Asta Scheib

DAS STILLE KIND

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2014

© 2011 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: Lisa Höfner unter Verwendung

eines Fotos von plainpicture/Mira

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41539-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21530-5

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

Für Wolfgang Balk

  1  

Lukas legte seinen Arm um Paulina und zog ihren Kopf sanft an seine Schulter. Paulina seufzte, tat so, als schliefe sie noch. Aber sie verriet sich, drängte sich an Lukas, und er spürte wieder die seidige Weichheit ihrer Haut, ihres warmen, geschmeidigen Körpers. Jetzt zog er sie fest an sich, grub seine Lippen in ihren Mund und suchte ihre Zunge, die ihm rasch entgegenkam. Paulina griff in Lukas’ dichten Schopf, dann glitten ihre Finger über seinen Körper. »Verdammt schön, dass du mich so gut kennst«, murmelte Lukas und schloss die Augen, seine Hand streichelte Paulinas Haar. Sie mussten leise sein. Paulina bewegte sich unter der Bettdecke an seinem Körper entlang, bedeckte ihn mit Küssen und liebkoste ihn, als wollte sie ihm ihren gesamten Vorrat an Liebe auf einmal schenken.

»Und du?«, flüsterte Lukas Paulina später ins Ohr. Sie hatte sich noch mal an seine Schulter geschmiegt, lag still da und atmete mit ihm. Sie gab ihm noch einen flüchtigen Kuss, sagte: »Heute nicht«, und stieg graziös aus dem Bett.

Lukas schaute ihr nach, sah die Schwimmerschultern, den festen Po und die langen Beine Paulinas im Bad verschwinden. Er versuchte, alles zu speichern, Paulinas Duft, ihren fast jungenhaften Körper an seinem – dann war es auch Zeit für ihn, aufzustehen. Es hatte sich so ergeben, dass er den Tee zubereitete und für jeden eine Schale Milch mit Flocken, Rosinen und Honig.

Als er in die Küche kam, sah er auf Cosimas Platz die Geburtstagsdekoration, die Paulina wohl gestern noch gemacht hatte, als er schon schlief. Seine Große wurde sechs Jahre alt. Er ging ins Kinderzimmer, setzte sich vorsichtig an ihr Bett und streichelte sie wach.

Sein Sohn David ließ sich nicht stören. Er hockte schon unterm Küchentisch und spielte selbstvergessen mit seinen Soldaten, die er in pingelig genauen Reihen aufmarschieren ließ. Wehe, einer fiel um. Niemand, auch nicht die Eltern, durfte an Davids Streitmacht etwas verändern. Er hatte die Soldaten von Granny bekommen. Die kleinen Figuren aus bunt bemaltem Zinn, etwa daumengroß, waren nach dem deutsch-französischen Krieg in Nürnberg hergestellt worden, denn sie trugen die Uniform des Garderegiments, schwarze Stiefel, weiße Hosen, blaue Jacke. Die französischen Soldaten waren an ihren roten Hosen zu erkennen. Lukas, Franziskas Enkelsohn, war nie an dieser Armee interessiert gewesen, die noch von seinem Urgroßvater stammte. Für David jedoch waren die Zinnsoldaten sein Ein und Alles.

Paulina hatte ihren Bademantel angezogen und stillte das Baby. Wie jedes Mal, wenn Lukas und sie sich am Morgen liebten, hatte sie ihren Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen. Als täte sie etwas Verbotenes. Sie hatte Angst, Cosima oder David könnten plötzlich ins Schlafzimmer kommen.

Sie sah mit einem kurzen Lächeln auf, aber ihre Aufmerksamkeit gehörte nicht mehr ihrem Mann. Lukas erlebte das nicht zum ersten Mal. Kein Gedanke an den letzten Augenblick, er war abgemeldet. Fast war er beleidigt, und er hätte das Paulina gern ein wenig spüren lassen, aber es war schon acht Uhr vorbei, er musste sich beeilen denn ausgerechnet heute sollte er einen Kollegen auf dem Waldfriedhof vertreten. Und vorher wollte er Cosima noch in den Kindergarten bringen.

Lukas legte kurz seine Wange an Paulinas Gesicht, küsste David und Mavie, nahm die fertig angezogene Cosima an der Hand und polterte die Treppe hinunter. Da erschien Paulina noch einmal am Treppenabsatz und rief ihm hinterher, dass er seinen Schal vergessen habe, es sei für den ganzen Tag Schneefall gemeldet. Sie warf den wollenen Schal runter ins Treppenhaus. Lukas fing ihn auf und sah, wie Paulina die Wohnungstür schon wieder schloss. Manchmal war er hilflos – als Mann und als Vater. Familienvater, Vater dreier Kinder. Noch vor sieben Jahren wäre das für ihn unvorstellbar gewesen, und manchmal fühlte er sich so platt, als habe ein Traktor ihn überfahren. Dann wieder fand er alles großartig – durch diese vier geliebten Menschen schien er doppelt und dreifach zu leben.

Dieser Gedanke war ihm zum ersten Mal gekommen, und Lukas fand ihn eindrucksvoll. Vielleicht könnte er den Gedanken seinem Schwiegervater vortragen. Oder der Schwiegermutter. Lukas hatte schon mal gehört, dass sie ihren Mann mit »Herr Professor« ansprach und er sie mit »Frau Doktor«. Das war zwar nicht ernst gemeint, aber Lukas fand es trotzdem lächerlich. Es kam sogar vor, dass die Eltern sich siezten, wie es die gebildeten Schichten in Frankreich machten. Das war auch Paulina jedes Mal peinlich.

Der erste Nachmittag bei Paulinas Eltern war beklemmend verlaufen. Professor Robert Mertens war herablassend wohlwollend aufgetreten, auch nicht sonderlich interessiert; er entschuldigte sich ständig zum Telefonieren. Als er hörte, dass Paulina und Lukas heiraten wollten, war sein Gesicht hart und abweisend geworden. »Was machen Sie denn beruflich?«, hatte Paulinas Mutter in das Schweigen hinein gefragt. Doch auch sie, die Lukas eigentlich sympathisch gefunden hatte, war nur noch höflich, als sie hörte, dass Lukas Landschaftsgärtner sei. Er ärgerte sich, und als Melanie Mertens bemüht fragte, was er denn an seinem Beruf am meisten schätze, sagte er: »Den Feierabend!« Sogar Paulina war verblüfft gewesen, dann aber schaltete sie und verzog sich schleunigst mit Lukas.

