KARL MAY’s

GESAMMELTE WERKE

BAND 74

 

 

DER VERLORENE SOHN

Bearbeitung aus

Der verlorene Sohn

 

 

ROMAN

VON

KARL MAY

 

 

 

Herausgegeben von Lothar Schmid

© 1985 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1574-1

 

 

 

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

 

Inhalt

 

Geleitwort

1. Zwei Sträflinge

2. Die alte Uhr

3. Helfer in der Not

4. Menschenhändler

5. Im Haus der Melitta

6. Ermittlungen

7. Im Abgrund

8. Ein Sklave des Geldes

9. Am Spieltisch

10. Das große Los

11. Die Versuchung

12. Falschmünzer

13. Das Spiel ist aus!

14. Der „Pascherkönig“

15. Naumann und Borwald

16. Auf der Flucht

17. Verfolgung

18. Der Neffe aus Amerika

19. In Langenstadt

20. Wilhelm Heilmann auf Verbrecherjagd

21. Das Ende des verlorenen Sohns

22. Hendschels großer Tag

23. Schloss Randau

24. Eine Trauerfeier

Nachwort


 

Der vorliegende Roman spielt zu Beginn der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts und ist ein in sich abgeschlossener Teil des von Karl May in den Jahren 1884/1885 geschriebenen dritten Münchmeyer-Romans „Der verlorene Sohn“ (Bde. 64, 65, 74, 75 und 76 der Ges. Werke). Über die Entstehungsgeschichte, den Werdegang und die Geschicke der fünf Münchmeyer-Romane findet man Näheres in Bd. 34 der Ges. Werke „ICH“ und in den Sonderbänden „Karl-May-Bibliografie 1913-1945“ und „Der geschliffene Diamant“

.

Geleitwort

 

Von Anbeginn gehörte es zu den schwierigsten Aufgaben des Karl-May-Verlages, den Gesammelten Werken jene Romanreihen anzugliedern, die von Karl May ursprünglich für den Verlag H. G. Münchmeyer verfasst worden waren. Der Autor hatte sich in seinen letzten Lebensjahren von diesen gedruckten Texten distanziert; er bezeichnete sie als Fälschungen, die er für immer aus dem Buchhandel verbannen wollte. (Näheres in: Karl May, Ein Schundverlag. [Dresden 1905]. Reprint im Karl-May-Verlag, Bamberg 1982, Neudruck in Band 83 der Gesammelten Werke, Am Marterpfahl, Bamberg 2001).

Klara May, die Witwe des Schriftstellers, und der kämpferische Karl-May-Verehrer und -Verteidiger E. A. Schmid, die zusammen mit dem früheren Verleger F. E. Fehsenfeld 1913 den Karl-May-Verlag gründeten, sind den Vorstellungen und Wünschen Karl Mays mit aller Sorgfalt nachgekommen. Als Erbin der Urheber- und Urheberpersönlichkeitsrechte hielt Frau May am 21. August 1930 vertraglich Folgendes fest: „Ich erkläre mich ausdrücklich damit einverstanden, daß der Mitinhaber und verantwortliche Geschäftsführer Dr. jur. Euchar Albrecht Schmid, unterstützt von den Mitarbeitern seiner Wahl, an den Werken meines verstorbenen Mannes, des Schriftstellers Karl May, alle nötigen Verbesserungen und Überfeilungen bewirkt. Die von Dr. Schmid und seinen Mitarbeitern vorgenommenen Bearbeitungen, die Karl May selber nicht mehr vornehmen konnte, haben als einzig giltige Ausgabe letzter Hand, als editio ne varietur zu gelten.“

Die Arbeit des Karl-May-Verlages ist erfolgreich verlaufen. Nach den berühmten Reiseromanen haben Schloss Rodriganda, Trapper Geierschnabel, Im Tal des Todes, um nur einige Titel aus den Bänden 51–73 der Gesammelten Werke zu nennen, rasch die Gunst der Leser errungen und außerordentlich hohe Auflagen erzielt. Die Beliebtheit Karl Mays ist ständig gestiegen.

Band 64 Das Buschgespenst und Band 65 Der Fremde aus Indien bringen jeweils in sich abgeschlossen die zentralen Handlungsstränge des früher fünfbändigen Romans Der verlorene Sohn. Diese 1935 bzw. 1939 vollendeten Arbeiten rundeten das Lebenswerk meines Vaters, des Karl-May-Verlegers E. A. Schmid, ab. Ich war zuletzt sein zweitjüngster Mitarbeiter. Mein Bruder Roland Schmid gab ab 1958 die Bände 66–73 heraus, die andere Erzählungen Mays enthalten.

Das vorliegende Buch sollte schon in den 30er-Jahren in einer von Franz Kandolf gestalteten Fassung erscheinen, wurde jedoch in den politischen Wirrnissen zurückgestellt.

Nunmehr sind die bisher im Karl-May-Verlag noch nicht veröffentlichten Einzelepisoden aus der Riesenschöpfung Der verlorene Sohn in einer zusammenhängenden Geschichte vereint worden. Es ist ein Detektivroman, über dem eine eigentümliche Spannung liegt. Man wird in Mays hintergründige Abenteuerwelt versetzt – in die Zeit vor 100 Jahren – und von Verfolgungsjagden, aparten Verkleidungsszenen und vielen anderen Begebenheiten gefesselt.

Das Nachwort behandelt die Editionsgeschichte und autobiografische Spiegelungen.

Die Gestaltung des Bandes 74 erwies sich infolge der besonderen Umstände als ungemein beschwerlich. Es galt, die vermutlich von fremder Hand stammenden Schwächen aus der Kolportage-Vorlage schonend herauszufiltern, dabei aber die alten Texte so nah wie möglich zu erhalten und nur so weit wie nötig zu verändern.

Der Karl-May-Verlag dankt den Herren Ekkehard Bartsch, Hans-Robert Hamacher, Franz Kandolf †, Hartmut Kühne, Dr. Christoph F. Lorenz (dessen Konzeption zu Grunde gelegt wurde), Dr. Erich Mörth † sowie einer Reihe weiterer erstrangiger Fachkenner für die gute Zusammenarbeit und für wertvolle Hinweise.

 

Lothar Schmid

 

 

 

1. Zwei Sträflinge

 

Die Stadt Rollenburg hatte ihren Namen durch das Schloss erhalten, das sich über ihr auf dem Felsen erhob. Die Rollenburg, im dreizehnten Jahrhundert erbaut, war lange Zeit Sitz eines berühmten Raubrittergeschlechts gewesen. Spätere Besitzer hatten sie vergrößert. Mehrere Flügel waren im Lauf der Zeit angebaut worden; als das Anwesen eines Tages in staatlichen Besitz übergegangen war, wurde der größere Teil des Schlosses in ein Zuchthaus umgewandelt und der kleinere diente als Aufenthalt für Geisteskranke.

Seit dieser Zeit verstand man unter der Redensart ‚nach Rollenburg kommen‘ nichts anderes als die Einlieferung ins Zucht- oder Irrenhaus.

Die Strafanstalt war nach dem gemischten System eingerichtet; es gab also Zellen für Isolierhaft, aber auch Schlaf-und Arbeitssäle für Kollektivhaft. Der Direktor war ein Hauptmann außer Dienst; er entstammte einem alten Adelsgeschlecht und hatte für seine Verdienste als Leiter dieses Zuchthauses den Titel Regierungsrat erhalten.

