image

Impressum

ISBN eBook 978-3-360-50017-5

ISBN Print 978-3-360-02143-4

© 2012 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von ulstein bild - ADN-Bildarchiv

Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Neue Grünstr. 18, 10179 Berlin

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin

erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe

www.das-neue-berlin.de

Lothar Herzog

Honecker privat

Ein Personenschützer berichtet

Das Neue Berlin

Zitrone zum Kaffee

Der Tag begann mit einer Zitrone. Pur und ungesüßt.

Allein der Anblick des grüngelben Saftes, den ich in das Glas goss, zog mir alle Poren zu. Doch mein Chef kippte das saure Zeug in einem Zug hinunter, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er absolvierte diese Übung so diszipliniert und konzentriert wie einen Staatsbesuch: kontrolliert bis in die Haarspitze. Seit wann und wie lange er das tat, vermag ich nicht zu sagen. Aber von 1972 bis 1984, als ich sein, tja, persönlicher Kellner war, trank er täglich diesen Vitamin-C-Cocktail.

Warum ich vor dem Gebrauch der Bezeichnung »Kellner« für meine Dienststellung ein wenig zögere? Das werde ich noch erläutern. Vorrangig hier scheint mir die Erörterung der Frage, warum er jeden Morgen mit Zitronensaft begann. Für mich wäre der Tag im Eimer gewesen. Ich hätte gar nicht anders als sauer sein können, sauertöpfisch hätte ich mein Tagwerk verrichtet. Ihn allerdings focht das nicht an. Erstaunlich. Die Zitrone schien keinen Einfluss auf seine Laune zu haben. Hatte er überhaupt so etwas wie eine Laune?

Eine Stimmung war bei ihm kaum auszumachen, folglich auch nicht deren eventuelle Schwankungen. Ich gehörte zum Mobiliar. »Morgen« oder »Tach«, dann setzte er sich, und ich trug auf. Kein persönliches Wort, nichts, auch nicht, wenn er sich vom Tisch erhob. Ich hatte stets den Eindruck, dass für ihn die Tätigkeit »Speisen« eher eine lästige Notwendigkeit war. Jedes Essen, egal, ob nun privat oder bei einem Bankett. Ein Genussmensch war er bestimmt nicht. Und darum waren auch die Personen um ihn herum, die mit ihm bei Tische saßen oder vorlegten wie ich, nun ja, ich will nicht sagen »lästig«, doch irgendwie so unnötig wie das Essen selbst.

Die Speisen hatten drei Bedingungen zu erfüllen: Sie mussten einfach sein, sie mussten heiß sein (selbst bei Bier oder Cola durfte die Temperatur nicht unter der des Raumes liegen), und sie mussten vertraut, also irgendwie deutsch sein wie. Das erklärt beispielsweise, dass ich selbst nach Moskau mitmusste – in jenen zwölf Jahren war das um die vierhundert Mal. Mich überraschte diese Menge, als ich in meinen Kalendern jetzt die Dienstreisen zählte. In jener Zeit habe ich ihn auf allen Auslandsreisen begleitet, bekocht und bedient. Auch dazu vielleicht später mehr.

Ich glaube, dass seine eingeschränkte Fähigkeit, wirklich zu genießen, mit seiner Biografie zusammenhing. Er war 23, als ihn die Nazis einsperrten, und keine 33, als er in die zerstörte Freiheit entlassen wurde. Im Zuchthaus wird keiner zum Gourmet, und in der Nachkriegszeit stand meist Hunger auf dem Speiseplan. In Brandenburg hat er sich wohl auch das Esstempo angewöhnt. Das war extrem hoch. Ich will nicht behaupten, dass er schlang, aber wesentlich schneller als die anderen war er schon. Das führte, nur nebenbei, gelegentlich zu Problemen, wenn er mit anderen speiste. (Ich rede jetzt nicht von Staatsbanketten und Empfängen, da hielt er sich, nicht zuletzt wegen einer gewissen Unsicherheit, an den Rhythmus der anderen.) Er hatte bereits den Teller mit der Vorsuppe geleert, als seine Mitstreiter gerade erst damit begonnen hatten. Da sich aber niemand getraute, länger als der Chef bei einem Gang zu verweilen, gingen die meisten Teller halbvoll in die Küche zurück.