Ein Segen, dass die Schwiegereltern selten zu Besuch kamen. Waren sie zwei oder drei Mal in die Donnersbergerstraße gekommen? Lukas und Paulina waren mit Ikea-Möbeln eingerichtet, womit sonst. Allerdings hatte Granny ihnen ihren alten fränkischen Geschirrschrank zur Hochzeit vermacht. Er wirkte trotz seiner Größe elegant mit seinem grau schimmernden Eichenholz. Auf beiden Türen strahlte ein großer Stern in kunstvoller Intarsienarbeit. Fast zu fein für die Wohnung, aber Paulina und Lukas liebten den Schrank. Er war denn auch Anlass für die Mertens gewesen, sich über sein Alter, seinen Wert und seine Herkunft zu unterhalten. Einer wollte den anderen mit seinem Wissen übertrumpfen, bis Professor Mertens schließlich etwas zusammenhanglos erklärte: »Unsere zweihundert Quadratmeter Tengstraße sind das richtige Ambiente für Designermöbel.« Und Melanie Mertens nickte zustimmend.

Die zählen einfach nicht, sagte sich Lukas grimmig. Es ist noch nicht aller Tage Abend, sagte seine Granny immer, wenn sie ihn trösten wollte. Lukas könnte jederzeit nach Kanada gehen, mit der ganzen Familie; er hatte schon mehrere interessante Angebote bekommen. Man lebte dort komfortabler als hier in München, wo man für jeden Quadratmeter ein Vermögen zahlen musste. Doch Paulina träumte nicht von Kanada. Sie träumte von einem Haus in München. Das wusste Lukas, obwohl Paulina nie davon sprach. Aber Lukas nahm die Träume seiner Frau ernst. Für beide war München die Heimatstadt, eine der grünsten Großstädte Deutschlands. Lukas war angestellt bei der Stadt. Sein oberster Chef sei der Oberbürgermeister Christian Ude, betonte Lukas gerne. Er sagte auch manchmal, dass die Münchner oftmals Eingaben machten, zum Teil absurde Vorschläge oder Ideen unterbreiteten. Auf diese Weise seien die Bürger wiederum Chef von Ude, und diese These leuchtete jedem ein.

Lukas hatte nach seiner Rückkehr aus Kanada innerhalb weniger Wochen die Anstellung bei der Stadt bekommen. Er war vor allem für die Pflege der Grünanlagen an den städtischen Schulen, Bibliotheken, Krippen und Kindergärten zuständig. Die Erzieherinnen dort hatten oftmals Träume, die Lukas wahrmachen sollte. Sie wünschten sich Rasen, damit die Kinder darauf spielen konnten. Dort, wo Kinder täglich spielten, wuchs aber kein Rasen, das war ein Naturgesetz, das Lukas geduldig erklärte. Da sprachen die jungen Frauen von Rollrasen. Sie glaubten ihm nicht, dass der auch unansehnlich werden würde. Als er gerade die Mittel hatte, ließ Lukas in einem Kindergarten Rollrasen verlegen. Der wurde dann wirklich rasch häßlich, und diese Erzieherinnen wenigstens glaubten fortan Lukas, wenn er ihnen einen Wunsch abschlagen musste.

Er machte jeden Tag die Erfahrung, dass die meisten Menschen sich nach der Natur sehnen, dass sie Bäume, Pflanzen und Blumen um sich haben wollen, doch allenfalls die Hobbygärtner hatten eine Vorstellung von der Pflege, der immer wiederkehrenden Arbeit, die notwendig war, um der Natur das Bild abzuringen, das sich die Verantwortlichen der Stadt und auch die Bürger von ihr machten.

Paulina ging vorsichtig die Treppe hinunter, Mavie im Arm. Paulinas Vorsicht galt vor allem den Nachbarn, die sich offenbar darauf geeinigt hatten, dass die Ruges einfach nicht in das Haus in der Donnersbergerstraße passten. Niemand sagte es offen, doch Paulina hörte, wie sich Türen leise schlossen, sobald Paulina auf der Treppe war, oder wie ein Gespräch sofort abbrach, wenn Paulina näher kam. Wahrscheinlich hielten sie die Ruges für verrückt, vor allem wegen David. Und er gab den Vögeln reichlich Zucker, flatterte mit den Händen, wenn die Nachbarn aus der Türe kamen. Oder er sah die Nachbarn erst gar nicht an. Außer Frau Ramsauer. Sie schien ihm zu gefallen. Um die Siebzig war sie wohl. Im Sommer trug sie stets weiß. Duftig. Wie eine in die Jahre gekommene Elfe. Wenn sie David sah, legte sie einen Finger auf die Lippen und schaute verschwörerisch.

»Wir fliegen um die Welt«, sagte sie. Und David legte auch einen Finger auf die Lippen. Er nickte. »Wir fliegen um die Welt. Wir fliegen um die Welt.«

Am Anfang erschien es Paulina seltsam, einer Frau im Treppenhaus zu begegnen, die ihr im Vorbeigehen versicherte: »Ich brauche die Menschen, ich brauche die Menschlichkeit.« Paulina fand Frau Ramsauer mit der Zeit liebenswert, weil sie immer fantasievoll aussah und nie Anstoß nahm am Lärm der Kinder.

Paulina mochte eigentlich auch die lange, breite und bunte Donnersbergerstraße jeden Tag mehr. Wenn Paulina im Winter aus dem Fenster schaute, war die Straße manchmal auch grausam kalt und still. Der Mond stand in der Nacht hoch und eisig am Himmel, doch er schickte blausilbernes Licht auf den frisch gefallenen Schnee. Nirgends war der Schnee so glitzernd und funkelnd wie hier. Unbeteiligt und dunkel standen die Häuser, und auch die Zimmer ihrer Wohnung blieben trotz des Mondlichts merkwürdig finster. Granny hatte sie damals gewarnt, aber sie kannte auch die blausilbernen Schneeverwehungen nicht, nicht das Funkeln. Und die Miete der Wohnung war niedrig; sie wollten unbedingt selbstständig sein.

