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LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Georg Büchner

Woyzeck

Von Hans-Georg Schede

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Georg Büchner: Woyzeck. Leonce und Lena. Hrsg. von Burghard Dedner. Stuttgart: Reclam, 2005 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 18420.)

2006, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960091-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015339-0

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Werkaufbau

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps/Filmempfehlungen

1. Erstinformation zum Werk

Woyzeck ist Georg Büchners letztes dichterisches Werk. Das Stück entstand, den spärlichen Zeugnissen zufolge, im Sommer und Herbst 1836. Zu dieser Zeit lebte Büchner als ein in seiner hessischen Heimat politisch Verfolgter im Straßburger Exil und bereitete sich darauf vor, nach Zürich zu übersiedeln, um dort an der Philosophischen Fakultät der neugegründeten Universität als Privatdozent zu unterrichten. Er war 22 Jahre alt.

Das Drama Woyzeck beruht auf mehreren zeitgenössischen Mordfällen, die in der Öffentlichkeit wie auch in der medizinischen, juristischen und psychiatrischen Fachwelt stark diskutiert worden waren. Büchners Hauptquelle ist der Fall des Johann Christian Woyzeck, der am 2. Juni 1821, im Alter von 41 Jahren, in Leipzig seine um fünf Jahre ältere zeitweise Geliebte Johanna Christiane Woost aus Eifersucht erstochen hatte.

Woyzeck, 1780 in Leipzig geboren, hatte früh beide Eltern verloren, mit 13 Jahren eine Perückenmacherlehre begonnen und war nach 1798 sechs Jahre lang als wandernder Geselle durch Deutschland gezogen, in welcher Zeit er sich mit Hilfe von Gelegenheitsarbeiten durchs Leben schlug. Während der Napoleonischen Kriege diente er insgesamt zwölf Jahre lang in verschiedenen Armeen. Von besonderer Bedeutung ist dabei eine Episode aus dem Jahre 1810, als Woyzecks damalige Geliebte ein Kind von ihm zur Welt brachte, sich ungeachtet dessen aber auch mit anderen Soldaten einließ. Woyzeck reagierte tief verstört, durchlebte depressive Phasen, trank und wurde aufgrund eines Diebstahls zum ersten Mal straffällig. Sein Zustand verschlimmerte sich weiter. Schließlich wurde er unehrenhaft entlassen. Er fasste nirgends mehr Fuß und kehrte 1818 in seine Heimatstadt zurück, wo er zuletzt ohne Arbeit und Obdach lebte.

Johanna Christiane Woost war die Stieftochter seines letzten Lehrherrn. Sie war seit 1813 verwitwet. Kurz nach Woyzecks Rückkehr nach Leipzig war sie mit diesem ein Verhältnis eingegangen, pflegte aber daneben noch andere Liebschaften. Woyzeck hatte sie aus Eifersucht bereits mehrfach körperlich misshandelt, bevor er sie schließlich ermordete. Er wurde unmittelbar nach der Tat gefasst. Um seine Schuldfähigkeit zu ermitteln, beauftragte man den angesehenen Leipziger Gerichtsmediziner Hofrat Professor Johann Christian August Clarus mit einem psychologischen Gutachten. Dieses bescheinigte dem Angeklagten die volle Zurechnungsfähigkeit. Daraufhin wurde Woyzeck zum Tod durch das Schwert verurteilt. Die Verteidigung erwirkte einen Aufschub und später eine Neuaufnahme des Verfahrens, die aber wiederum zur Verurteilung Woyzecks führte. Ende August 1824 wurde Woyzeck auf dem Leipziger Marktplatz vor 5000 Schaulustigen öffentlich hingerichtet.