Und warum heiß? Der Grund war vermutlich der gleiche: Im Knast war die Küche kalt.

Das ist meine Interpretation, denn darüber habe ich mit ihm nicht geredet. Wie ich überhaupt nicht mit ihm gesprochen habe. Ich hatte Weisung, nur zu antworten, wenn ich gefragt werde. Und da er mich nie fragte, gab es auch keinen Anlass, dass wir uns unterhielten. Im Nachhinein finde ich es nicht nur merkwürdig, ich bedauere es. Wer hätte mich daran hindern können, mich zu diesem oder jenem ihm gegenüber zu äußern? Nur er selbst. Er aber war nicht der Typ des unnahbaren, distanzierten Wichtigtuers, der beleidigt gewesen wäre, hätte ich ihn von der Seite angesprochen. Nein, ich servierte nur und schwieg.

Und dabei hielt mich mancher gar für eine Schlüsselfigur, die sein Ohr hatte. Ich entsinne mich eines Besuches in seinem Wahlkreis in Karl-Marx-Stadt, wo mich ein höherer Funktionär zunächst ziemlich herablassend behandelte. Ich war einer der vielen Namenlosen in der Entourage des Generalsekretärs, der in keinem Protokoll geführt wurde. Als er aber irgendwie mitbekam, dass ich ständig mit seinem Chef Umgang hatte, veränderte sich sein Verhalten mir gegenüber schlagartig. Entweder fürchtete er, ich würde ihn wegen seiner Arroganz verzinken, oder er hoffte auf Fürsprache. Wohl wahr, das sind Verhaltensmuster, die es in allen Hierarchien in jedem System gibt.

Die Zitrone nahm er ausschließlich deshalb zu sich, weil er sich vor Grippe schützen wollte. Er machte sich zu eigen, was der Volksmund sagte: Vitamin C stärkt die Abwehrkräfte. Und da er nichts auf Pillen und andere pharmazeutische Produkte gab, mehr den natürlichen Hilfsmitteln vertraute, musste es eben Zitrone sein. Ich will nicht behaupten, dass er Anflüge von Hypochondrie aufwies, aber bestimmte Reflexe deuteten in diese Richtung. Er war eben vorsichtig und auf seine Gesundheit bedacht. So war ihm Körperkontakt aus eben diesem Grunde unangenehm. Jedes Shakehands, und bei Empfängen musste er besonders viele Hände schütteln, trieb ihn auf die Toilette, wo er sich intensiv die Hände wusch. (Oder ich steckte ihm heimlich ein Tuch zu.) Wer in seiner Umgebung auch nur den Verdacht einer Erkältung weckte, den mied er auffällig.

In das Fach »Vorsicht« fallen auch die Auslandsreisen, die nach seinem Wunsche möglichst kurz sein mussten. Am liebsten waren ihm jene, bei denen er sich morgens ins Flugzeug setzen und am Abend nach Wandlitz zurückkehren konnte. Er sehnte sich nach vertrauter Umgebung und Geborgenheit. Die Fremde und Fremde verunsicherten ihn. Die längste Dienstreise, die er jemals machte, führte uns nach Fernost. Ende 1977 besuchten wir Vietnam, die Philippinen und Nordkorea. Zwölf Tage waren wir unterwegs. Nie wieder so lange von daheim weg!

Er machte darum auch nie Urlaub im Ausland, zumindest nicht, als er Staats- und Parteichef war. Als Politbüromitglied musste er wie seinesgleichen die Einladung aus der Sowjetunion annehmen, da war er wohl einige Male auf der Krim. In Polen verbrachte er einmal einen Sommerurlaub auf Hel vor Danzig. Wenn Sie sich ein wenig dort auskennen: An der Spitze dieser meist nur 200 Meter breiten Halbinsel befindet sich ein sehr gut bewachtes Armeeobjekt mit Gästehäusern, da durfte ich nur die Koffer tragen und konnte mich gleich verabschieden. Die Jagdausflüge in die anderen sozialistischen Staaten fielen nicht in die Kategorie Urlaub.