Als Entschädigung lernten sie schon am Umzugstag Frau Ramsauer kennen. Sie wohnte auf demselben Stock wie die Ruges. Zumindest modisch gesehen war sie zweifellos eine Attraktion in der Donnersbergerstraße. Auch jetzt im Winter war Frau Ramsauer modisch auf der Höhe der Zeit, was vor allem David interessant fand. Ihr Wintermantel hatte dicke altsilberne Kugelknöpfe, mindestens zehn Stück. Von der schwarzen, steifen Filzkappe hingen links und rechts zwei dicke Zöpfe hinab, und Frau Ramsauer neigte den Kopf ein wenig, damit die Zöpfe frei hängen konnten. Als sie der Nachbarin zum ersten Mal in dieser Montur begegneten, neigte David sofort ebenfalls seinen Kopf nach vorn und schaukelte sanft, als hätte auch er Zöpfe an der Mütze.

»David will Frau Ramsauer sein. David will Frau Ramsauer sein.«

Da Frau Ramsauer eher klein gewachsen war, mussten ihre Jeans fast zwei Handbreit umgeschlagen werden. Praktisch bis zum Knie. Sie abzuschneiden kam Frau Ramsauer nicht in den Sinn. Die Musikstudentin Michiko, die unterm Dach ein schräges Zimmer bewohnte, hatte respektvoll gesagt, sie möchte wetten, dass die Jeans von True Religions seien. Paulina hatte von dieser Marke noch nie gehört, Frau Ramsauer war einfach anders als die anderen. Paulina hatte schon beobachtet, dass Frau Ramsauer die Donnersbergerstraße auf und ab spazierte, einfach so, mit schwingenden Zöpfen. Sie schien es zu genießen, dass Passanten auf sie aufmerksam wurden.

Paulina beeindruckte das, doch sie wollte vor allem wissen, warum es bei dieser Nachbarin immer rumpelte, auch wenn sie nicht daheim war. Paulina fand das unheimlich, besonders abends, wenn es still war in der Wohnung und Lukas noch spät im Büro arbeitete. Ob es in München noch mehr Häuser gab, in denen es spukte? In denen vielleicht die Geister der Leute umhergingen, die früher hier gewohnt hatten? Die Erklärung war banaler, das Rumpeln bei Frau Ramsauer hatte einen Namen: Ojesses. Ein kräftiger schwarzer Kater, den man kaum zu Gesicht bekam, weil er sein Revier auf den Dächern hatte. Frau Ramsauer hatte ihn einmal auf dem Arm gehabt, um ihn David zu zeigen. Doch der grüßte nur gemessen, und dem Kater Ojesses lag auch nichts an David. Vielmehr strebte er energisch runter vom Arm der Frau Ramsauer und war blitzschnell treppauf verschwunden.

Paulina war ihrem Viertel nicht nur im Winter verfallen. Konnte Mavie nachts nicht schlafen, zeigte ihr Paulina den Mittleren Ring, auf dem die Autos im nie endenden Corso aus der Stadt hinausfuhren oder von draußen hereinkamen und sich nach der Freiheit der Autobahn wieder einfädeln mussten in das komplizierte Geflecht der Straßen und Plätze. Überm Ring und über dem Hochhaus der Mercedes-Niederlassung konnte Paulina jederzeit den Himmel in seinen exklusiven Farbschattierungen sehen. Am schönsten war das Abendlicht, das jetzt im Februar den Himmel roséfarben und dunkelgrau schimmern ließ. Früh munter waren die Tauben, die auf den Fenstersimsen der Häuser saßen wie dicke Kinder von Adlern.

Alles für Mavie. Besonders in den frühen Morgenstunden, wenn Paulina mit Mavie oft alleine in der Wohnung herumging, schien ihr dieses Kind am vertrautesten. Mavie sah genauso aus wie Paulina auf ihren Babyfotos, hatte dieselbe unbedingte Lebensfreude. Mavie war auch ebenso friedlich, wie es Paulina in den ersten Lebensjahren nachgesagt wurde.

Ihre beiden älteren Kinder, Cosima und David, schienen Paulina dagegen oft rätselhaft. Davids unberechenbare Ausbrüche. Die unkindliche Sicherheit Cosimas. Oft erinnerte sie Paulina an ihre Mutter, nur eben im Kleinformat.

Heute wurde Cosima sechs Jahre alt. Jedes Mal, wenn Cosimas Geburtstag nahte, dachte Paulina an die Tage, als sich Cosima weigerte, auf die Welt zu kommen. Ein ganzes Wochenende lang. Eine Geburt sei harte Arbeit, aber doch sehr schön – war Paulina erzählt worden. Einen Kaiserschnitt, den man ihr irgendwann vorschlug, hatte Paulina abgelehnt, sie wollte dabei sein, wenn ihr Baby auf die Welt kam. Und dann dieses Desaster. Freitagmittag waren sie in die Maistraße gefahren, Lukas und sie. Lukas hatte erst dann Urlaub nehmen wollen, wenn Paulina mit dem Baby nach Hause kam. Das würde ja höchstens drei Tage dauern. Aber Cosima war erst am Montagmittag auf die Welt gekommen. Mutterglück – Pustekuchen. Lukas konnte es nicht fassen, dass Paulina nur weinte. »Gebär du mal drei Tage lang!«, hatte Paulina geschluchzt. In der Klinik war das schon losgegangen. Paulina war von dem anhaltenden Wehenschmerz völlig kraftlos gewesen, und plötzlich bedrückte sie die Zukunft mit dem Baby, so viel Unheimliches schien ihr aufzulauern. Eine Schwester hatte Paulina kühl mitgeteilt, dass es Schwangere gebe, die nach den Aufregungen und Ängsten der Geburt verrückt wurden, vom Wochenbett in die Psychiatrie, das käme durchaus vor. Paulina hatte es sofort geglaubt. Die Spuren dieser Ängste verschwanden lange nicht.