Clarus veröffentlichte seine beiden Gutachten. Das ausführliche zweite Gutachten, das Georg Büchner für sein Drama benutzte, wurde 1825 auch in der Zeitschrift für die Staatsarzneikunde abgedruckt. Dort hatte Georg Büchners Vater Ernst Büchner – seit 1824 Mitglied des Medizinalrates, der obersten Gesundheitsbehörde des Großherzogtums Hessen-Darmstadt – im gleichen Jahr ein psychologisches Gutachten über den »Gemüthszustand eines Soldaten im Augenblick seines Vergehens im Dienste durch thätliches Vergreifen am Vorgesetzten« veröffentlicht. (Dieser Soldat wurde übrigens aufgrund des Gutachtens freigesprochen, der Unteroffizier hingegen, der ihn provoziert hatte, zu scharfem Arrest verurteilt.) Auch hatte Büchners Vater als junger Sanitätsgehilfe zwischen Herbst 1806 und Frühjahr 1807 im selben holländischen Regiment gedient wie der Infanteriesoldat Woyzeck. Dass Georg Büchner schon während seiner Kindheit von dem aufsehenerregenden Mordfall gehört hatte, ist demnach wahrscheinlich.

Zu seinem Drama scheinen Georg Büchner aber auch zwei weitere Mordfälle angeregt zu haben. 1817 hatte der Tabakspinnergeselle Daniel Schmolling in Berlin seine Geliebte mit einem Messer umgebracht. Die Umstände der Tat ähneln denen im Woyzeck-Drama. Und 1830 erstach in Darmstadt der Leinenweber Johann Dieß seine Geliebte. Er starb 1834 im Zuchthaus, woraufhin seine Leiche zur Sektion an die Anatomie der Universität Gießen überstellt wurde. Zu dieser Zeit setzte Georg Büchner sein in Straßburg begonnenes Medizinstudium an der Landesuniversität Gießen fort und belegte unter anderem Vorlesungen über »Gerichtsmedizin« und »anatomische Übungen«. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Büchner der Obduktion des Mörders Dieß beiwohnte oder jedenfalls von ihr erfuhr.

Die drei Mordfälle weisen auffällige Entsprechungen auf: Die Täter entstammten armen Verhältnissen, waren wenig gebildet, hatten handwerkliche Berufe gelernt, als Soldaten gedient, eine unstete, beruflich erfolglose und sozial deklassierte Existenz gefristet, unterhielten Verhältnisse zu Frauen, mit denen sie ein Kind hatten (oder, im Falle Schmollings, erwarteten), die sie aber aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht heiraten konnten und die ihnen untreu waren. Sie töteten vorsätzlich und offenbar ohne Hoffnungen mehr für ihr eigenes Leben. Sie ließen sich ohne weiteres überführen. In allen drei Prozessen spielte die Frage der Zurechnungsfähigkeit eine entscheidende Rolle. Alle drei Fälle erlangten hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Sie wurden miteinander verglichen. Alle drei Täter wurden für zurechnungsfähig und mithin für voll schuldfähig befunden.

»Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel.« Diese Worte legt Georg Büchner in seiner Lenz-Novelle der Hauptfigur, dem gemütskranken Dichter und Dramatiker Jakob Michael Reinhold Lenz, in den Mund. Im Woyzeck hat er diesen Versuch selbst unternommen.

