Rüdiger Bertram

Der Fluch des Salamanders

Mit Illustrationen
von Heribert Schulmeyer

 

 

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41430 - 2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 76058 - 4

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/​ebooks

(aus Leas Notizbuch)

Inhalt

Der Brief

Die Reise

Der Dschungel

Der Marsch

Der Strom

Die Nacht

Die Flucht

Der Tunnel

Die Siedlung

Die Pyramide

Der Salamander

»Lea! John! Post für euch!«

Lea sah durch das Fernglas, wie ihre Oma aufgeregt rufend und mit einem großen Umschlag winkend auf sie zugelaufen kam. Plötzlich stoppte sie. Einer ihrer Hausschuhe war in dem lehmigen Boden stecken geblieben. Sie hüpfte auf einem Bein zurück, zog ihren Schlappen wieder an und rannte weiter über das Feld auf die uralte Linde zu, zwischen deren knorrigen Ästen Lea und ihr Zwillingsbruder John ihr Baumhaus hatten. Von dort oben konnte man bis zum Hof blicken, auf dem die beiden Kinder gemeinsam mit ihrer Großmutter lebten.

Ihre Oma kam auf dem frisch gepflügten Acker nur langsam voran. Sie hatte schon wieder einen ihrer Hausschuhe verloren. Diesmal zog sie einfach auch den anderen aus und lief barfuß weiter. Es war der erste schöne Tag nach zwei Wochen Regen, die Sonne schien und ihrer Oma war es egal, wenn sie dreckige Füße bekam.

John achtete nicht auf seine Großmutter. Er saß neben seiner Schwester und studierte ein Astloch, das aussah wie das Gesicht eines Mannes mit einer spitzen Nase, einem wulstigen Doppelkinn und einer langen Narbe auf der Wange.

»Bestimmt stammt der Brief von einer skrupellosen und schrecklich geheimen Geheimorganisation, die Mama und Papa entführt hat. So ähnlich stand das auch in dem Buch, das ich gerade gelesen habe. Und damit sie wieder freikommen, fordern die Verbrecher von uns, dass wir die Freiheitsstatue in die Luft jagen«, flüsterte er, ohne das Astloch aus den Augen zu lassen.

Eine Ameise kletterte in das Nasenloch des Mannes mit dem spitzen Kinn und John musste sich unwillkürlich selbst an seine juckende Nase greifen.

»Blödsinn!«, widersprach Lea schroff. »Der Brief ist von Mama und Papa!«

»Vielleicht konnten sie ihn an ihren Entführern vorbeischmuggeln! Vielleicht ist es ein Hilferuf!«

»Hör auf zu spinnen! Sicher schreiben sie nur, um uns zu erklären, warum wir sie auch in diesen Sommerferien nicht sehen können!«

Ihre Großmutter hatte jetzt das Baumhaus erreicht. Lea ließ an einem Seil einen Korb hinunter, der dazu diente, ihre Vorräte hinaufzuschaffen.

»Der Brief ist von euren Eltern!«, rief Oma nach oben und legte den Umschlag in den Korb, der vor ihrer Nase im Wind leicht hin und her schaukelte. Sie konnte die Zwillinge nicht sehen, weil die Blätter der Linde zu dicht waren und das Baumhaus ganz oben in der Krone versteckt zwischen dem grünen Laub lag.

Aus dem Baum erklang ein zweistimmiges »Danke!«, dann bewegte sich der Korb langsam und gleichmäßig nach oben.

»Was steht denn drin? Was schreiben sie?«, rief Oma, obwohl sie den Inhalt längst kannte. Die Eltern der Zwillinge hatten ihr eine E-Mail geschickt und sie vorbereitet.

Aus dem Baumhaus kam keine Antwort. Lea hatte den Brief aufgerissen und blickte auf den Inhalt, der in ihrem Schoß lag. Auch John starrte das eng beschriebene Blatt Papier, die zwei schmalen Bücher und die beiden Flugtickets an, die aus dem Umschlag gefallen waren.

Lea reagierte am schnellsten. Sie griff nach dem Blatt.