Gestern, vor dem Zubettgehen, hatte Paulina für Cosima einen Kuchen gebacken. In Herzform. Sechs Kerzen hatte sie darauf gesteckt. Dann begann sie, den Familienthron zu schmücken, einen alten Holzsessel mit geschwungenen Lehnen. Er wurde über und über mit Papiergirlanden umwickelt. Paulina öffnete das Fenster. Sie hatte schon das Licht ausgemacht und sah auf die schwach schimmernde Asphaltdecke der Arnulfstraße. Wieder fiel ihr der Tag vor sechs Jahren ein. Damals hatte Paulina an einem Fenster in der Maistraße gestanden und ebenfalls hinaus auf die Fahrbahn geschaut. Der Kampf lag noch vor ihr, und sie hatte mit jedem Auto, das sie vorbeifahren sah, mitfahren, flüchten wollen.

Paulina würde Cosima sanft wecken, was ihr jeden Morgen schwerfiel, denn Cosima mochte abends nicht ins Bett gehen und am Morgen ganz entschieden nicht aufstehen. Sie schlief noch, die Locken auf dem Kissen ausgebreitet, die Arme seitlich neben dem Kopf abgelegt. Lukas saß bei ihr und streichelte vorsichtig ihre Wangen. »Meine große Tochter«, sagte er, und Paulina hörte die Rührung in seiner Stimme.

Cosima und Lukas sahen einander sehr ähnlich. Lukas’ schmales, blasses Gesicht mit der langen Nase und den ernsthaften dunklen Augen fand sich in Cosima wieder. Doch anders als bei Lukas, dessen kurze Locken wie ein Rahmen um sein Gesicht standen, fielen Cosimas Haare bis auf die Schultern. Am ähnlichsten schien Paulina der Mund. Genau wie Lukas’ Mund war er meist geschlossen, und die Mundwinkel wiesen leicht nach unten. Bei Lukas löste sich diese leicht ablehnend wirkende Mimik rasch auf in Herzlichkeit, Übermut. Cosima dagegen blieb gerne ernst. Auch jetzt, an ihrem Geburtstagsmorgen. Nur ein flüchtiges Lächeln für die sechs brennenden Kerzen auf dem Kuchenherz erhellte Cosimas Gesicht. Paulinas und Lukas’ Küsse und Umarmungen nahm sie huldvoll entgegen.

Paulina spürte noch Cosimas Schlafduft, ihre Locken, die Paulina an der Nase gekitzelt hatten. Dann sah sie auf David unter dem Tisch.

»Hey, David, willst du nicht deiner Schwester zum Geburtstag gratulieren?«, rief Lukas, der ihrem Blick gefolgt war, nach unten, doch David kommandierte sein Bataillon. Cosima rief: »Lass den bloß in Ruhe, Papa, sonst gibt es wieder Terz.« Cosima rief es freundlich, nachsichtig, doch sie trank ihren Kakao lieber allein mit Lukas, während Paulina Mavie aus dem Schlafzimmer holte, die ihr Erwachen durch laute Brabbeltöne mitteilte. Morgens bekam sie noch die Brust, und ihr zahnloser Mund öffnete sich zu dem typischen Mavie-Lächeln, das ein Lächeln hoch drei war und von keinem anderen Baby erreicht werden konnte.

Es tat Paulina weh, dass Cosima so selbstverständlich auf Davids Gratulation verzichtete. Doch sie musste zugeben, dass David es einem mit seinem Eigensinn schwer machte. Obwohl er sichtlich an seiner Mutter hing, war er nicht zärtlich, kein Schmusebär wie andere kleine Jungen. Und dazu seine Spinnereien, sein endloses Singen, immer neue Strophen, von ihm selbst erfunden und vertont, die er im Bett sang, so, dass Cosima oftmals nicht einschlafen konnte. Oder seine Tobsuchtsanfälle, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte. Glücklicherweise erwachte er früh, denn wenn er unvermutet geweckt werden musste, war er fassungslos, drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und fuchtelte wild mit den Armen.

Von wem hatte er das nur? Paulina belächelte schon selber ihren Zwang, ständig die Eigenheiten ihrer Kinder bei Verwandten zu suchen. Eigentlich kam nur Paulinas Vater in Frage, der auch jähzornig war und ein Eigenbrötler. Aus Lukas’ Familie kannte sie nur Granny, seine Großmutter. Paulina konnte sich nicht erinnern, jemals einen Menschen so rasch lieb gewonnen zu haben wie Franziska Ruge. Die Ruhe und Wärme dieser Frau waren ungewöhnlich. Bald, nachdem Paulina und Lukas sich kennengelernt hatten, lud Granny Paulina zum Kaffee ein. Die Wohnung war mit frischen Blumen geschmückt. Es gab Waffeln, dazu Kirschkompott und Sahne. Willkommen, Paulina. Sie fühlte sich umhegt wie eine Prinzessin.

Kein Zweifel, Franziska Ruge hatte sich auf Paulina gefreut, und man könnte sagen, es war Liebe auf den ersten Blick. Manchmal, wenn Paulina sich nach einem endlosen Tag erschöpft fühlte, wäre sie gern in die Frundsbergstraße zu Franziska Ruge gegangen. Aber Lukas kam manchmal spät heim, wenn er nach der Tagesarbeit noch Bürokram erledigen musste. Und Franziska konnte die Kinder nicht allein lassen.

Mavie war während des Runtertragens wieder eingeschlafen, und Paulina legte sie behutsam in den Kinderwagen, den sie schon heruntergetragen hatte. Die Nachbarn grantelten. Drei Kinder in einer so kleinen Wohnung, das müsse man sich doch vorher überlegen. Niemand sprach Paulina offen an, sie redeten lieber an ihr vorbei in den Flur hinein. Schon als David so klein war wie heute Mavie, hatten sie gemurrt. Frau Eder hatte einmal den Hausmeister gefragt, als Paulina vorbeiging: »Wos sogn S’ zu dem Buam? Der ist doch total durcheinand! Und ewig des Gebrüll! Die jungen Mütter heutzutag – naa, naa.« Ist das in jedem Mietshaus, in jeder Wohnung so, fragte sich Paulina manchmal, wenn sie wegen der Szenen im Treppenhaus am Ende ihrer Geduld angelangt war.