Die Gefangenen in Rollenburg gingen unterschiedlichen Beschäftigungen nach; da arbeiteten Schmiede und Schlosser, Schreiner und Schneider, aber auch Schuster, Weber und Zigarrenmacher in voneinander getrennten Räumen. Die Zellenhaft konnte entweder als eine Vergünstigung oder als eine Strafverschärfung betrachtet werden. Eine Strafverschärfung war sie für gefährliche, unverbesserliche Häftlinge, die man nicht mit den anderen Gefangenen in Berührung kommen lassen wollte. Als Vergünstigung aber konnten sie Gefangene empfinden, denen man noch ein gewisses Ehrgefühl zutraute, sodass die Gemeinschaft mit gewöhnlichen Verbrechern für sie eine Verschlimmerung der Strafe bedeutet hätte.

Es war Abend geworden. In den Sälen brannte Gaslicht und die Zellengefangenen hatten Lämpchen erhalten, bei deren Schein sie ihre Arbeit verrichteten.

In einem engen Eckturm mit nur zwei kleinen Zellen, die durch eine Tür miteinander in Verbindung standen, saß ein Gefangener am Tisch und schrieb. Trotz seiner gebeugten Stellung konnte man erkennen, dass er eine hohe, breite Figur besaß. Er trug Sträflingstracht, leinene Hose und Jacke und ein graues Halstuch. Ein Zeichen am Jackenärmel deutete an, dass er zur ‚Disziplinarklasse‘ gehörte, also zu den wenigen Gefangenen, die sich durch ein tadelloses Betragen das Vertrauen ihrer Aufseher erworben hatten. Er mochte fünfzig Jahre alt sein, sah aber wesentlich älter aus. Seine Wangen waren eingefallen, seine Lippen bleich, und er machte ganz den Eindruck eines Mannes, der schweres Leid erlebt hatte. Sein Haupt war nahezu kahl geworden und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

In einer solchen Anstalt fiel eine Unmenge Schriftverkehr an. Diese Beschäftigung erhielten nur solche Häftlinge, die durch ihren früheren Beruf dazu geeignet schienen und sich durch gute Führung ausgezeichnet hatten. An der Zellentür dieses Gefangenen hing die Nummer 306 und in dem Notizbuch des Aufsehers, der ihn zu bewachen hatte, stand: ‚Nummer 306, fünf Jahre wegen Unterschlagung. Karl Petermann, Gutsinspektor. Führung: sehr gut.‘ In diesem traurigen Haus wurde keiner bei seinem Namen, sondern nur mit der Nummer gerufen, die ihm bei seiner Einlieferung zugeteilt worden war.

Die Feder von ‚Nummer 306‘ flog ohne Pause über das Papier. Ihr Knirschen war das einzige Geräusch, das sich hören ließ. Das einzige? Nein, denn eben hob der Gefangene den Kopf und lauschte. Draußen ließen sich nahende Schritte vernehmen. Der Türriegel klirrte, ein Schlüssel kreischte im Schloss und der Aufseher erschien in der Tür.

„Dreihundertsechs“, sagte er.

„Hier!“

„Mitkommen!“

Der Gefangene hatte sich erhoben und stand in respektvoller Haltung vor dem Wärter.

„Bitte, wohin, Herr Aufseher?“

„Danach hast du nicht zu fragen. Vorwärts!“

Der Gefangene folgte dem Beamten aus der Zelle hinaus, die enge Treppe hinab und über mehrere Innenhöfe bis in einen Korridor, in dem bereits einige Gefangene in Reihe nebeneinander standen. Dieser Flur führte zum Arbeitszimmer des Direktors. Nun wusste ‚Nummer 306‘ also, zu wem er kommen sollte. Der Aufseher übergab ihn an einen anderen Wächter, der hier im Korridor Dienst tat, und entfernte sich dann. Der Gefangene musste nun mit den anderen Häftlingen dort warten, bis er aufgerufen wurde. Dieser Korridor war allen Insassen des Zuchthauses sehr gut bekannt. Hier hatte mancher vor Angst geschwitzt oder gezittert, wenn er hergeführt worden war, um von dem Herrn Direktor eine Strafe diktiert zu erhalten. Der Korridor galt als der verhängnisvollste Ort im ganzen Gefängnis.

Die Gefangenen standen da nebeneinander, ohne sich anzusehen oder auch nur einen Laut von sich zu geben. Wer es gewagt hätte, dem Nachbarn ein Wort zuzuflüstern, wäre sofort hart bestraft worden. Sooft eine Nummer von dem Aufseher aufgerufen wurde, trat der Betreffende vor, um in das Zimmer des Direktors einzutreten, das er später verließ – entweder traurig oder seltener mit befriedigter Miene, je nachdem, was ihm von dem gestrengen Leiter der Anstalt mitgeteilt worden war.

Endlich kam auch ‚Nummer 306‘ an die Reihe. Er trat ein und blieb in strammer Haltung an der Tür stehen. Der Direktor saß in Uniform an seinem Schreibtisch und notierte sich eine Bemerkung über den Gefangenen, der ihn soeben verlassen hatte. Sein Gesicht war streng und seine Augen blickten finster auf das Papier. Noch schreibend fragte er:

„Wer jetzt?“

„Nummer 306, Herr Regierungsrat.“

Da hob er den Kopf, und als sein Blick auf den Gefangenen fiel, erhellten sich seine Gesichtszüge.

„Dreihundertsechs“, sagte er. „Nicht wahr, dein Name ist Petermann?“

„Ja.“

„Wie lange hast du hierzubleiben?“

„Fünf Jahre.“

„Wie viel davon verbüßt?“

„Vier Jahre.“

„Bist du hier einmal bestraft worden?“

„Nein, Herr Regierungsrat!“

Das Gesicht des Direktors erhellte sich immer mehr. Er langte neben sich und ergriff ein kleines Aktenheft, in dem er zu blättern begann.

Er nickte mit dem Kopf, räusperte sich und fragte dann:

„Weshalb wurdest du bestraft?“

„Wegen Unterschlagung.“

„Du warst natürlich unschuldig?“

„Nein, Herr Regierungsrat!“

„Ah! Ganz dieselbe Antwort hast du mir bereits bei deiner Einlieferung gegeben. Das macht einen guten Eindruck. Wer seinen Fehler bekennt, ist besserungsfähig. Die meisten aber sagen, sie seien unschuldig, und dementsprechend behandelt man sie mit Misstrauen. Hier habe ich deine Personalien: ich lese, dass du Gutsinspektor gewesen bist. Wie steht es mit deiner Familie?“

Die Augen des Gefangenen füllten sich sofort mit Tränen. Er antwortete mit zitternder Stimme:

„Meine Frau ist während meiner Gefangenschaft gestorben. Sie hat die Schande nicht verwinden können.“

Der Direktor nickte ernst.