»Gib ihn mir! Ich will den Brief zuerst lesen!«

John stürzte sich auf seine Schwester, aber Lea gelang es, ihren Bruder mit dem linken Arm abzuwehren und dabei den Inhalt zu überfliegen. Als sie fertig gelesen hatte, lächelte sie.

»Gute Nachrichten! Sehr gute Nachrichten!«

John schnappte sich den Brief und ließ sich auf eines der dicken Kissen fallen, die überall verstreut lagen. »… freuen uns riesig auf Euch … mit den Tickets zum Flughafen … holen Euch in Guatemala City ab … vier Wochen bei uns im Camp … die Bücher sind für Eure Notizen … Küsse, Küsse, Küsse … Mama und Papa«, las John leise die wichtigsten Stellen vor.

Lea griff nach einem der beiden Bände, die vor ihr lagen, und blätterte sie auf.

»Die sind ja leer«, sagte sie.

»Wir sollen da was reinschreiben! Ein richtiges Expeditionstagebuch«, erwiderte John und griff nach dem zweiten Exemplar. Auch hier waren die Seiten leer, bis auf die erste:

John erkannte die Handschrift seiner Mutter.

»Was steht bei dir?«, fragte er neugierig seine Schwester.

Lea schlug die erste Seite ihres Buches auf.

Lea ließ das Buch sinken und sah ihrem Bruder in die Augen. »Siehst du! Sie haben uns nicht vergessen! Nur noch ein paar Wochen, dann sehen wir sie wieder!«

»Falls sie bis dahin nicht doch noch entführt werden«, entgegnete John und grinste.

»Klar doch, du Spinner!« Lea grinste zurück.

»Jetzt sagt schon, was schreiben sie?«, rief Oma von unten. »Oder wollt ihr mich in Dummheit sterben lassen?«

»Wir fahren sie besuchen!«, brüllte Lea glücklich. »In den Sommerferien!«

»Das freut mich für euch!«, flüsterte Oma.

Sie drehte sich um und machte sich auf den Rückweg zum Hof. Es war höchste Zeit, die Zebras zu füttern. Als sie über das Feld ging, sammelte sie ihre Hausschuhe ein. Ein halbes Jahr war es her, dass die Zwillinge ihre Eltern zum letzten Mal gesehen hatten. Es war gut, dass Lea und John sie jetzt besuchen fuhren, auch wenn das für die Kinder eine Reise in den tiefsten Dschungel und für sie selbst einen einsamen Sommer bedeutete.

 

Als Lea und John abends in ihren Betten lagen, hörten sie draußen vor dem Fenster die Zebras, Antilopen und Lamas brüllen, die Oma auf ihrem Hof hielt. Das mit den Tieren war Opas Idee gewesen. Er wollte groß in das Geschäft mit exotischen Tieren einsteigen. Er hatte gehofft, Restaurants mit mutigen Köchen für das Fleisch begeistern zu können. Sogar südamerikanische Meerschweinchen hatte er extra aus Peru einfliegen lassen, obwohl Großmutter ihn gewarnt hatte. Und sie hatte recht behalten. Niemand wollte die süßen Tiere essen. Wirtschaftlich war die Idee ein totaler Reinfall gewesen. Da die Tiere aber nun mal da waren, gründeten Johns und Leas Großeltern einen kleinen Privatzoo. Sogar ein Karibu und einige Erdmännchen, die kein anderer Zoo mehr haben wollte, hatten sie angeschafft, um die Beliebtheit zu steigern. Das Karibu war schon vor Jahren gestorben, genau wie Großvater. Den kleinen Zoo aber gab es immer noch. Leas und Johns Vater war zwischen den exotischen Tieren aufgewachsen und hatte dabei schon als Kind seine Begeisterung für die Zoologie entdeckt. Während des Biologiestudiums hatte er in England seine Frau kennengelernt, Leas und Johns Mutter. Gemeinsam reisten die beiden auf immer neuen Expeditionen um die ganze Welt auf der Suche nach noch unentdeckten Tierarten. Vor einiger Zeit waren sie nach Guatemala gefahren, um dort als Erste den geheimnisvollen Orchideensalamander zu erforschen. Aber der »dämliche Lurch«, wie John ihn nannte, ließ sich einfach nicht blicken und deswegen mussten ihre Eltern den Aufenthalt im Dschungel immer wieder verlängern. Bisher hatten Lea und John ihre Eltern noch nie bei der Arbeit besuchen dürfen.