Da öffnete sich die Haustür. Die im Parterre wohnende Frau Schierl baute sich in ihrer beträchtlichen Größe davor auf. »Der Kinderwagen bleibt aber nicht wieder die ganze Nacht da unten!« Ihre schrille Stimme brach, und sie fuchtelte anklagend mit Regenschirm und Einkaufskorb herum, und dann ächzte sie, als müsse sie sich mühsam durch einen schmalen Spalt zwängen.

Paulina war schon wieder im vierten Stock angekommen. Sie schaute runter nach Mavie, rief in der Wohnungstür nach David: »Wo bleibst du denn? Komm endlich! Wir müssen doch zum Arzt mit Mavie!« Paulina hörte, dass sie das Radio in der Küche angelassen hatte, machte es aus und rief wieder nach David. Unten im Flur war Frau Schierl dabei, dem Hausmeister das Sündenregister der Ruges zu aktualisieren. Sie würde Mavie aufwecken.

Wo war nur David? Paula sah in jede Küchenecke, ins Wohnzimmer, ins Kinderzimmer und ins Schlafzimmer. Dann hörte sie das Wasser, sprang mit einem Satz ins Bad und sah David unter der Dusche stehen. So, wie sie ihn angezogen hatte, in seinem blauen Wintermantel mit der Schirmmütze und den Stiefeln, stand er im dampfenden Strahl und schaute Paulina an.

  2  

Lukas Ruge zog die Mütze über die Ohren und stellte den Kragen seiner Jacke hoch. Es schneite leise und dicht, und die Flocken fielen ihm in den Nacken. Der Schal lag im Auto, Lukas hatte ihn trotz der Mahnung Paulinas nicht um den Hals gewickelt, und nun durfte er zur Strafe frieren. Vor allem auf die verdammten Flocken in seinem Nacken hätte er verzichten können.

Lukas war selten im Waldfriedhof, der zum Gebiet seines Kollegen Markus gehörte, aber er wusste, dass auf diesem Gelände um die dreitausend Bäume standen, ein majestätischer Wald, in dem die Gräber manchmal fast überraschend auftauchten. Er hatte dort schon Rehe gesehen und Füchse, und natürlich die frechen Eichhörnchen, schwarze und braune, die sich in den Ästen schwangen wie kleine Affen. Lukas ging in das Büro, las das Fax mit der Liste der Toten durch, die heute begraben wurden. Er hatte dafür zu sorgen, dass keiner seiner Mitarbeiter mit dem Wagen herumrumpelte, wenn eine Beerdigung stattfand.

Sein Blick blieb bei einem Namen hängen. »Nepomuk Anton Huber, Landschaftsgärtner, 73 Jahre«. Nepo Huber, Lukas hatte bei ihm seine Lehre gemacht und danach bis zur Meisterprüfung gearbeitet. Er hatte ihn gedrängt, für ein Jahr nach Kanada zu gehen. »Mach das, Lukas! Zu meiner Zeit gab es solche Chancen nicht. Du hast Englisch gelernt, dich werden sie mit offenen Armen empfangen.«

Lukas hatte schon früh Lust daran gehabt, in der dunklen Erde zu graben und behutsam kleine Pflanzen einzusetzen. Im Schrebergarten seiner Granny hatte er die ersten Erfahrungen gemacht. Er durfte ein Stück Erde besäen und bepflanzen, und Granny hatte nicht geschimpft, wenn Lukas mal sein Biotop vergaß. Als Teenager hatte er für eine Zeit lang die Lust am Schrebergarten verloren, aber eines Tages wusste er, dass er Gärtner werden wollte. Einer, der Landschaft gestaltet.

Nepomuk Huber hatte Blumen und Pflanzen spielerisch wie ein Zauberer behandelt. Wenn Lukas ihm zugeschaut hatte, wie er Rosenstöcke sekundenschnell und doch behutsam in die Erde pflanzte, war ihm anfangs fast schwindlig geworden. Doch Huber konnte auch Terrassen bauen und Gartenmauern. Am liebsten arbeitete er mit Gnais, der seine Farben im Licht immer wieder änderte. Als Lukas zum ersten Mal mit dem Chef gemeinsam einen zementierten Weg, der zu einem Bauernhaus führte, in eine geräumige, von einer Mauer gesäumte Terrasse umgestaltet hatte, wusste Lukas, dass er richtig lag mit der Wahl seines Berufs. Und er hatte einen geduldigen, sehr menschlichen Lehrer, der ihn in allem unterstützte, weil er sah, wie begeistert Lukas seinen Anregungen folgte.

Außer der Gärtnerei hatten Lukas und Nepomuk Huber noch eine weitere gemeinsame Leidenschaft gehabt: Sie waren süchtig nach Eiscreme. Nach einer ganz bestimmten Sorte. Sie hatte einen unaussprechlichen Namen und wurde in Schwabing auf der Leopoldstraße in einem kleinen Laden verkauft. Schier schwachsinnig vor Glück hatten sie große Mengen der Köstlichkeit in sich hineingelöffelt und nur der Ordnung halber das Arbeitsprogramm des nächsten Tages besprochen. Wie lange war das schon her?

Und heute wurde Nepomuk Huber beerdigt. Mit dreiundsiebzig. Am liebsten hätte Lukas geweint. Warum hatte er den Chef, dem er so viel verdankte, völlig aus den Augen verloren? Mit einem Mal kam Lukas sich undankbar vor, oberflächlich. Woran war Nepomuk Huber wohl gestorben? Wenigstens wollte Lukas einen prächtigen Kranz für ihn binden.

Lukas fuhr in die Großmarkthalle, kaufte dort weiße Rosen und Thuja, eine neue, helle Züchtung, und während er alles zu einem üppigen Kranz zusammenband, kamen die Erinnerungen an seine Zeit bei Nepomuk Huber hoch. Es tat Lukas plötzlich weh, dass er den Chef in den letzten Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wenn er Bepflanzungen beaufsichtigt hatte, das Fällen und Roden von Bäumen, dann hatte er immer mal wieder an Nepomuk Huber gedacht. Hatte sich vorgenommen, ihn anzurufen. Gleich heute. Nein, besser morgen. Nun war Nepo tot. Lukas wusste, dass es Fehler gab, die man nicht mehr gutmachen konnte. Doch jetzt, da es ihm passierte, spürte er einen tiefen Schmerz, einen Krampf, der ihm die Brust verengte. Über der Heirat mit Paulina, überm dreimal Vaterwerden hatte er den Chef hintenangestellt und schließlich vergessen.