2. Inhalt

Szene 1. Auf einem Feld vor der Stadt schneiden die einfachen Soldaten Franz Woyzeck und Andres, dessen Nachname nicht genannt wird, Stöcke. Ob das zu ihren Dienstpflichten gehört, bleibt offen; ebenso, zu welchem Zweck die Stöcke gebraucht werden. Möglicherweise sollen sie bei Prügelstrafen eingesetzt werden. Woyzeck hat furchterregende Halluzinationen. Der Streif, den er im Gras wahrnimmt, deutet darauf hin, dass er glaubt, sich auf einer Richtstätte zu befinden: Dem Volksglauben zufolge sind an solchen Orten dem Boden unauslöschliche Merkmale eingeprägt. Seiner Befürchtung nach muss man damit rechnen, hier auf Köpfe von Enthaupteten zu stoßen, was den Finder nach kurzer Zeit das eigene Leben kosten könne. All diese undurchschaubaren Gefahren führt er auf das geheime Wirken der Freimaurer zurück, die nach dem Glauben der einfachen Leute ihre dunklen Machenschaften in unterirdischen Versammlungsräumen verabredeten. Zuletzt meint er, dass der Himmel in Flammen stehe und Posaunen ertönten; eine Halluzination, die deutlich unter dem Einfluss der neutestamentlichen Offenbarung des Johannes, der Ankündigung des Weltendes, steht. Seinen Gefährten Andres, der zunächst ein harmloses Lied sang, durch Woyzecks Erregung und seine Mitteilungen aber mehr und mehr in Angst versetzt worden ist, reißt Woyzeck zu Boden und in Deckung. Darauf klingen seine Wahnvorstellungen ab, die Welt erscheint ihm als tot. Andres macht ihn auf das Trommeln aufmerksam, das von der Stadt herübertönt: Der Zapfenstreich beginnt. Andres drängt zum Aufbruch.

Szene 2. Marie Zickwolf, Woyzecks Geliebte und Mutter ihres gemeinsamen Kindes, steht mit ihrem kleinen Sohn am Fenster, während der Zapfenstreich vorbeizieht, den Woyzeck und Andres vor der Stadt gehört haben. Angeführt werden die Soldaten vom Tambourmajor, der bei Marie und ihrer Nachbarin Margreth einen starken Eindruck hinterlässt. Die beiden Frauen geraten in Streit, als Margreth Marie vorwirft, dem Tambourmajor schöne Augen gemacht zu haben, und auf ihre unehrbaren Familienverhältnisse anspielt. Während Marie sich beruhigt, indem sie ihrem Sohn ein Lied vorsingt, klopft Woyzeck ans Fenster. Er kommt nur auf einen Augenblick herein, weil er zum abendlichen Zählappell in die Kaserne eilen muss. Hastig berichtet er, was er draußen erlebt hat und wie er auf dem Weg in die Stadt verfolgt worden sei. Dann geht er. Marie ist bestürzt, dass Woyzeck so verwirrt erscheint und sein Kind nicht angesehen hat. Ihr ist unheimlich zumute.

Szene 3. Vermutlich noch am selben Abend besuchen Woyzeck und Marie einen Jahrmarkt. Woyzeck ist aufgeräumter Stimmung. Vor einer Bude preist ein Ausrufer, halbunsinnig philosophierend, ein sternkundiges Pferd sowie einen als Soldaten verkleideten Affen an. Marie und Woyzeck wollen sich die Vorführung ansehen. Ein Unteroffizier und der Tambourmajor, die Marie in der Menge entdeckt und ein Männergespräch über ihre erotische Ausstrahlung geführt haben, folgen ihnen ins Innere der Bude, wo das Pferd seine Künste vorführt und der Marktschreier fortfährt, parodistisch den Unterschied zwischen Mensch und Kreatur auszuführen und seine Unerheblichkeit zu betonen. Das Pferd kann auch die Uhr entziffern. Für diese Probe stellt der Unteroffizier seine Uhr zur Verfügung. Marie drängelt sich nach vorne und lässt sich dabei vom Unteroffizier helfen.

Szene 4. Marie, ihr Kind auf dem Schoß, hat sich mit Ohrringen geschmückt und betrachtet sich in einer Spiegelscherbe. Sie beklagt – unter dem Eindruck des Geschenks, das offenbar vom Tambourmajor stammt – die Ungleichheit der menschlichen Verhältnisse und versucht das im Augenblick störende Kind mit Gesang und Drohungen zum Schlafen zu bewegen. Woyzeck überrascht Marie, die den Schmuck zu verbergen versucht. Sie gibt an, die Ohrringe gefunden zu haben, was Woyzeck anzweifelt. Dann lenkt er ein, betrachtet sein schlafendes Kind, lässt Marie Geld da und verabschiedet sich bis zum Abend. Marie, wieder mit dem Kind allein, hat ein schlechtes Gewissen.