„Ja, so kommt es. Jetzt hast du ihren Tod auf dem Gewissen! Wie viel Jahresgehalt bekamst du?“

„Fünfhundert Gulden.“[1]

„Hm! Damit konntest du auskommen. Warum die Unterschlagung?“

Der Gefangene blickte vor sich nieder. Es ging wie ein schwerer Kampf über seine Züge, dann antwortete er:

„Ich hatte gespielt, Herr Regierungsrat.“

„Ach so! Wieder einmal der Spielteufel! Wie soll das später werden, wenn du entlassen bist?“

„Ich kannte das Spiel nicht. Ich hatte ja noch nie gespielt. Darum verlor ich so viel.“

„Du bist bestraft genug, ich will dir also keine Vorwürfe machen. Wo warst du übrigens angestellt?“

„Bei dem Herrn Major von Scharfenberg.“

Der Direktor machte eine jähe Bewegung.

„Wie?“, fragte er. „Bei meinem Bruder? Das habe ich nicht gewusst. Ich entsinne mich allerdings, von diesem Fall gehört zu haben. Und nun fällt mir auch der Name auf. Es gibt da eine Familie Petermann, die bereits seit Generationen in unseren Diensten steht. Der letzte Petermann, den ich persönlich kannte, war Schlossverwalter auf Waldau, das dann meinem Bruder zufiel.“

„Das war mein Vater.“

„So, so! Dich habe ich nicht gekannt. Aber, Menschenskind, das tut mir herzlich leid! Einer unserer Petermänner im Zuchthaus als mein Gefangener – und das habe ich in diesen vier Jahren nicht gewusst! Es ist nicht meine Sache, auf das Verbrechen zurückzukommen, aber – hast du dich denn nicht an meinen Bruder gewandt?“

Petermann zögerte, dann sagte er leise:

„Nein. Er selbst hat mich angezeigt und auf Bestrafung bestanden.“

„Hm! Wie lange standest du in seinen Diensten?“

„Über zwanzig Jahre.“

„Aber wohl nicht zu seiner Zufriedenheit?“

„Er hat mir nie ein tadelndes Wort gesagt.“

„Dann begreife ich erst recht nicht. Es muss seine eigene Bewandtnis damit haben. Nicht?“

Wieder blickte Petermann zu Boden, doch bald richtete er den Blick wieder fest und entschlossen auf den Direktor.

„Es gab keinerlei besondere Bewandtnis damit, Herr Regierungsrat. Ich brauchte das Geld und nahm es aus der Kasse. Der Herr Major selbst entdeckte den Verlust und ließ mich sofort arretieren. Es wäre sinnlos gewesen, mich später noch an ihn zu wenden.“

Der Direktor stand von seinem Stuhl auf und schritt einige Male nachdenklich im Zimmer auf und ab. Dann blickte er abermals in die Akten und sagte endlich:

„Morgen ist Königs Geburtstag. Seine Majestät pflegen sich kurz zuvor die Namen einiger Gefangener vorlegen zu lassen, die sich gut geführt haben. Ich erhielt heute die Liste zurück. Eine eigenhändige königliche Randbemerkung unter deinem Namen lautet folgendermaßen: ‚Das letzte Jahr seiner Strafzeit erlassen!‘“

Der Gefangene holte tief Atem. Es wollte wie Jubel in ihm aufsteigen. Der Direktor fuhr fort:

„Heute jährt sich der Tag deiner Einlieferung, du wirst also morgen Rollenburg verlassen.“

Der Gefangene wollte sprechen, aber die glückliche Nachricht übermannte ihn so, dass er kein Wort hervorbrachte. Er schlug beide Hände vor das Gesicht und weinte bitterlich.

Der Direktor ließ ihn eine Weile gewähren und sagte dann in beruhigendem Ton:

„Ich sehe, dass dich diese Nachricht ergreift, und gönne dir diese Freude. Du hast dich gut geführt und wirst hoffentlich nie wieder auf Abwege geraten. Was aber wirst du draußen anfangen?“

„Ich dachte an die Möglichkeit, doch wieder irgendeine Anstellung zu erhalten.“

„Hm! Das ist schwer. Die Leute haben gegen jeden entlassenen Sträfling Vorurteile, die leider oft durchaus begründet sind. Hast du vor deiner Einlieferung auf den Gütern meines Bruders gewohnt?“

„Natürlich“, sagte Petermann, „es gehörte zu meinen Pflichten, mich nicht nur um Schloss Waldau, sondern auch um die kleinen Güter in seiner Umgebung zu kümmern. Der Herr Major von Scharfenberg hatte die Güte, meine Frau und meine Tochter Valeska trotz meiner...“, hier stockte er, fuhr aber tapfer fort, „...Verfehlungen weiter in der Nähe von Waldau wohnen zu lassen. Nach meiner Verurteilung und dem Tod meiner Frau hielt es Valeska aber nicht länger dort. Sie ging in die Residenz und wurde dort Wirtschafterin bei einer Dame. Seit einiger Zeit habe ich nichts mehr von ihr gehört.“

Dabei senkte er betrübt den Kopf. Der Direktor empfand tiefes Mitleid mit dem ehemaligen Gutsverwalter seiner Familie. Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens entschied er daher in festem Ton:

„So gehst auch du in die Residenz zurück. Eigentlich soll ein jeder entlassene Sträfling für eine bestimmte Zeit an den Ort geschickt werden, wo er geboren ist. Das ist in vielen Fällen mit großen Nachteilen verbunden. Er ist gezwungen, jahrelang in einer Umgebung zu leben, wo man ihm weder Verzeihung noch Arbeit zuteilwerden lässt. Ich werde dir aber ein Vertrauenszeugnis geben, das berechtigt dich darüber hinaus zum Aufenthalt an jedem beliebigen Ort. Auf diese Weise wird es dir leichter fallen, eine neue Existenz aufzubauen. Wie viel hast du in den vier Jahren hier verdient?“

„Fünfzehn Gulden.“

„Das ist freilich wenig. Na, werden sehen! Höre mir gut zu: Jeder, der durch seine Schuld dieses Haus betritt, verliert während seiner Strafzeit den bürgerlichen Namen und den Anspruch auf die gesellschaftliche Anrede ‚Sie‘, er wird geduzt und bei seiner Nummer genannt. Jetzt, da ich dich entlasse, gebe ich dir zurück, was dir nun wieder gehört, Namen und Anrede. – Herr Petermann, ich wünsche von ganzem Herzen, dass Sie lauter aus den Prüfungen hervorgehen mögen, die vielleicht noch vor Ihnen liegen. Sie haben sich durch eine ausgezeichnete Führung mein Vertrauen erworben, arbeiten Sie von jetzt an daran, sich das Vertrauen Ihrer Mitmenschen zu erwerben. Hier meine Hand! Gehen Sie mit Gott und vergessen Sie nicht, sich nötigenfalls an mich zu wenden.“

Der Gefangene nahm die dargebotene Hand und taumelte dann wie betrunken vor Freude zur Tür hinaus.

Der Nächste trat ein. Der Direktor nahm von ihm zunächst keine Notiz. Er fertigte das Vertrauenszeugnis für Petermann aus und schrieb dann folgende Anweisung an den Anstaltsrendanten:

‚Dem morgen früh zu entlassenden Sträfling Karl Petermann sind vor seinem Fortgang dreißig Gulden aus der Anstaltskasse auszuhändigen und mir zu berechnen.‘

Erst als er diesen Zettel unterschrieben hatte, wandte er sich an den eingetretenen Gefangenen.