Sie galten bereits als lang, wenn er vor Ort über Nacht bleiben musste.

Kuba war das einzige Land, wohin er gern reiste und diese Besuche auch sichtlich genoss. Wir waren dort 1974, 1980 und 1982, und es gibt diese bekannten Fotos vom Hochseeangeln, auf denen er voller Stolz einen Fisch in die Kamera hält. Und falls jetzt die Frage kommt, ob er diesen Fisch auch gegessen habe: nein. Er aß kein Wild, er aß keinen Fisch. Aus Prinzip. Doch woher diese Abneigung rührte, vermag ich nicht zu sagen.

Gleichwohl wollte er bei Staatsbesuchen keine deutsche Extrawurst gebraten haben, er ließ sich auf fremde Küchen und Kulturen durchaus ein und verpflichtete dazu auch alle Mitreisenden. Doch die Vorkommandos, die vor Ort die Reise vorbereiteten, und denen ich in der Regel ebenfalls angehörte, versuchten darauf Einfluss zu nehmen, dass die Gerichte der Gastgeber nicht ganz zu exotisch oder zu chi-chi ausfielen.

Das lag nicht nur an seiner Bodenständigkeit, sondern auch an praktischen Erfahrungen. Ministerpräsident Willi Stoph hatte sich in Vietnam einmal gründlich den Magen mit einheimischer Kost verdorben, was ihn aufs Krankenlager und das politische Programm über den Haufen warf. Das war Lehre genug für alle DDR-Staatsreisenden.

Mein Chef lebte gesund, und das vermutlich nicht nur um seiner Selbst willen, sondern nach dem Leninschen Grundsatz: Gesundheit ist Volkseigentum, schütze es, Genosse! Er war bis Ende der 60er Jahre ein starker Raucher, und beim regelmäßigen Skatspiel im Klubhaus in Wandlitz, woran vornehmlich Erich Apel (bis zu seine Selbstmord 1965), Günter Mittag und Gerhard Grüneberg teilnahmen, wurde manche Flasche Weinbrand Edel geleert. Als sich jedoch der Führungswechsel abzuzeichnen begann, zog er sich aus dieser Klubrunde zurück und stellte faktisch über Nacht den Zigaretten-Konsum ein.

Als Erster in der Partei trank er kaum noch Hochprozentigen, obgleich bis in die 80er Jahre hinein bei Empfängen die »Granaten« auf dem Tisch standen und niemand ohne eine Glas in den Saal kam. Am Eingang stand links ein Mädel mit einem Tablett mit Braunem, rechts eines mit Klarem. Bis zu jenem Eklat bei der Konstituierung des Luther-Komitees, mit welchem der Auftakt zu den staatlichen und kirchlichen Ehrungen zum 500. Geburtstag des Reformators, der bekanntlich kein Kostverächter war, erfolgte. Das Protokollbild im Neuen Deutschland zeigte den Chef neben den Bischöfen hinter einem eingedeckten Tisch stehend und redend. Und auf dieser Tafel waren unschwer die Flaschen mit brauner und heller Flüssigkeit auszumachen. Die Unmutsbekundung der Kirchenleute, es Protest zu nennen wäre wohl ein wenig überzogen, führte dazu, dass bei der späteren Verwendung dieser Aufnahme die Schnapsflaschen herausretuschiert wurden, so beispielsweise in einer Broschüre mit allen Reden, die auf jener Zusammenkunft gehalten worden waren.

Der Chef achtete sehr auf seine Gesundheit. Als Beleg dafür ließ sich selbst die beiläufige Bemerkung von Egon Krenz anführen, der Generalsekretär habe sich nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986

einen Geigerzähler besorgen lassen, weil er offenkundig den verharmlosenden Meldungen aus der Sowjetunion nicht glaubte und sich in der Schorfheide bezüglich der Radioaktivität selbst eine Meinung bilden wollte. Doch da war ich schon nicht mehr in seinen Diensten.

Wie wurde ich Kellner?

