Sie genieren sich nicht im Geringsten. Sie geben die Unsittlichkeit sogar gerichtlich zu; aber sie wollen ihre Säckel noch höher füllen, wollen weiter infizieren, weiter anstecken und vergiften, weiter demoralisieren, weiter zerstören und wehren sich gegen mein gutes Recht und meine guten Absichten wie die Geier, denen man ihren Fraß, das Aas entreissen will.

Wie ganz natürlich, habe ich alle unbefangen, loyal und unparteiisch denkenden Leute auf meiner Seite. Wer auf der anderen steht, den brauche ich nicht zu beschreiben: Er kennzeichnet sich von selbst! Es hat jahrelang durch alle Zeitungen und Journale deutscher Zunge geklungen, dass diese Romane verderblich wirken müssen. Ich weiß mich mit allen diesen Stimmen und mit der deutschen Ethik eins, indem ich um die Vernichtung dieses Aussatzes prozessiere und den Hohn und Spott aller derer ruhig auf mich nehme, die sich vom Geruch der eiternden Stelle angezogen fühlen.

Sie können sich also denken, wie betroffen ich war, als ich auch Ihren Namen auf der Seite derer las, die ich mit gutem Grund nicht näher bezeichne. Und warum Sie? Meines „amerikanischen Doktortitels“ wegen. Wie lächerlich! Den führe nämlich nicht ich, sondern die Firma Münchmeyer. Ich habe dieser Firma extra und mit größtem Nachdruck verboten, mich Doktor zu nennen; sie hört trotzdem nicht auf und hat mich erst vor noch nicht langer Zeit in sechs Zeilen viermal „Herr Dr. phil. Karl May“ tituliert. Ich muss also sehr bitten, mich mit derartigen Vorwürfen zu verschonen und dafür lieber Münchmeyers wegen Bombardement mit unerlaubten Amerikanern gerichtlich bestrafen zu lassen!