Schon als kleiner Junge hatte Lukas den Gärtner Huber kennengelernt, nach dem Unfall seiner Eltern. Ein achtjähriger Junge, der von einem Tag auf den anderen keine Eltern mehr hatte und keinen Bruder. Nur Lukas und Granny waren noch übrig von der Familie Ruge. Lukas war dabei gewesen, als Granny in der Gärtnerei Huber die Kränze für die Beerdigung bestellt hatte. Und der Gärtner Nepomuk Huber hatte Lukas für die Beisetzung ein Herz aus Rosen zusammengesteckt, das er leicht tragen und sich zugleich daran festhalten konnte. Der Gärtner kam dann auch zur Beisetzung auf den Friedhof. Er war dunkel gekleidet, stand da mit ernstem Gesicht und war später wieder unauffällig weggegangen.

Diese Bilder kamen Lukas in den Kopf, obwohl das alles schon so lange her war.

Als er nach dem ereignisreichen Jahr aus Kanada zurückkam nach München, fühlte sich Lukas geschäftig, wie unter Strom. Er hatte Neues gelernt. Das wollte er zeigen. Um die Anstellung als Landschaftsgärtner bei der Stadt hatte er sich schon von Calgary aus beworben.

Er fand ein Gartenhaus in Schwabing. Es war schon reichlich verblichen, hatte aber einen Wohnschlafraum plus Hexenküche und einen kleinen Garten, den Lukas mit bunten Blumen dicht besäte und gedeihen ließ. Fliedersträucher waren schon da, ein Apfelbaum. Freunde hatten Paulina mitgebracht. Sie stand in der Tür, sah sich um, Lukas erinnerte sich an den hellen Fleck, der ihr Gesicht gewesen war. Sie hatte den Kopf zurückgelegt, ihn angeschaut. Abwartend, schien es ihm. Wie wäre sein Leben verlaufen, dachte er manchmal, wenn ein anderes Mädchen dort gestanden wäre. War es die Stunde null, die einmalige Chance oder nur einer von tausend Zufällen?

Paulina war mit Anna gekommen, ihrer Freundin aus Zeiten des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums. Die beiden hatten sich früh verabschiedet. Männliche Begleitung abgelehnt. Sie wollten noch zum Freitanzen an die Friedenheimer Brücke. Aber ein paar Tage später hatte Paulina geklingelt. »Ich bin grad vorbeigeradelt, da hab ich bei dir Licht gesehen«, und ihr langes Haar hatte im Schein der Türlampe wie eine Gloriole ausgesehen, schön. Paulina wollte ihn zum Essen einladen, einfach so. Er schob ihr Rad, sie hatte sich bei ihm eingehängt, und sie trug nur ein leichtes Kleid. »Kühl geworden, oder?«, lachte Paulina. Dann legte sie den Kopf an seine Schulter, der haarscharf dahin passte, und sie gingen und lachten, und Passanten schauten sie im Vorbeigehen an. Lukas sah ihre Zähne hell schimmern, er roch ihr Haar, dessen Orangenduft schon an der Tür zu ihm hereingeweht war. Er hätte stundenlang mit ihr gehen und das Rad schieben können. »Oh babe, I’m in the mood for you.«

Das Leben hatte ihn und Paulina mit Geschehnissen überschüttet. Ja, wie aus einem großen Sack war über Paulina und Lukas Neues, nie zuvor Erlebtes ausgeschüttet worden. Es war Lukas, als hätten sie nie Zeit genug gehabt, alles zu begreifen, was geschehen war.

Paulinas Eltern, ihre Schwester Lili, die immer häufiger hereinschneite, seine Großmutter, die eigene Wohnung, Lukas’ Arbeit bei der Stadt, wahnsinnig schnell drei Kinder, Paulina und er – das war Lust oder Ekstase, aber auch Spannungen, Zufälligkeiten, auf die er nicht gefasst gewesen war. Paulina wohl auch nicht, doch sie sprach nicht darüber; vielleicht störten sie die Irritationen, die so ein Leben mit Heirat und Kindern mit sich bringt, gar nicht.

Lukas war vor allem der Querelen mit der steifen Verwandtschaft überdrüssig. Auch seine oftmals unberechenbaren Kollegen kosteten ihn viel Geduld. Er hatte fast nur noch ungelernte Aushilfskräfte zur Verfügung, die häufig wechselten. Und dass seine Arbeit immer mehr von der Verwaltung bestimmt wurde, hatte er sich so nicht vorgestellt. Oftmals sehnte er sich danach, selbst Bäume in die Erde einzupflanzen, anstatt es anderen vorzuschreiben. Er wollte mit Natursteinen Treppen und Mauern bauen, Teiche, Becken oder Wasserläufe anlegen, Standorte für Gehölze schaffen, Begrünungen, Hang- oder Uferbefestigungen vorbereiten und auch selber durchführen. Doch er kam meistens nur dazu, am Computer zu sitzen und die Arbeiten an den einzelnen Standorten zu koordinieren.

Daheim fühlte er sich manchmal von Paulina manipuliert. Es war oft absurd, was sie von ihm wollte, und er hatte den Eindruck, dass es ihr mehr ums Kommandieren ging als um die Sache. So hatte sie neulich beschlossen, dass Lukas sich um die Wäsche kümmern solle. Die Gemeinschaftswaschmaschine stand im Keller, und die beste Zeit war tagsüber, weil dann die meisten Mieter ihrem Beruf nachgingen. Auch Lukas hatte seine Arbeitszeiten. Das musste Paulina doch wissen.

Seit sie drei Kinder hatten, schien es Lukas, als habe sich Paulina verändert. Das war normal, aber er verstand sie einfach nicht. Sie war ein Sturkopf, der ihm Rätsel aufgab, wenn sie zum Beispiel die Kinder verteidigte, weil Lukas versuchte, sie zu bändigen. »Wenn du mit ihnen schimpfst, tun sie mir leid.« Paulina hatte so eine verdammte Art, ihn zu ignorieren, wenn ihr etwas nicht passte. Dann wieder löste sich alles in ihrer Leidenschaft auf.