„Welche Nummer?“

„Achthundertundsechzig.“

Der Direktor suchte unter den vor ihm liegenden Notizen nach dieser ‚Nummer 860‘. Er hatte den Markierungen am Jackenärmel entnehmen können, dass gegen den betreffenden Sträfling wiederholt Disziplinarstrafen verhängt worden waren. Das machte sein Gesicht wieder streng und finster.

„Wie heißt du?“

„Heilmann.“

„Was warst du?“

„Buchbinder.“

„Weshalb bestraft?“

Der Gefangene war ein noch junger Mann, der etwas über zwanzig Jahre zählen mochte. Bei der letzten Frage zögerte er mit der Antwort und blickte trotzig vor sich nieder.

„Nun, hast du gehört? Weshalb bist du bestraft worden?“

„Wegen Diebstahls“, stieß der Gefragte hervor.

„Wie lange?“

„Zwei Jahre.“

„Natürlich bist du unschuldig?“

„Ja!“

Da fuhr der Direktor mit einem Ruck empor.

„Ah! Wirklich?“, fragte er.

„Ja. Ich bin es nicht gewesen.“

„So, so! Warte einmal!“

Er hatte jetzt die Einlieferungsakten des Buchbinders gefunden und suchte darin nach. Dann sagte er:

„Ja. Hier steht es: Ist ungeständig. Das ist keineswegs eine Empfehlung. Ich werde...“

„Wenn ich unschuldig bin, kann ich nicht geständig sein!“, fiel der Gefangene ein.

Der Anstaltsdirektor fuhr ihn scharf an:

„Schweig! Du hast nur zu antworten, wenn ich frage! Übrigens lese ich hier, dass du während deiner Haft zwölfmal bestraft worden bist, und zwar wegen Faulheit und Widersetzlichkeit. Meinst du vielleicht, dass dir das zur Ehre gereicht?“

„Nein, Herr Regierungsrat.“

Er warf bei diesen Worten einen so eigentümlichen Blick auf den Direktor, dass dieser sagte:

„Nun? Was gibt es noch?“

„Ich möchte bitten, mich aussprechen zu dürfen!“

Der Direktor blickte den Sträfling durchbohrend an und sagte unfreundlich:

„Ich habe wenig Zeit!“

„Es ist ganz kurz.“

„Nun, so lass hören!“

„Sie meinen es sicher gut mit den Gefangenen, Herr Regierungsrat, das weiß ich, obgleich Sie mich zwölfmal bestraft haben. Viele sagen von sich, sie seien unschuldig. Aber bitte, denken Sie einmal, wie es ist, wenn einer tatsächlich unschuldig ist. Mit welchen Gefühlen wird er hier eintreten, sich den Namen rauben und das Haar scheren lassen. Er wird behandelt wie jeder Spitzbube, nein, noch schlimmer, weil man ihm ja nicht glaubt und ihn noch strenger behandelt. Er wird mehr und mehr verbittert. Er soll arbeiten für täglich einen Kreuzer und ist unschuldig, er soll – – ah, ich will lieber schweigen, denn Sie haben keine Zeit und mir schadet das Sprechen nur. In zwei Jahren zwölfmal bestraft, das hat mir fast zweihundert Tage Kostentziehung eingebracht – und doch bin ich und bleibe ich unschuldig!“

Der Beamte blickte finster zu ihm herüber und sagte nach einer Weile:

„Ich bin nicht dein Untersuchungsrichter. Man hat dich meiner Obhut anbefohlen und darein hattest du dich zu fügen. Bist du unschuldig, so stehen dir noch jetzt Wege offen, deine Ehre wiederherzustellen. Hier aber hast du dich schlecht geführt, ein gutes Zeugnis kann ich dir also unmöglich geben.“

Die Augen des Gefangenen wurden feucht.

„Dann behalten Sie mich nur lieber gleich hier, Herr Regierungsrat“, sagte er.

„Warum?“

„Weil man mich doch bald wieder einliefern wird.“

„Ach so! Du nimmst dir also bereits vor, rückfällig zu werden! Willst du deine Unschuld so beweisen?“

„Das kann mir nicht einfallen. Aber ich bin gezwungen, zwei Jahre lang in meinem Geburtsort zu bleiben. Anderswo werde ich sofort ausgewiesen. Ich komme vom Land, wo es für einen Buchbinder keine Arbeit gibt. Wer will aber überhaupt einen Zuchthäusler anstellen? Kein Mensch! Was habe ich also zu erwarten? Verachtung, Hunger und Not. Dazu kommt die Polizeiaufsicht! Wie kann ich gegen das alles ankämpfen? Es wäre wirklich am besten, ich könnte hierbleiben.“

Das war im Ton echten Schmerzes gesprochen. Der Direktor schaute den jungen Mann nachdenklich an, dann sagte er:

„Ich könnte ja eine Ausnahme machen und dich in die Residenz schicken. Dort wirst du auf jeden Fall eine Arbeit finden.“

„Bei wem? Kein Meister wird einen ehemaligen Sträfling in Dienst nehmen wollen.“

„Der Staat hat die Verpflichtung, dir Arbeit zu geben.“

„Ja, er wird mir welche geben, aber wo? Im Armen- oder Arbeitshaus, oder man steckt mich unter die städtischen Straßenkehrer.“

„Hm! Wie viel hast du hier verdient?“

„Nichts“, entgegnete der Sträfling bitter.

„Weil du nicht gearbeitet hast!“, hielt der Direktor ihm entgegen.

„Ich wollte ja arbeiten. Aber mir Buchbinderarbeit zu geben, das hielt der Arbeitsinspektor für eine Straferleichterung, die ein so renitenter Mensch wie ich nicht verdient hatte. Er steckte mich also unter die Furnierschneider. Ich war diese Arbeit nicht gewöhnt und bewältigte mein Pensum nicht. Ich wurde wegen Faulheit mit Kostentziehung bestraft, bekam nichts zu essen und konnte noch weniger arbeiten als vorher.“

Der Direktor fühlte sich von diesen Bemerkungen irgendwie angerührt, sodass er sich weiter erkundigte:

„Hast du Verwandte?“

„Keine Seele.“

„Oder Freunde?“

„Einen alten Paten. Der ist aber der Vater des Mannes, der mich ins Unglück gestürzt hat.“

„Du hast also nur für dich allein zu sorgen, das ist schon eine große Entlastung. Übrigens will ich dir deine mehr als offenen Reden verzeihen und dir zum Beweis, dass es doch Menschen gibt, die nicht dein Unglück wollen, zehn Gulden aus meiner Kasse gutschreiben. Man wird sie dir morgen früh bei deiner Entlassung auszahlen. – Und nun leben Sie wohl, Herr Heilmann! Verzagen Sie nicht, werfen Sie die Erbitterung von sich fort! Treten Sie Ihren Mitmenschen mit einem offenen, freundlichen Gesicht entgegen und man wird dann nicht hart und rücksichtslos mit Ihnen umgehen können. Ich entlasse Sie in die Residenz. Gehen Sie morgen früh mit Gottes Segen hier fort, halten Sie sich wacker, und wenn ich Ihnen im Leben wieder begegne, so würde ich mich freuen, Sie als tüchtigen Meister wiederzusehen.“

Er reichte ihm die Hand.