Das ist eine ziemlich lange Geschichte. Aber weil ein Buch – anders etwa als eine Talkshow – es erlaubt, ohne Widerspruch eines Moderators, der mit Blick auf die Uhr und wegen der gähnenden Münder der anderen Gäste einem ins Wort fällt, einen Satz zu Ende bringen zu können, darf ich ein wenig ausholen. Die Leserin und der Leser sehen es mir gewiss nach.

Ich stamme aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Wir waren sechs Kinder. Ich war das dritte und kam in einer Kleinstadt unweit von Chemnitz zur Welt. Es war der 15. September 1943, und es war Krieg. Mein Vater vom Jahrgang 1920, ein gelernter Buchhändler aus Leipzig, trug Uniform: Er arbeitete als Fahrdienstleiter der Deutschen Reichsbahn im Bahnhof von Glauchau. Das trug ihm eine, wenngleich kurze Kriegsgefangenschaft bei den Amerikanern ein.

Wir lebten in einer Dienstwohnung auf dem Bahnhofsgelände und auf sehr engem Raum. Ich musste mir das Bett mit Gerhard teilen, der zwei Jahre älter war als ich. Wolfgang, unser großer Bruder und 1940 geboren, lebte aus eben diesem Grunde bei der Großmutter in Chemnitz-Lichtenstein, wo auch ich zur Welt gekommen war. Dem Fluch (oder Segen) jener Jahre und gemäß unseren sozialen Verhältnissen wurden es immer mehr Herzöge. Wenige Wochen vor Kriegsende wurde unsere Mutter von Rainer entbunden, 1951 folgte Ingrid und im Jahr darauf Margot.

Unsere Kleidung glich einem Wanderpokal, sie wurde stets weitergereicht. Das ging so lange, bis sie nicht mehr zu flicken war und auseinanderfiel. Vater ging zur Wismut, weil dort sehr gut gezahlt wurde. Die sowjetische, später sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft förderte an verschiedenen Orten in Sachsen und Thüringen Uranerz. Das benötigte die Sowjetunion, um Nuklearwaffen produzieren zu können. Das auf diese Weise mit enormen Anstrengungen auch ihrer Verbündeten hergestellte annähernde militärstrategische Gleichgewicht zwischen den beiden Großmächten sorgte, auch wenn es ein Gleichgewicht des Schreckens war, allein durch die Androhung der wechselseitigen Vernichtung für die Verhinderung eines großen Krieges. Deshalb sprachen die Wismutkumpel auch von »Friedenserz«, das sie aus dem Berg holten. Sie zahlten oft mit ihrer Gesundheit. Unser Vater beispielsweise wurde keine siebzig.

Er arbeitete als Fördermaschinist im Drei-Schicht-System übertage, doch der fortgesetzte Luftzug aus der Tiefe war mindestens so radioaktiv wie der unten im Schacht. Die Betreiber der Wismut wussten um die gefährlichen Folgen, doch die Arbeit musste getan werden wie später andere – wir erinnern uns der Männer auf dem Dach des explodierten AKW in Tschernobyl, die im Sekundentakt das verstrahlte Material in den Krater schaufelten. Das war nicht fahrlässig, sondern erforderlich. Schließlich tobte der Kalte Krieg.

Auch wenn die Wismut-Kumpel überdurchschnittlich verdienten und viele Vergünstigungen erhielten, war dies nur eine schmale Entschädigung für ihren Einsatz. Erst später, als Vater Ende der 80er Jahre auf dem Totenbett lag, wurde uns bewusst, dass er sich praktisch für uns, für seine Familie, aufgeopfert hatte. Ja, auch für den Weltfrieden, natürlich. Aber persönlicher Schmerz ist immer konkret, dagegen hilft kein Pathos.

Aufgrund der weitaus günstigeren Lebensmittelkarte und der Möglichkeit, in einem in Chemnitz für Angehörige der Wismut eingerichteten Kaufhaus Dinge zu erwerben, die es anderswo nicht gab – etwa Kinderkleidung, wofür spezielle Bezugscheine ausgehändigt wurden – wurde die Not ein wenig gelindert.