Szene 5. Woyzeck rasiert den Hauptmann, der sich als philosophischer Kopf aufspielt, sich über Woyzeck lustig macht, ihn ermahnt, sich nicht immer so zu hetzen, weil das auf ein schlechtes Gewissen deute, und ihm schließlich seinen unmoralischen Lebenswandel vorhält. Woyzeck weist, ohne direkt zu widersprechen, auf die großzügigeren Anschauungen Jesu hin und darauf, dass es sich die armen Leute nicht leisten können, tugendhaft zu sein, weil ihnen das Nötigste zum Leben (und somit etwa auch zum Heiraten) fehle.

Szene 6. Marie und der Tambourmajor begegnen sich in einer Gasse; offen bleibt, ob zufällig oder aufgrund einer Verabredung. Der derb-sinnliche Charakter ihrer wechselseitigen Anziehung kommt zum Ausdruck. Wie am Ende von Szene 4 zeigt sich, dass Maries Verhältnis zum Tambourmajor ein dumpf empfundener Fatalismus zugrunde liegt.

Szene 7. Woyzeck macht Marie eine Eifersuchtsszene. Er behauptet, den Tambourmajor bemerkt zu haben, und meint, Marie müsse ihre Sünde anzusehen sein. Marie ist zunächst in der Defensive: Woyzeck sei »hirnwütig« geworden und rede im Fieber. Am Ende der Szene, als Woyzecks letztliche Hilflosigkeit offenbar geworden ist, antwortet sie »keck«.

Szene 8. Der Doktor, für dessen Ernährungsexperiment Woyzeck als Versuchsperson dient, wirft diesem vor, »wie ein Hund« an die Wand uriniert zu haben, anstatt seinen Harn vertragsgemäß zu halten und zur Untersuchung abzuliefern. Der Doktor ist sehr empört, obwohl er als wissenschaftlich kaltblütiger Mensch gelten möchte. Woyzeck versucht sich herauszureden, indem er in vertraulicher Weise seine unklaren Ideen von der menschlichen Natur und den Geheimnissen der Welt auszubreiten beginnt. Der Doktor diagnostiziert eine zeitweise geistige Verwirrung, zeigt sich ob des interessanten Falles versöhnt und verspricht Woyzeck eine Zulage.

Szene 9. Der Hauptmann und der Doktor gehen zusammen eine Straße hinunter, stellen im Gespräch nochmals ihre philosophischen bzw. wissenschaftlichen fixen Ideen zur Schau und machen sich übereinander lustig. Den vorbeieilenden Woyzeck hält der Hauptmann an und macht boshafte Andeutungen auf das Verhältnis Maries mit dem Tambourmajor. Woyzeck reagiert tief betroffen und bittet den Hauptmann, mit ihm armem Teufel, der sonst nichts auf der Welt habe, keinen Spaß zu treiben. Der Doktor registriert mit kaltem Vergnügen die äußerlichen Anzeichen von Woyzecks Erregung. Aufgewühlt entfernt sich Woyzeck. Er muss über das Mitgeteilte nachdenken.

Szene 10. Im »Hof des Professors« (seinerzeit hielten die Universitätslehrer ihre Lehrveranstaltungen oft in ihren Privatwohnungen ab) haben sich Studenten versammelt. Der Professor will ihnen ein Experiment mit einer Katze vorführen, wobei Woyzeck ihm assistiert. Der Doktor ist auch zugegen, fordert Woyzeck auf, für die Studenten mit den Ohren zu wackeln, macht sie auf den schlechten Allgemeinzustand von Woyzeck aufmerksam und stellt fest, dass Woyzecks Haare aufgrund der Erbsendiät ganz dünn geworden sind.

Szene 11. Es ist Sonntag und schönes Wetter, Woyzeck und Andres tun Dienst auf der Wachtstube. In zwei Gasthäusern vor der Stadt ist Tanz und Musik, welche offenbar herüberklingt. Woyzeck lässt das keine Ruhe, er muss hinaus.

Szene 12.