„Herr Regierungsrat“, sagte der Buchbinder mit bebender Stimme, „hätte bei meiner Einlieferung hier nur ein einziger Mensch solche mitfühlenden Worte zu mir gesagt, ich wäre nicht zwölfmal bestraft worden.“

Er ging und der Nächste trat ein. Der Direktor fertigte einen nach dem anderen ab, bis endlich der Letzte ihn verlassen hatte. Nun war sein Tagespensum beendet und er zog sich in seine Privatwohnung zurück. Um diese Zeit wurde mit der Glocke das Zeichen gegeben, dass die Gefangenen sich an ihre Schlafstellen zu begeben hatten.

 

*

 

Der Regierungsrat und seine Frau hatten Besuch zum Abendessen. Sein Neffe, Bruno von Scharfenberg, befand sich bei ihm. Der Beamte war während des Abendessens ungewöhnlich schweigsam. Als er darauf aufmerksam gemacht wurde, sagte er:

„Ich habe heute Veranlassung zum Nachdenken erhalten. Morgen geht ein Gefangener fort, den ich bisher für einen frechen Lügner gehalten habe, weil er stets behauptete, unschuldig zu sein. In der letzten Stunde bin ich aber an meiner eigenen Beurteilung irre geworden.“

„Ist es denn überhaupt möglich, dass jemand unschuldig verurteilt werden kann?“, fragte seine Frau.

„Ich muss zugeben, dass solche Fälle leider vorkommen. Der Indizienbeweis lässt stets die Möglichkeit zu, dass die Justiz sich irrt.“

Der Neffe trug die Uniform eines Gardeleutnants. Er wirkte nervös. Offenbar interessierte er sich für dieses Thema, denn er fiel mit einer wahrnehmbaren Wärme ein:

„Indizienbeweis, lieber Onkel? Oh, nicht bloß das! Der Richter kann sich selbst dann irren, wenn der Angeklagte sich zu der Tat bekannt hat.“

„Wohl kaum!“

„O doch!“

„Kein Mensch wird ein Verbrechen eingestehen, das er nicht begangen hat!“

„Warum nicht?“

„Welche Gründe sollten ihn dazu bringen?“

„Zunächst Selbsttäuschung. Es soll vorgekommen sein, dass jemand glaubte, einen anderen erschossen zu haben. Er wurde auf sein Geständnis hin verurteilt. Später stellte es sich eher zufällig heraus, dass die Todeskugel gar nicht aus dem Lauf seines Gewehrs stammen konnte. Auch könnte sich ein Unschuldiger zu einer Tat bekennen, um sich für den wahren Schuldigen aufzuopfern.“

Da warf der Regierungsrat rasch ein:

„Dann ist der Schuldige entweder ein – – Feigling oder ein Schurke.“

Über die Stirn des Leutnants flog eine plötzliche Röte. Er räusperte sich und sagte:

„Vielleicht gibt es hier auch Sonderfälle.“

„Kann ich mir nicht vorstellen. Doch, apropos, wie war das denn damals eigentlich mit der Geschichte um Karl Petermann, den Inspektor eurer Güter?“

Der Leutnant erblasste sichtlich, sodass es seinem Onkel sofort auffiel.

„Du erschrickst ja förmlich!“, sagte er. „Freilich muss es unangenehm sein, einen solchen langjährigen Angestellten vor dem Strafrichter zu sehen. Konnte dein Vater nicht Gnade walten lassen?“

„Er hätte es können, tat es aber leider nicht.“

„Ich begreife ihn nicht. War die Summe denn gar so sehr bedeutend?“

„Fünftausend Gulden“, antwortete der Leutnant. „Für den Vater war das aber kein so riesiger Betrag, dass er ihn nicht wieder hätte erwirtschaften können.“

„So begreife ich die Härte meines Bruders erst recht nicht. Es mögen da Dinge mitgespielt haben, die wir vielleicht nicht kennen, lieber Bruno?“

Es war dem Leutnant anzusehen, dass dieses Gespräch für ihn ganz und gar nicht erquicklich war; dennoch fuhr er fort:

„Aber dabei fällt mir ein, dass Petermann zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Ich glaube, es waren fünf Jahre.“

„Das stimmt, ja“, bestätigte der Direktor.

„Nun, da müsste er sich doch hier bei dir befinden?“

„Er ist tatsächlich in diesem Zuchthaus, wie ich allerdings erst heute entdeckt habe. Ich wusste zwar, dass ein gewisser Petermann wegen Unterschlagung auf fünf Jahre die ‚Nummer 306‘ bekommen hatte, aber ich konnte nicht ahnen, dass es sich um euren Petermann handelte. Ich habe ihn hier selten gesehen.“

„Kaum denkbar!“

„Du weißt vielleicht, dass die Einlieferungsakten die Angabe des Verbrechens enthalten, aber nicht viel mehr. So kam es, dass ich gar nicht wusste, dass euer Karl Petermann mein Gefangener ist. Nun, er hat sich bei mir gut geführt und wenigstens ein Erfolg ist schon da: Ich habe ihn der Gnade Seiner Majestät vorgeschlagen. Karl Petermann ist begnadigt und wird morgen entlassen.“

Der Leutnant fuhr von seinem Sitz auf.

„Morgen? Ist das wahr?“, fragte er.

„Ja! Ich habe es ihm vorhin mitgeteilt. Nach der Morgenandacht, also gegen acht Uhr früh, kann er gehen.“

„Hat er dir gesagt, wohin?“

„Er fährt in die Residenz, wo seine Tochter lebt.“

„Aber ohne Mittel, ohne feste Stellung in Aussicht?“

„Nun, ich habe ihm dreißig Gulden überwiesen, da ist er wenigstens fürs Erste sorgenfrei. Findet er keine Stellung, so kümmere ich mich weiter um ihn.“

Da streckte der Neffe dem Onkel die Hand entgegen und sagte in warmem Ton:

„Das hast du gut gemacht. Er ist wohl nicht so schuldig, wie es den Anschein hat. Er hatte nämlich lange Jahre die Kasse geführt, ohne dass sie je überprüft worden war. Er glaubte, in einigen Tagen das, was er ihr entnommen hatte, wieder zurücklegen zu können. Er wollte keineswegs unterschlagen, sondern nur für ganz kurze Zeit eine Anleihe machen. Er hat ja auch wirklich alles später auf Heller und Pfennig ersetzt.“

Der Regierungsrat schüttelte den Kopf.

„Wenn das so ist, so ist mein Bruder geradezu unverständlich grausam gewesen. Aber wie auch immer, ich gebe Petermann ein Vertrauenszeugnis mit und ich sage dir, dass ich dies nur höchst selten tue. Leider liege ich schon seit Langem mit dem Bruder im Zwist, aber bist du bei ihm, so rede ihm doch einmal zu. Er sollte sich des Petermann annehmen!“

Der Leutnant zuckte die Achseln.

„Ich darf mit ihm von dieser Angelegenheit gar nicht sprechen, werde aber doch noch einen Versuch machen.“

Damit war die Sache erledigt und bald zog sich der Regierungsrat zurück, um sich zur Ruhe zu begeben.