Allerdings fand die Deutsche Reichsbahn den Verlust ihres Fahrdienstleiters nicht hinnehmbar, weshalb sie uns die Wohnung in Glauchau kündigte. Der Zufall in Gestalt eines freigewordenen Quartiers im Wohnhaus der in Chemnitz lebenden Mutter unserer Mutter sorgte dafür, dass wir ein Dach überm Kopf hatten. Im Herbst 1951 zogen wir in die Ruinenstadt, welche schon vor ihrer Zerstörung gewiss keine Schönheit war. Die Industriestadt mit fast vierhunderttausend Bewohnern galt als das sächsische Manchester, man sprach von »Rußchemnitz«, »Ruß-Chamtz« oder »Rußnitz«. Die britischen und US-Bomber nahmen die Stadt wiederholt ins Visier, weil dort neben anderen Rüstungsgütern Panzermotoren produziert wurden. Die heftigsten Luftangriffe erfolgten an den gleichen Tagen im Februar 1945, als Dresden in Flammen aufging. Und nicht nur dort fragt man sich noch heute, ob dies nötig oder gar angemessen war: Der Krieg war längst entschieden.

Im März krachten erneut und letztmalig Bomben auf Chemnitz. Am Ende waren in der Altstadt und den inneren Vorstädten alle Kirchen und öffentlichen Gebäude zerstört, jede vierte Wohnung war weg. Von diesen Schlägen sollte sich die Stadt nie mehr erholen, sie hat bis heute kein Gesicht. Deshalb war ich froh, ihr Anfang der 60er Jahre entrinnen zu können. Ich wollte nie wieder im Leben dorthin zurück.

Das ist, ich gebe es zu, ein hartes Urteil, wo doch gemeinhin die Zuneigung zum Ort der Kindheit und Jugend stets groß ist, egal, wie die Heimat ausschaut

Und vermutlich werden die meisten Chemnitzer – das sind gegenwärtig noch fast eine Viertelmillion Menschen – nicht nur mangels Alternative oder aus Bequemlichkeit dort leben. Sie mögen ihre Stadt. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber ich wurde dort nie warm, auch nicht, als sie nach Karl Marx benannt war.

Unser Haus stand in einem traditionellen Arbeiterviertel. Wir hatten vier Zimmer, eine Küche mit einem gußeisernen Ausguss nebst Wasserhahn, aus dem das Wasser nur tröpfelte, nie floss. Der Donnerbalken – er trug diese Bezeichnung mit Recht: es handelte sich um sechs Verschläge auf dem Etagenflur – war stets Quelle unerträglichen Gestanks. Mich ekelte jeder Gang dorthin. Gebadet wurde einmal in der Woche in einer Zinkwanne. Dazu wurde das Wasser auf dem kleinen Küchenherd erhitzt. Erst wusch sich der Vater darin, dann die Mutter, wobei streng darauf geachtet wurde, dass wir unsere Eltern nicht nackt sehen konnten. Danach ging es der Reihe und dem Alter nach. Sukzessive wurde warmes Wasser nachgefüllt, nachdem zuvor die gleiche Menge erkaltetes Badewasser aus der Wanne geschöpft worden war. Später, als ich größer war, zog ich den Besuch im Stadtbad vor.

In der Küche wurde auch das Essen zubereitet und eingenommen. Es war einfach und entsprach sowohl den finanziellen Möglichkeiten der Familie als auch denen des lokalen Handels. Die Wohnräume waren sparsam möbliert, und erst Ende der 50er Jahre konnten wir uns ein Rundfunkgerät leisten, in unseren Augen ein Riesenkasten mit unendlich vielen Sendern auf der Skala.

Fünf Jahre nach dem Krieg kam ich zur Schule. Was ein Problem war. Die meisten Chemnitzer Schulen waren zerstört oder in ihrer Tätigkeit sehr eingeschränkt, was zur Überfüllung der anderen führte. Ich zog in den ersten Jahren mit meinen Brüdern durch mehrere Einrichtungen, weshalb meine Erinnerung an jene Jahre nicht die beste und auch nur sehr oberflächlicher Natur ist.