Wenn er ganz von vorn anfangen könnte, fragte sich Lukas manchmal, sein Leben neu beginnen könnte, was würde er anders machen? Würde er überhaupt etwas anders machen? War das wirklich so klar? Hatte er die Wahl gehabt? Hatte nicht schon alles damit angefangen, dass er ohne Mutter, Vater, Bruder aufgewachsen war?

Aber er hatte Granny. Als er noch klein war, hatte Granny hohe Schuhe getragen. Sehr hohe Absätze waren das und vor allem sehr dünne. Einmal hatte Lukas versucht, in den Schuhen zu gehen. Er war sofort nach vorne gekippt. Lukas glaubte auch noch zu wissen, dass Granny ihn in einer Karre herumkutschiert hatte, und er soll jedes Mal gerufen haben: »Sing, Granny, sing!«, und dann hatte Granny gesungen und war mit ihm gerannt, bis sie nicht mehr konnte. Die Geschichte in der Post kam Lukas in den Sinn. Er hatte mit Granny Pakete aufgegeben, Weihnachtspakete, und vor ihnen hatte eine Frau gestanden mit einem kleinen Mädchen, das zornig nach der Mutter schlug, brüllte und sich dann auf den Boden warf. Die Mutter, am Ende ihrer Kräfte, sagte zu Granny: »Wir späten Mütter, wir haben es nicht leicht.« Sie hatten die Frau nicht aufgeklärt.

Am Starnberger See war es genauso gewesen. Lukas war auf den Steg gerannt, bis weit nach vorn zum Wasser; Granny konnte auf ihren hohen Hacken nur vorsichtig hinterherbalancieren, damit sie mit ihren Absätzen nicht zwischen die Holzbohlen geriet. Da hatte ein Mann Lukas gemahnt: »Du musst bei deiner Mutter bleiben, an ihrer Hand, sonst fällst du ins tiefe Wasser. Es gibt ja kein Geländer hier.«

Und wenn er manchmal mitbekam, dass die Eltern seiner Schulfreunde kleinliche und aufgeblasene Spießer waren, dann war er ausgesöhnt mit seinem Schicksal, nur noch Granny zu haben.

Granny und viel später Paulina. Lukas dachte sich, dass es Dinge gebe, die man ändern kann, und andere, bei denen das nicht geht. Seine Großmutter und Paulina gehörten zu dem Teil seines Lebens, den er nicht verändern wollte.

Doch heute wurde Nepomuk Huber beerdigt, und Lukas fragte sich, ob seine Großmutter davon wusste. Sie hatte den Gärtner Huber sehr geschätzt, war froh gewesen, dass Lukas gerade bei ihm in die Lehre gehen konnte.

Lukas beschloss, Granny gegenüber nichts zu erwähnen. Sie brauchte jetzt Ruhe nach ihrer Knieoperation.

Als Granny bei einer Freundin zum Kaffee war und wie immer ihre Beine übereinandergeschlagen hatte, konnte sie plötzlich das obere nicht mehr herunterbringen vom Knie, es ging einfach nicht. Erst lachte ihre Freundin, Granny lachte mit, aber dann musste der Notarzt kommen. Granny bekam gleich am Kaffeetisch eine Betäubungsspritze, und dann stellte sich heraus, dass der Meniskus gerissen war, auch Arthrose wurde festgestellt, und man operierte sofort. Lukas war erschrocken gewesen. Was hatte er sich eigentlich gedacht? Dass Granny unverwundbar sei, weil sie immer gut zu Fuß gewesen war? Sie beschäftigte sich mit Walking, Qigong und allem, was im Moment so in war. Der junge Arzt hatte Lukas erklärt, dass seine Großmutter erstaunlich gut beieinander sei für ihr Alter, aber vor Meniskusrissen und Arthrose könne man sich nicht schützen.

Granny war schon wach gewesen, als Lukas ankam. Sie zeigte ihm den dicken Verband an ihrem Knie, und Lukas war es, als hätten sie ihm auch eine Narkose verpasst. Wie im Nebel dachte er, dass er alle Sicherheit durch seine Großmutter bekommen hatte. Bis zu dem Autounfall hatten alle gemeinsam in dem Haus in der Frundsbergstraße gelebt. Seine Eltern, sein kleiner Bruder und er im dritten Stock, Granny im zweiten. Schon als Zweijähriger war er am Morgen die dunkle Holztreppe hinuntergeklettert zu ihr. Es hieß, er habe gesungen »Der Mond ist aufgegangen«, und dann sei er auf die Bank geklettert und habe aufs Frühstück gewartet. Das war eine der Lieblingserzählungen seiner Granny. Lukas drückte den Kopf in ihr Kissen, nah bei ihr. Auch im Krankenhausbett roch er ihr englisches Parfum. Die Großmutter nahm seine Hand, aber sie war müde.

Lukas war bei ihr geblieben, bis sie wieder eingeschlafen war. Das Krankenhauszimmer, der kahle Raum, die kaum merklich atmende Granny bedrückten ihn maßlos. Ähnlich wie in der Nacht des Unfalls hatte er auch jetzt erstickende Angst, dass die Zeit seiner Granny kommen werde. Man würde sie aus ihrem Bett herausheben, und sie würde nicht mehr seine Granny sein, sondern in der Welt verschwinden, in der auch seine Eltern und sein Bruder jetzt waren. Eine riesige Welle stürzte über Lukas zusammen, warf ihn in Tiefen, die er nicht kannte. Er ließ die reglose Hand seiner Großmutter los und trat leise aus dem Zimmer. Auf der Nymphenburger Straße sah er die Menschen in alle Richtungen eilen, die Tram, die Taxen. Lukas beeilte sich, in die Winthirstraße zu kommen, wo er den alten Daimler geparkt hatte. Das Auto seiner Großmutter. Sie lieh es ihm immer, ohne zu fragen, wofür. Auf dem Weg von der Klinik zum Parkplatz hatte sich Lukas vorgenommen, die Großmutter zu chauffieren, wohin sie wollte, wenn sie nur gesund werde.