 

*

 

In der Frühe versammelten sich die Gefangenen wie jeden Morgen zur Andacht. Der Geistliche ließ zunächst das Lied ‚Die güldne Sonne‘ anstimmen, dann trug er den Eingangspsalm vor und sprach ein Gebet, um die besondere Gnade Gottes für die hier versammelten Unglücklichen zu erflehen. Danach wandte er sich dem Altar zu, wo die Bibel aufgeschlagen lag, und las mit klarer, feierlicher Stimme das Gleichnis vom verlorenen Sohn vor, wie es der Evangelist Lukas aufgezeichnet hatte. Mit tiefer Bewegung hörte Petermann die ihm seit seiner Jugend vertraute Geschichte vom Sohn, der sein ganzes Erbteil verprasst und bitter leiden muss. In Gedanken versunken, vernahm er kaum, dass der Geistliche sich zu den Gefangenen umwandte und mit einfachen Worten das Bibelwort auszulegen begann.

Der Anstaltsseelsorger war kein wortgewaltiger Redner, sondern ein einfacher, nicht mehr junger Mann, der in seiner Tätigkeit viel menschliches Elend kennengelernt hatte und wusste, wie er die Seelen der vor ihm sitzenden ,verlorenen Schafe‘ erschüttern konnte.

„Freut euch, denn ich habe das verlorene Schaf wiedergefunden!“, rief er seinen Zuhörern entgegen und sagte ihnen, kein Verbrechen sei so groß, dass die Gnade des Herrn es nicht tilgen könne. Er malte mit kurzen, kräftigen Strichen das Bild des reuigen Sünders, der zu dem himmlischen Vater zurückkehrt und ausruft: „Vater, ich habe mich versündigt gegen den Himmel und gegen dich, und ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.“ Darauf zeigte er, wie der Vater nicht nur großmütig dem verlorenen Sohn verzeiht, sondern ihn sogar in allen Ehren wieder aufnimmt und ihm das Festgewand der ewigen Seligkeit anlegen lässt. Hier hielt der Geistliche inne und sagte, an die Zuhörer gewandt:

„So wird der himmlische Vater und Herr auch jeden von euch in Gnaden wieder aufnehmen, wenn er nur wahre Reue zeigt. Darum übt Besinnung und hört den Ruf des Herrn: ‚Bekehrt euch!‘ Amen!“

Die Andacht war zu Ende und die Sträflinge verließen den Saal. Nur Petermann, der dem letzten Teil der Predigt besonders aufmerksam gefolgt war, blieb noch einen Moment wie benommen sitzen. Wer war der verlorene Sohn, der sich bekehren musste – er oder jener andere, für den er büßte? Aus diesen düsteren Gedanken weckte ihn die Hand des Aufsehers, die sich auf seine Schulter legte, um ihn zum Gehen aufzufordern. Seltsam bewegt, folgte Petermann dem Wärter zum letzten Mal durch die engen Gänge des Zuchthauses.

 

*

 

Es war eine gute Stunde später. Petermann wollte sich gerade zu dem vor der Stadt gelegenen Bahnhof begeben, als er eilige Schritte hinter sich hörte. Sich umdrehend gewahrte er den Leutnant Bruno von Scharfenberg, der Zivilkleidung trug.

Das Gesicht des frisch Entlassenen nahm schnell einen harten, abweisenden Ausdruck an. Er wollte den Weg fortsetzen, wurde aber am Arm zurückgehalten.

„Petermann!“, erklang es in bittendem Ton.

„Herr Baron!“, versetzte der ehemalige Bedienstete frostig.

„Nicht so, nicht so! Sie ahnen nicht, was ich gelitten habe!“

„Aber Sie ahnen hoffentlich, was ich habe leiden müssen?“

„Ich wollte Ihnen ja helfen, aber Sie selbst hatten mir den Weg dazu versperrt durch Ihr Geständnis.“

„Ach so! Ich habe dieses Geständnis mit meiner Ehre, meiner Stellung und vier Jahren Zuchthaus bezahlt.“

„Ich werde alles, alles wiedergutmachen!“

Petermann musterte den Leutnant von Kopf bis Fuß.

„Wirklich?“, fragte er. „Wollen Sie das? So sagen Sie mir doch einmal, wie Sie das anzufangen gedenken! Was meine Stelle wert war, das lässt sich ja taxieren, aber was zahlen Sie mir für meine verlorene Ehre?“

„Petermann!“

„Und für die Jahre der Gefangenschaft, für den stillen Kummer, der mich verzehrt hat, für Knechtschaft und ständige Erniedrigung, für all das, was sich einfach nicht beschreiben lässt?“

„Seien Sie nicht zu grausam!“

„Waren Sie weniger grausam? Ich habe Tag um Tag gewartet, dass Sie kommen würden, um mein Geständnis umzuwerfen – vergebens!“

„Ich muss Ihnen alles sagen und erklären. Vielleicht sehen Sie dann meine Schwachheit nicht mehr so wie jetzt. Aber dazu ist hier der Ort nicht. Kommen Sie in die Stadt zurück; wir wollen...“

Petermann schüttelte energisch den Kopf.

„Nein, nein! Ich habe keine Zeit. Wir sind geschiedene Leute, Herr Baron!“

Er riss sich los und eilte fort. Der Leutnant machte eine Bewegung, als ob er ihm nachfolgen wolle, besann sich aber, drehte sich brüsk auf dem Absatz herum und wandte sich wieder Rollenburg zu.

Als Petermann den Bahnhof erreichte, war es noch zu früh zur Abfahrt des Zuges. Er konnte noch kein Billett bekommen, suchte darum die Bahnhofsgaststätte auf und ließ sich ein Glas Bier geben – das erste seit vier Jahren. Er hatte kaum einige Minuten dagesessen, da kam ein zweiter Gast, ein junger Mann, der höflich grüßte und bei seinem Anblick zu stutzen schien. Auch Petermann kam es so vor, als kenne er ihn. Der junge Mann kam näher und fragte:

„Würden Sie mir erlauben, bei Ihnen Platz zu nehmen?“

„Ich kann nichts dagegen haben. Hier setzt sich ein jeder dahin, wo es ihm beliebt.“

„Das heißt, besser wäre es, ich suchte mir einen anderen Platz? Nicht wahr?“

„Nehmen Sie es, wie Sie wollen!“

„Nun ich gestehe, dass ich zu Ihnen komme, weil ich mich für Sie interessiere.“

„Ah! Warum?“

Der andere setzte sich, ließ sich ebenfalls ein Glas Bier geben und sagte dann, als der Kellner sich wieder entfernt hatte:

„Bemerken Sie die Falten, die Sie in Ihrem Anzug haben, mein Herr?“

„Wozu diese Frage?“

„Weil mein Anzug dieselben Falten hat. Wenn ein Rock jahrelang in einem Sack steckt, ohne angezogen worden zu sein, so sollte er doch wenigstens einmal aufgebügelt werden. Daran denken aber diese hohen Herren Beamten nicht.“

„Ah, Sie wollen sagen...“

„Dass wir Leidensgefährten sind.“

„Sie wurden auch heute entlassen?“

„Ja. Aber bitte, beurteilen Sie mich nicht falsch! Es ist nicht empfehlenswert, Zuchthausbekanntschaften zu schließen und zu pflegen. Ich werde Sie nie kennen, selbst wenn ich Sie wiedersehe. Aber heute, am ersten Tag in Freiheit, lacht einem das Herz vor Glück. Man möchte dieses Glück teilen und das kann man doch eigentlich nur mit einem Schicksalsgenossen tun. Zudem habe ich Sie öfters gesehen. Sie waren Schreiber, das ist eine Vorzugsstellung und ich ersehe daraus, dass ich es nicht mit einem Mann zu tun habe, der für das Haus, in dem wir die letzten Jahre verbracht haben, geradezu bestimmt ist.“

„Nein, das ist allerdings nicht der Fall. Auch ich habe Sie ab und zu gesehen. Wo waren Sie beschäftigt?“

„In der Furnierschneiderei.“

„Eine harte Arbeit!“

„Ich hab’s empfunden. Ich fahre von hier in die Hauptstadt.“

„Ich auch.“

„Wollen wir bis dahin beisammen bleiben?“

„Gerne!“, nickte der andere.