»Was schreibst du in dein Buch?«, fragte Lea. Sie hatte den Band mit den leeren Seiten auf dem Schoß und überlegte, was ihr erster Eintrag werden sollte.

»Verrat ich nicht!«, erwiderte John. Er lag auf der Seite und stützte seinen Kopf mit der rechten Hand. Mit der linken schrieb er in das Heft, das auf seiner Bettdecke lag.

»Sag schon«, drängelte Lea.

»Na gut, ich schreibe über das Land, in das wir reisen werden. Dieses Luamalala«, erwiderte John, der es seinen Eltern immer noch übel nahm, dass sie sie hier zurückgelassen hatten.

»Es heißt Guatemala, nicht Luamalala«, korrigierte Lea. »Trotzdem eine gute Idee! Das mache ich auch.«

»Nachmacherin!«

»Selber!«

(aus Johns Notizbuch)

Lea griff nach dem dritten Band des Taschenlexikons, das ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Es war der Band mit dem Buchstaben G. G wie Guatemala. Ihr Vater hatte für das Lexikon extra ein Bücherbord an die Wand gedübelt, damit Lea das Lexikon immer griffbereit hatte, wenn sie im Bett lag.

Auch John besaß ein Regal, auf dem seine Lieblingsbücher standen. Ein Lexikon war nicht dabei, dafür stapelten sich dort unzählige Fantasy-Romane und Abenteuergeschichten, in deren Welten sich John wohler und sicherer fühlte als irgendwo sonst. Er war nicht gern draußen. Das Baumhaus war der einzige Ort außerhalb seines Zimmers, den er wirklich mochte. Da waren er und seine Bücher vor Regen sicher und unliebsame Überraschungen gab es dort auch keine.

Als er fertig war, sah John zu seiner Schwester hinüber. Sie hatte ihre Beine angezogen und benutzte ihre Oberschenkel als Schreibunterlage. Neben ihr lag das Lexikon. Es dauerte ewig, bis sie ihren ersten Eintrag abgeschlossen hatte. Immer wieder suchte sie in dem Band nach wichtigen Hinweisen, die sie in ihr Handbuch übertragen wollte. Endlich war auch Lea fertig und legte ihren Stift aus der Hand.

(aus Leas Notizbuch)

»Freust du dich?«, fragte John.

»Worauf?«, fragte Lea zurück.

»Na, auf Mama und Papa. Worauf sonst?!«

»Klar freuʼ ich mich! Auf Mama und Papa, den Dschungel, die fremden Tiere! Das wird toll!«

»Toll gefährlich wird das!«, murmelte John.

»Du hast Schiss!«

»Habʼ ich nicht!«

»Natürlich hast du Schiss! Du machst dir gleich in die Hose!«

Anstelle einer Antwort flog ein Kissen quer durch den Raum und landete auf Leas Nase. Sie schnappte es sich und feuerte das Kissen zurück.

»Hier! Nimm das, du Schisser!«

»Ich zeigʼ dir gleich, wer hier der Schisser ist.«

John stürmte aus seinem Bett und warf sich auf Lea. Er versuchte, sie in den Schwitzkasten zu nehmen. Vergeblich. Lea war kräftiger als er. Sie behauptete, das läge daran, dass sie die Ältere der Zwillinge war. Das stimmte auch: Lea war zehn Minuten vor ihrem Bruder geboren und sie vergaß nur selten, John darauf hinzuweisen.

»Gib auf! Du hast keine Chance! Ich bin älter und stärker als du!« Lea kniete über John. Sie hielt seine Hände rechts und links neben seinem Kopf auf die Matratze gepresst.

»Meinst du, sie vermissen uns auch? So wie wir sie?«, fragte John.

»Klar, was glaubst du denn?«, erwiderte Lea. Sie rollte sich zur Seite und gab ihren Bruder frei.

»Und warum suchen sie dann so einen dämlichen Lurch, anstatt sich um uns zu kümmern?«

»Sie sind Wissenschaftler! Das verstehst du nicht!«, entgegnete Lea.

Überzeugt klang sie nicht.