Der fortwährend weich fallende Schnee hatte den Waldfriedhof auf so endgültige Weise eingehüllt, dass Lukas sich wieder der majestätischen Ruhe bewusst wurde, die besonders im Winter über dem Ort lag und ihn zu einem heiligen Hain des Todes machte, zu einer Stätte des Abschieds. Seine Eltern und sein Bruder waren auf dem Westfriedhof beerdigt, wo Granny beim Tod ihres Mannes ein Familiengrab gekauft hatte. Lukas konnte sich an den Tag der Beerdigung nicht mehr genau erinnern. Er wusste nur noch, dass er immer verzweifelt gedacht hatte: Granny, Granny, hilf mir, bleib bei mir. Sie hatte sein Gesicht gestreichelt, und er glaubte noch heute das dünne Leder ihres schwarzen Handschuhs an seiner Wange zu spüren.

Lukas suchte in der strengen Schneelandschaft nach dem ausgehobenen Grab Nepomuk Hubers. Er hatte auf der Liste gesehen, dass neben dem Grab Hubers um diese Stunde eine Sechzehnjährige beerdigt wurde. Daher ging er langsam und vorsichtig zu der Grabstelle. Die Beisetzung war gerade zu Ende. Der Geistliche, auf dessen hohem Barrett sich der Schnee sammelte, wollte die Eltern bewegen, den anderen Trauergästen zu folgen, die schon den Rückweg angetreten hatten. Der Mann versuchte auch, die Frau vom Grab fortzubringen, doch Lukas schien es, als hielte er sich eher an ihr fest. Lukas wehrte sich gegen den Gedanken, dass er früher oder später auch Abschied nehmen musste von Granny.

Rasch legte er seinen Kranz an den Rand der schneeweißen Grube, er würde bestimmt wiederkommen, am liebsten hätte er an der Beisetzung teilgenommen, doch er war ja vor allem dienstlich hier, er war schon spät dran, denn er hatte noch einen Auftrag im Westpark zu erledigen.

Mit jedem Schritt aus dem Waldfriedhof heraus hatte Lukas das Gefühl, als gebe ihm diese weiße Stille, die über dem Tag lag, viel von der Kraft zurück, die er manchmal verloren glaubte. Im Auto nahm er den Schal und schlang ihn sich um den Hals. Paulina, dachte er, Paulina, ich müsste dir so viel sagen. Ich mache so oft was falsch. Und Lukas dachte daran, dass er seinen verehrten Chef seit der Anstellung bei der Stadt nie wieder aufgesucht oder ihm seine Familie vorgestellt hatte. Wieder bedrückte ihn die Vergeblichkeit seiner Reue. Aber er schwor sich, diesmal den Augenblick festzuhalten. Er wollte nicht mehr unbesonnen vor sich hin leben. Er schwor den kahlen schwarzen Bäumen, dass er künftig Granny, Paulina und den Kindern gerecht werden wolle.

  3  

Während Paulina David in sein Badetuch hüllte und frische Unterwäsche bereitlegte, sah ihr Sohn angestrengt zum Himmel. Die Augenbrauen waren hochgezogen, höher ging es nicht. Paulina fragte David, obwohl sie es ihn schon oft und immer vergeblich gefragt hatte: »Warum machst du das, David, warum musst du immer an die Decke schauen?« Wie immer kam keine Antwort, aber für einen Moment ließ David Augendeckel und Augenbrauen sinken, als wollte er zeigen, dass er notfalls auch anders könne, doch dann machte er wieder dieselbe Grimasse wie vorher.

Paulina dachte, dass David sich nicht nur anders benahm als andere Kinder, er sah auch nicht aus wie andere kleine Jungen. Er sah immer ernst aus, traurig. Lukas sagte allerdings jedes Mal, wenn Paulina darüber sprach, dass er als Junge auch so ausgesehen habe. Er zeigte ihr Fotos. Es gab nur wenige, und Paulina dachte, dass die auffallend dichten Locken und der ernste Gesichtsausdruck tatsächlich diegleichen waren. Lukas und David ähnelten sich, aber Lukas hatte ein rundliches, fröhliches Kindergesicht gehabt. Manchmal fand Paulina, dass David besonders charakteristisch aussehe. Dann war sie stolz auf ihren Sohn. Aber heute war sie ungeduldig.

»Warum machst du solchen Blödsinn?«, fragte Paulina und rubbelte Davids dünne Beine trocken. Sein Mantel, die Mütze, Hose, Pulli und Unterwäsche lagen in der Dusche auf einem Haufen.

»Sieh doch mal, alles ist nass!«

David schaute auf den Kleiderhaufen, sagte ruhig: »David mag Wasser Wasser Wellen.«

Paulina wusste, dass er an sein Lieblingsbad dachte, das Hallenbad mit Wellengang. Dort war er glücklich, sprang ohne jede Angst im Wasser herum und ließ sich geschickt von den Wellen tragen.

Düster sah David in eine Ecke des Badezimmers. »David mag Wellen, nicht Arzt!«

»Wie oft soll ich es dir noch sagen, Mavie geht zum Arzt, nicht du. Und ich war doch nur ein paar Minuten im Flur, habe Mavie in den Kinderwagen gelegt«, sagte Paulina streng. »Wir machen das doch immer so. Jetzt kommen wir zu spät zum Arzt.«

Rasch, mit knapperen Bewegungen als sonst, zog Paulina dem Jungen Unterzeug an, den frischen Pulli, die olle Jeans, an der immer der Reißverschluss klemmte; eine andere war gerade nicht sauber. Es gab auch nur noch eine alte, viel zu kleine Jacke für David, aber es half nichts.

»Mantel und Mütze auch«, sagte David freundlicher und sah Paulina aus seinen dunklen Augen an.

»Ja«, entgegnete Paulina heftig, »und das mit der Dusche machst du mir nicht noch mal!«

Beim Arzt angekommen war es schwierig für Paulina, David die Treppe zum ersten Stock hochzuziehen, vor allem, weil sie Mavie auf dem Arm hatte. »David, komm jetzt endlich, du kannst allein die Treppe gehen!«

Schon auf dem Weg in die Nymphenburger Straße hatte Paulina es immer wieder gepredigt: »Nur Mavie geht zum Arzt, David nicht!«