„Schön! Und nun einen Schluck Bier! Prosit! Ah, wie das erquickt nach dem ewigen Wasser! Eigentlich kann ich mir das nicht leisten; denn ich konnte da oben im Schloss keinen Kreuzer verdienen und bin ohnehin ein armer Teufel, aber ich habe zehn Gulden vom Regierungsrat geschenkt erhalten.“

Petermann blickte den Leidensgefährten fragend an.

„Ah, wirklich? Dieser Mann scheint trotz seiner Strenge doch ein wahrer Menschenfreund zu sein!“

„Das will ich meinen! Ich bin bis gestern vor meiner Entlassung schlecht auf ihn zu sprechen gewesen, aber er hat mich eines Besseren belehrt trotz der zweihundert Hungertage. Sie wissen ja, wie es im Zuchthaus zugeht: Wenn Sie nichts zu essen erhalten, weil Sie bei so schwerer, ungewohnter Arbeit das Pensum nicht erfüllen, so schaffen Sie es beim zweiten Mal erst recht nicht und die Kostentziehung nimmt dann kein Ende. Auch war es mir unmöglich, mich in den aufgezwungenen Gehorsam zu fügen. Man ist nicht mehr Mensch, sondern nur noch Strafobjekt; ein Ding, an dem jeder seine vermeintlichen Besserungs-Experimente betreibt. Bessern! Herrgott! Und wer sind diese Leute? Diese Aufseher sind ja selbst bestenfalls nichts anderes gewesen als Handwerker. Was verstehen sie von Psychologie? Und einen zu bessern, der nichts begangen hat, wie soll man das wohl anfangen?“

Das offene, zutrauliche Wesen des Sprechers war Petermann sympathisch; aber bei den letzten Worten lächelte er doch ein wenig spöttisch und fragte:

„Also gehören Sie zu den berühmten ‚Unschuldigen‘?“

Der andere schüttelte den Kopf.

„Nun, zu dieser Art von Unschuldigen gehöre ich keineswegs, unschuldig bin ich aber dennoch!“

„Ach so! Richtig!“

„Ich glaube, Sie lachen! Nun gut, lachen Sie oder heulen Sie, ganz wie es Ihnen beliebt. Aber ein Spitzbube bin ich doch nicht. Und trotzdem hat man mir wegen Diebstahls zwei Jahre Zuchthaus gegeben!“

Er presste dabei die Zähne zusammen, dass es laut knirschte. Petermann fühlte sich versucht, ihm Glauben zu schenken.

„Dann wären Sie in der Tat ein sehr unglücklicher Mensch!“, sagte er bedeutsam.

„Doppelt unglücklich! Ich verlor noch mehr als Zeit, Freiheit und Ehre! Ich besaß nämlich eine Geliebte, aber ein anderer Mann wollte sie mir streitig machen. Wir waren beide Buchbinder und arbeiteten bei demselben Meister. Eines Tages wurde bei ihm eingebrochen und ein Teil seines Geldes gestohlen samt einem goldenen Ehrenbecher, einem alten Familienerbstück. Nun kam also die Polizei und fand das Geld – ganz tief unten in meiner Lade versteckt.“

„Und der Goldbecher?“, fragte Petermann gespannt.

„Er wurde nie gefunden“, sagte der ehemalige Buchbindergeselle trübsinnig. „Man nahm an, dass ich ihn anderswo versteckt oder gar schon verkauft hätte, und suchte ihn bei allen Goldschmieden und Altertumshändlern der Umgebung. Aber vergeblich! Die Polizei war dann überzeugt, ich hätte den Becher ins Ausland geschafft. Wie wäre mir das aber möglich gewesen? Ich hatte doch keinerlei Beziehungen dorthin!“

Petermann schüttelte den Kopf.

„Eine seltsame Geschichte! Wie groß war der Betrag, den man in Ihrer Lade fand?“

„Zweihundert Gulden“, antwortete Heilmann.

„Und wie viel war wohl der Becher wert?“

Heilmann dachte eine Weile nach, dann sagte er:

„Wenn ich die altertümliche, kunstvolle Art der Ausführung mit in Anschlag bringe, mindestens zweitausend Gulden. Aber das Stück ist doch nahezu unverkäuflich, weil man es leicht wiedererkennt! Es ging dem Mann, der mich hasst, darum, dass ich das größtmögliche Strafmaß erhalten sollte. Aber er hatte die Absicht, den Becher für sich zu behalten und nicht zu verkaufen. Sehen Sie, hätte ich das Geld an mich bringen wollen, ich hätte es doch nicht in meiner Lade versteckt, sondern vergraben oder sonstwo versteckt. Das sagte ich auch dem Richter. Aber mein Mitgeselle beschwor, dass er mich habe aus der Oberstube kommen sehen mit etwas in der Schürze, das wie Geld klang, und weil er der Sohn meines Paten und Meisters war, glaubte man ihm jedes Wort. Die Folge waren die zwei Jahre Zuchthaus. Glauben Sie es mir oder nicht! Im Zuchthaus haben sie es freilich nicht geglaubt. So bin ich denn als Unverbesserlicher eingestuft worden und stehe unter Polizeiaufsicht. Ich habe mich sofort nach meiner Ankunft bei der Polizei zu melden; ich muss sogar damit rechnen, dass sie bereits benachrichtigt ist, mit welchem Zug ich komme.“

Petermann, der durch die Erzählung des jungen Mannes nachdenklich geworden war, fiel jetzt lebhaft ein:

„Damit wird dem Wohlgesinnten, der sich anständig verhalten will, nur der Neuanfang erschwert oder geradezu zur Unmöglichkeit gemacht.“

„Das ist sicher. Also, glauben Sie mir, dass ich unschuldig bin, mein Herr?“

„Ja“, antwortete Petermann, ihm die Hand reichend.

Die Augen des jungen Buchbinders Heilmann glänzten.

„Ich danke Ihnen“, sagte er. „Das tut meinem Herzen wohl. Ich habe in diesen zwei Jahren gut aufgepasst. Der Mensch, der den entlassenen Zuchthäusler noch weiter mit offenem Misstrauen und mit Verachtung straft, begeht ein großes Unrecht und beweist, dass er nichts vom Leben versteht. Wie viele laufen frei herum, denen ein Stammplatz im Gefängnis gebührte! Die Bevölkerung der Strafanstalten ist auch nicht anders zusammengesetzt als die freie Menschheit. Es gibt hier wie dort gute und schlechte.“

„Ich weiß das, ich weiß das sehr genau. Ich habe vier Jahre lang die Anstaltsakten in der Hand gehabt und kann Ihnen bestätigen, dass es in den Gefängnissen keine kleinere Prozentzahl guter Menschen gibt als in der Freiheit. Ich glaube Ihnen, dass Sie unschuldig sind, weil – lachen Sie nun nicht über mich! – weil ich selbst auch unschuldig bin. Ich habe gar nicht das getan, weswegen man mich bestraft hat.“

„War es auch bei Ihnen ein anderer, der Sie in das Verderben stürzen wollte?“

„Nein. Nicht so. Er handelte unüberlegt. Er war der Sohn meines Vorgesetzten. Meine Vorfahren hatten seiner Familie stets treu gedient. Ich nahm das, was er tat, auf mich.“

Heilmann sprang auf.

„Herrgott! Und er duldete das?“

„Ja. Er hatte wohl mehr zu verlieren als ich. Doch genug hiervon! Sind Sie in der Residenz bekannt?“

„Ein wenig“, versicherte Heilmann.

„Kennen Sie eine gewisse Frau Groh?“

„Hm!“, sagte Heilmann gedehnt. „Ich habe diesen Namen schon einmal nennen hören. Sie hat in der Residenz...“, hier zögerte Heilmann, „...nicht gerade den besten Ruf.“

„Herrgott! Meine Tochter dient bei ihr!“

„So nehmen Sie Ihr Kind besser sofort weg von dieser Frau.“

„Sogleich, sogleich! Wenn doch nur der Zug käme! Ah, da kommt das erste Zeichen! Lösen wir die Fahrbilletts!“

Über Petermann war plötzlich eine unbeschreibliche Unruhe, ja geradezu Angst gekommen. Er sprang in den Waggon, als könne er dadurch die Abfahrt des Zuges vorverlegen. Petermann zeigte sich unterwegs so zerstreut, dass es Heilmann nicht mehr gelang, ein richtiges Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Als der Zug auf dem Bahnhof der Residenz ankam, standen zwei Männer in Zivil auf dem Bahnsteig und beobachteten die aussteigenden Fahrgäste.

„Das muss er sein“, sagte der eine und arbeitete sich durch das Gedränge auf die beiden Schicksalsgefährten zu.

„Entschuldigung, mein Herr!“, sagte er zu Heilmann. „Darf ich fragen, von welcher Station Sie abgefahren sind?“

„Warum?“

„Dies ist meine Legitimation.“

Er griff in die Tasche und zeigte eine Polizeimarke vor. Heilmann nickte betreten und antwortete auf die Frage:

„Ich komme aus Rollenburg.“

„Sie heißen Heilmann und sind heute dort entlassen worden?“

„Ja.“

„Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie sich sofort polizeilich anzumelden haben, anderenfalls wird man Sie festnehmen.“

„Wollen Sie es da nicht vorziehen, mich gleich mitzunehmen?“, fragte Heilmann traurig.

„Nein. Sie haben eine Formalität zu erfüllen. Tun Sie das gleich, so ist es zu Ihrem eigenen Besten. Adieu!“

Damit empfahlen sich die beiden Polizisten.

„Sagte ich es Ihnen nicht?“, fragte Heilmann seinen Reisegefährten.

„Es lässt sich leider nichts dagegen tun.“

„Nein. Übrigens erfüllen diese Leute einfach ihre Pflicht. Ich bin nicht so unverständig, ihnen böse zu sein. Aber wie soll das werden, wenn die Polizei stets zu meinen Meistern kommt, um die Aufsicht auszuführen! Gibt mir einer Arbeit, so schickt er mich doch gleich wieder fort.“

„Sprechen Sie mit dem Polizeikommissar ein aufrichtiges Wort“, riet Petermann dem Leidensgefährten. „Er wird Sie wenigstens anhören. Es dürfte ja nicht in seinem Interesse liegen, seine Leute Ihretwegen unnötig abzuhetzen.“

„Will’s versuchen. Also gleich zum Polizeigebäude! Jetzt aber wollen wir scheiden. Meine Gegenwart kann Ihnen nur Schaden bringen. Ich wünsche Ihnen alles Glück, mein lieber Herr! Wir werden uns nicht mehr kennen; wenn wir uns zufällig treffen sollten. Aber einander Gutes wünschen, das können wir doch.“

„Möge Ihr Weg nicht so steinig bleiben, wie er begonnen hat!“

Sie trennten sich mit einem Handschlag.

 

 

 

2. Die alte Uhr

 

Heilmann ging zur Polizei, um sich dort pflichtgemäß anzumelden. Die Eintragung des Namens wurde im Anmeldebüro vorgenommen, damit aber waren die Formalitäten noch nicht zu Ende. Er wurde vor einen Polizeikommissar namens Anders geführt, der ihn mit scharfen Blicken musterte und fragte:

„Sie wissen, dass Sie unter Polizeiaufsicht stehen werden?“

„Leider.“

„Es gibt mehrere Klassen dieser Aufsicht. Sie befinden sich in der dritten und strengsten. Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?“

„Nein. Ich stand noch nie unter Polizeiaufsicht. Vielleicht haben Sie die Güte, es mir zu sagen.“

Er sprach ruhig und in höflichem Ton. Kommissar Anders betrachtete ihn abermals, schüttelte den Kopf und sagte dann:

„Ich habe Sie ja zu diesem Zweck kommen lassen. Sie sehen mir nicht wie ein gemeingefährlicher Mensch aus. Aber Sie können sich während Ihrer Gefangenschaft unmöglich zur Zufriedenheit Ihrer Aufseher geführt haben, denn Sie haben wiederholt Disziplinarstrafen erhalten.“

„Leider muss ich das zugeben.“

„Daher folgende Auflagen: Sie dürfen keine Gastwirtschaft besuchen.“

„Ich habe ohnehin nicht das Geld dazu.“

„Ferner dürfen Sie die Stadt nicht verlassen, ohne mich um Erlaubnis gefragt zu haben.“

„So bin ich also erneut Gefangener?“, fragte Heilmann bestürzt. „Zwar nicht in der Zelle, aber doch in der Stadt?“

„So ist es. Erlaube ich Ihnen, die Stadt zu verlassen, so haben Sie sich zur vorher bestimmten Zeit wieder einzufinden und sich auf die Minute pünktlich bei mir zu melden.“

Heilmann senkte den Kopf.

„Das ist hart, sehr hart, Herr Kommissar!“, stieß er hervor.

„Aber vom Gesetz vorgeschrieben!“

„Wenn mich nun mein Beruf oder mein Geschäft zu einer Reise veranlassen?“

„Ich werde nicht übermäßig streng sein, muss aber Pünktlichkeit verlangen. Ferner haben Sie mir jeden Wohnungswechsel vorher zu melden. Und endlich müssen Sie alle Fragen, die meine Untergebenen an Sie richten, höflich und der Wahrheit gemäß beantworten. In der ersten Zeit werden Sie täglich von einem Polizisten aufgesucht.“

Heilmann erschrak.

„Wer wird mir unter solchen Verhältnissen Wohnung und Arbeit geben?“, fragte er mit bebender Stimme.

Der Kommissar zuckte die Achseln.